Berliner Zeitung, 30.6.99

Kommentar
Ein Urteil über Öcalan und die Türkei

von Martina Doering
Abdullah Öcalan hat das Urteil, so wird berichtet, gefaßt aufgenommen. Tief in seinem Innern wird er wohl mit diesem Prozeß-Ausgang gerechnet haben: Der Chef der Kurdischen Arbeitspartei PKK wurde am Dienstag morgen wegen Hochverrats zum Tode durch den Strang verurteilt. Sowenig unerwartet wie das Urteil sind auch die Reaktionen darauf. Die PKK kündigt gewaltsame Aktionen an. Kurden begannen Protestaktionen in ihren Exilländern. Politiker europäischer Staaten verurteilen die Gerichtsentscheidung.

Bliebe das Urteil auf dem Weg über die Berufung bis zum Schreibtisch von Präsident Demirel unverändert, hätte die Türkei mit diesem Schuldspruch die einzigartige Chance für eine friedliche Lösung des Kurden-Problems und zur Demokratisierung vertan. Allerdings bestehen mehr Chancen, als man noch vor kurzem zu hoffen wagte, daß das Todesurteil in "lebenslänglich" umgewandelt wird.

Den Weg zu einem anderen Urteilsspruch des Staatssicherheitsgerichts hatte sich die Türkei selbst verbaut. Keine der sich demokratisch nennenden Parteien versuchte jemals, den Einfluß der Militärs zu beschneiden. Zu keinem Zeitpunkt gab es Ansätze einer Diskussion über die Prinzipien, auf denen die türkische Republik basiert. Diese Prinzipien lassen aber keine demokratische Lösung des Kurden-Konflikts zu. Statt sich als multi-ethnischer Staat zu begreifen, setzte jede Regierung auf einen immer militanteren, türkischen Nationalismus. Im Mai haben sich die Türken die zu dieser Entwicklung passende Partei regierungsfähig gewählt.

Die Kurden-Bewegung und schließlich der Terror der PKK unter Führung von Abdullah Öcalan sind Konsequenzen der massiven Unterdrückung dieses Volkes. Nicht nur das Militär, sondern auch die PKK haben eine politische Lösung in den vergangenen Jahren verhindert. Aber der kurdische Nationalismus ist weder durch Repressionen noch durch Todesurteile zu besiegen. Der Wahn, das Problem militärisch aus der Welt schaffen zu können, hat Tausende Menschen das Leben gekostet und bisher 80 Milliarden Dollar verschlungen.

Das Urteil gegen Öcalan trägt die Handschrift der Militärs. Doch es gibt auch Signale, daß das türkische Establishment beginnt, sich mit dem Gedanken an eine politische Lösung anzufreunden. Premier Ecevit, erst kurze Zeit im Amt, legte unlängst ein spektakuläres Entwicklungsprogramm für das Siedlungsgebiet der Kurden vor. Mitte Mai beendete das Staatssicherheitsgericht einen Prozeß gegen den Vorstand des Menschenrechtsvereins von Diyarbarkir überraschend mit einem Freispruch. Und auch das Verfahren gegen Öcalan hielt zwar keineswegs alle europäischen Verfahrensstandards ein. Es wurde jedoch weit fairer geführt, als anfangs gedacht.

Äußerungen türkischer Politiker legen jetzt nahe, daß die Öffentlichkeit auf eine Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft vorbereitet werden soll. Auf diese Weise könnte der Konflikt mit der EU entschärft werden. Und auch den Vereinigten Staaten, mittlerweile der wichtigste Partner der Türkei, müßte diese Entwicklung ins Konzept passen.

Anders als die EU haben die USA über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei bisher großzügig hinweggesehen. Das Kurden-Problem war für sie ein reines Terrorproblem, den militärischen Kampf gegen die PKK und die Kurden hießen sie gut. Doch die Ereignisse im Kosovo könnten diese Haltung verändert haben. Kosovo hat demonstriert, wie schnell die Unterdrückung einer Minderheit einen Konflikt hervorruft, der dann in einen Krieg mündet und so eine ganze Region zerrüttet. Aber nur eine starke Türkei kann ihren Zweck als strategischer Vorposten gegen das Irak Saddam Husseins tatsächlich erfüllen. Und nur eine stabile Türkei ist fähig, die ihr von Washington im Nahen Osten und in der Kaukasus-Region zugedachten Aufgaben zu übernehmen.

Wird Öcalan gehängt, eskaliert die Gewalt. Die Umwandlung der Todesstrafe kann eine solche Entwicklung abwenden. Genügen kann das nicht. Ohne eine Rechtsreform, die Abschaffung von Sondergesetzen und Sonderinstitutionen zur "Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit" sowie der Anerkennung der kurdischen Identität ist eine Lösung undenkbar. Der Fall Öcalan, so singulär er ist, entscheidet über die Zukunft der Türkei.

Der kurdische Nationalismus ist weder durch Repressionen noch durch Todesurteile zu besiegen.