junge Welt 30.6.99
Erschüttert, aber nicht zerschlagen
Mit dem erwarteten Todesspruch gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan
hat das türkische Staatssicherheitsgericht ein weiteres Kapitel des
Kampfes der Kurden um Freiheit beendet. Wie eine unendliche Geschichte
zieht sich der Freiheitskampf des kurdischen Volkes durch die Geschichte
des Mittleren Ostens und - im 20. Jahrhundert - besonders durch die der
Türkei. So jedenfalls sieht es Abdullah Öcalan, der mit seinem
untypischen Auftreten vor dem Gericht bei vielen Kurden zunächst für
Unsicherheit sorgte. Hat Öcalan, »um sein Leben zu retten, die
Kurden demoralisiert und ihre Träume zerstört«, wie sein
politischer Widersacher und zeitweiliger Verteidiger Ahmet Zeki Okcuoglu
in einem Interview harsch urteilte? Tatsächlich hat Öcalan vor
dem Staatssicherheitsgericht lediglich das wiederholt, was er seit Ende
der 80er Jahre mit mehr oder weniger großer Vehemenz vertreten hat:
Es würde der Türkei wie allen Völkern des Mittleren Ostens
von Nutzen sein, wenn für die Konflikte in der Region eine »föderale
Lösung« gefunden werde. Nachzulesen sind diese Vorschläge
u.a. in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Milliyet sowie
mit dem Stern aus dem Jahre 1988. Die Sprache mag denjenigen ungewohnt,
ja anbiederisch erscheinen, die erst durch die Ereignisse seit Oktober
1998 mit der Ankunft von Öcalan in Rom, auf die »kurdische Frage«
aufmerksam wurden. Öcalan hat den Gerichtssaal in Imrali zu dem gemacht,
was er bis zuletzt in Freiheit eingefordert hatte: einen Verhandlungstisch,
um den Krieg in Kurdistan zur Sprache zu bringen und, im besten Fall, zu
beenden. Dieser beste Fall ist nicht eingetreten. Es war vielmehr eine
gespenstische Verhandlung, bei der nur eine Seite ihre Angebote zur Sprache
brachte. Das Gespenstische ist der sturen Weigerung der türkischen
Chauvinisten in Regierung und Militär geschuldet, die hartnäckig
leugnen, daß es ein »Kurdenproblem« in ihrem Land gibt.
Erst kürzlich noch schrieb Ministerpräsident Bülent Ecevit
in einem Brief an Bundeskanzler Schröder, daß es zwar kein »Kurdenproblem«,
wohl aber ein »Terrorproblem« in seinem Land gebe, bei dessen
Beseitigung die EU die türkische Regierung unterstützen solle.
Entgegen allen Voraussagen wird die PKK selbst, deren Vorsitzender Abdullah
Öcalan bleiben wird, vielleicht erschüttert, sicherlich verändert,
aber nicht zerschlagen aus diesem Kapitel kurdischer Geschichte hervorgehen.
Öcalan war nicht der Feldherr, sondern der ideologische und philosophische
Kopf dieser Befreiungsorganisation. Nach der Verschleppung Öcalans
erhoben sich Kurden im iranischen Teil Kurdistans ebenso wie zu Hunderttausenden
in Süleymania (Kurdistan-Irak), um ihre Sympathie für den Kurdenführer
zum Ausdruck zu bringen. Der »Jahrhundert-Prozeß« gegen
»Apo« Öcalan hat Bewegung in den Krieg in Kurdistan gebracht.
Das Ziel der Befreiung Kurdistans, nicht juristisch oder geographisch eingeengt,
sondern in einem umfassenden Sinne, dürfte dennoch weit entfernt liegen.
»Friedensprozesse« der vergangenen Jahre zeigen, daß
in historischen Umbruchphasen Kriegsgewinnler aller Couleur auf die Bühne
drängen. Die kurdische Seite wird gut beraten sein, sich an das alte
kurdische Sprichwort zu erinnern, das da lautet: »Vertraue der Pranke,
die Heiligen werden dir nicht helfen.«
|