AP Mittwoch, 30. Juni 1999, 16:06 Uhr
Öcalan-Anwälte wollen schnelle Beschwerde in Straßburg von: ker/neu Istanbul - Die Anwälte des am Dienstag zum Tode verurteilten Chefs der Kurden-Guerilla PKK, Abdullah Öcalan, wollen bereits in den kommenden Tagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde gegen das Urteil einreichen. Öcalan-Anwalt Kemal Bilgic kündigte am Mittwoch an, nicht erst die anstehende Berufungsverhandlung vor einem türkischen Gericht abzuwarten, sondern wegen der akuten Gefahr für das Leben seines Mandanten sofort nach Straßburg zu ziehen. Offenbar PKK-Anhänger verübten in der Nacht in deutschen Städten Brandanschläge auf türkische Lokale und Reisebüros. Das kurdische Exil-Parlament warnte vor Reisen in die Türkei. Vor Journalisten in Istanbul sagte Bilgic, die Beschwerde in Straßburg werde sich gegen schwere rechtsstaatliche Mängel in allen Phasen des Prozesses gegen seinen Mandanten richten. Die Verschleppung Öcalans aus der kenianischen Hauptstadt Nairobi verstoße ebenso eindeutig gegen rechtsstaatliche Grundsätze wie die Isolationshaft, der Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali ausgesetzt war und die Behinderung des Verteidigerteams. Für die Dauer des Verfahrens in Straßburg darf das Todesurteil nicht vollstreckt werden. Die Türkei ist als Mitglied des Europarates an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes gebunden. Das Todesurteil wird nach türkischem Recht auch automatisch von einer Berufungsinstanz geprüft. Sollte es aufrecht erhalten bleiben, müssen auch das Parlament und Präsident Süleyman Demirel der Hinrichtung zustimmen. Öcalan war von einem türkischen Staatssicherheitsgericht wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Die EU, der Europarat und zahlreiche europäische Regierungen appellierten an die Türkei, das Urteil nicht zu vollstrecken. Grundlage der Anklage gegen Öcalan war Artikel 125 des türkischen Strafgesetzes, das für einen Versuch der Abspaltung von Staatsgebiet die Todesstrafe vorsieht. Zwar ist diese seit 1984 in der Türkei nicht mehr vollstreckt worden. Seit den Erfolgen der Nationalisten bei der Wahl im April gilt es jedoch als fraglich, ob das Parlament auch in diesem Fall eine Vollstreckung verhindern würde. Öcalan war Mitte Februar in Kenia vom türkischen Geheimdienst verschleppt worden und ist seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Nach den Anschlägen in mehreren deutschen Städten mußten sich mehrere Menschen wegen des Verdachts auf Rauchvergiftung behandeln lassen, einer erlitt eine Stich- und eine leichte Schußwunde. Die Sprecher mehrerer Polizeidirektionen sagten, man habe noch keine exakten Hinweise auf die Täter. Es sei aber anzunehmen, daß es sich um PKK-Anhänger handele. In Sindelfingen überfielen am Dienstag abend fünf Männer einen Kulturverein und forderten die etwa zehn anwesenden Türken auf, sich auf den Boden zu legen. Als diese sich weigerten, wurden sie geschlagen und getreten. Beim anschließenden Rückzug der Angreifer erlitt ein Beteiligter unter noch nicht geklärten Umständen eine Schuß- und eine Stichverletzung. In Düsseldorf, Wuppertal und Bielefeld warfen Unbekannte Molotow-Cocktails in ein türkisches Autohaus, ein Grillgasthaus, zwei Reisebüros und zwei Begegnungstätten. In Mönchengladbach und Stuttgart legten vermutlich kurdische Täter Feuer in zwei türkischen Wohn- und Geschäftshäusern. In Berlin warfen drei Maskierte in der Nacht zu Mittwoch Molotow-Cocktails in eine türkische Gaststätte. In Bremen wurden Brandsätze in drei Reisebüros geschleudert. In türkischen Medien wurde das Todesurteil am Mittwoch gefeiert. "Heute ist unser Feiertag", lautete die Schlagzeile der Zeitung "Sabah". Dazu war eine Henkersschlinge neben einem Bild Öcalans abgedruckt. Demonstrationen gegen das Urteil gab es in zahlreichen Hauptstädten rund um den Globus, so in Paris, London, Moskau, Athen und Straßburg. Auch in Australien demonstrierten am Mittwoch Mitglieder der kurdischen Gemeinde vor dem Parlamentsgebäude in Canberra gegen das Urteil. Sprecher des kurdischen Exil-Parlaments in Brüssel erklärten,
der kurdische Bevölkerungsteil in der Türkei sei durch das Urteil
irritiert und erregt. Für Ausländer sei es deshalb gefährlich,
jetzt die Türkei zu besuchen.
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