junge Welt 1.7.99
Öcalan-Anwälte: Justiz außer Kraft gesetzt
Die Rechtsanwälte Öcalans bezeichneten in einer Erklärung an die Öffentlichkeit die Festnahme des PKK-Chefs, die Vernehmung in der U-Haft sowie das gesamte Verfahren und infolgedessen das Urteil als Verstoß auch gegen geltendes türkisches Recht. »Unser Mandant Abdullah Öcalan wurde nicht rechtmäßig festgenommen und in die Türkei gebracht. Seine Festnahme und Überführung in die Türkei verstoßen sowohl gegen nationales als auch internationales Recht, das die Prozedur der Auslieferung regelt. Die 1997 eingeführte Rechtsordnung zur Leitung des Krisenstabs beim Präsidentenamt wurde entgegen ihrer Zielsetzung erstmalig im Verfahren gegen Öcalan eingesetzt. Bekanntlich ist sie für Ausnahmezustände wie Naturkatastrophen, verbreiteten Terror oder wirtschaftliche Krisen vorgesehen. Die türkische Justiz wurde offenkundig einer Verwaltungseinheit untergeordnet. (...) Aus diesem Grunde wird das Verfahren gegen Öcalan als ein Prozeß, bei dem die Justiz außer Kraft gesetzt wurde, in der Geschichte seinen Platz einnehmen. In der Vorbereitungsphase des Verfahrens äußerten der Staatspräsident, der Ministerpräsident, Führer politischer Parteien, andere zivile und militärische Vertreter und Hunderte von Außenstehenden ihre Meinung zum Öcalan-Prozeß und verletzten das Prinzip der Unschuldsvermutung. Das Gericht wurde somit unter Druck und gesetzt, was eine Verlutzung der Verfassung darstellt. Auch die einseitige und provozierende Haltung einiger Presseorgane stellte das zu erwartende Urteil schon im Vorfeld zur Diskussion. Das Prinzip der Geheimhaltung der Ermittlungsergebnisse wurde von der Staatsanwaltschaft selbst verletzt. Die Aussagen des Angeklagten sowie die Klageschrift wurden in der Ermittlungsphase und noch vor der Eröffnung des Prozesses der Presse weitergeleitet, und damit wurde in der Öffentlichkeit eine vorurteilende Stimmung gegen unseren Mandanten erzeugt. Unsere Kontaktaufnahme zu unserem Mandanten wurde rechtswidrig gestaltet. Bei unseren Reisen auf die Gefängnisinsel und dem Austausch von Dokumenten wurden wir erheblich behindert. (...) Bei einem erheblichen Teil des Verfahrens wurde gegen die Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verstoßen und ein Militärrichter als Beisitzer zugelassen. (...) Obwohl nach türkischem Strafgesetzbuch das Staatssicherheitsgericht Diyarbakir für den Prozeß zuständig ist, wurde er vor dem Staatssicherheitsgericht Ankara auf der Insel Ymrali geführt, was ein weiterer offensichtlicher Rechtverstoß ist.(...)« In den Erklärungen der Regierungsvertreter, aber auch der Menschenrechtsorganisationen und anderen Oppositionsgruppen wurde über die eventuelle Haltung europäischer Staaten und Gremien spekuliert. Während sich das türkische Justizministerium auffallend in Zurückhaltung übte, wurde aus den kurdischen Provinzen eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen vermeldet. In der kurdischen Metropole Diyarbakir gingen gestern rund 300 Soldaten in Zivil auf die Straße. Auf einer von Militärs organisierten Demonstration mußten die zu »zivilen Demonstranten« abkommandierten Soldaten nationalistische Losungen skandieren. Die Demonstration endete vor den Toren einer Militärkaserne. Die in dieser Stadt im Vorfeld der Urteilsverkündung getroffenen Sicherheitsmaßnahmen wurden seit Dienstag verstärkt. Es wird berichtet, daß »verdächtigte« Passanten zu Hunderten in Polizeigewahrsam genommen wurden. Der türkische Justizminister Hikmet Sami Türk erklärte gestern, falls das Oberste Revisionsgericht das Urteil bestätigen sollte, werde man die einstweilige Verfügung des Europäischen Gerichtshofes zur Aussetzung der Vollstreckung des Todesurteils beachten und den endgültigen Gerichtsentscheid abwarten. Türk erklärte auch, sein Ministerium habe eine Expertenkommission eingesetzt, die mit der Überarbeitung des Strafgesetzbuches beauftragt sei. Es liegt dem türkischen Parlament ein Reformentwurf vor, in dem die Umwandlung von Todesstrafen in »lebenslange Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen« vorgesehen ist. Dieser Entwurf wurde Ende letzten Jahres ausgearbeitet, um eventuelle Hindernisse vor der Auslieferung Öcalans aus seinem damaligen Aufenthaltsort italien zu beseitigen. Die Frage, ob der neue Entwurf auf diesem vorherigen basiert, wollte Türk nicht beantworten. Sultan Özer/Beyda Yildiz, Mudanya
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