taz, 1.7.1999
"Die besänftigende Wirkung der Zeit" Nach dem Todesurteil gegen Öcalan setzt sich unter türkischen Meinungsmachern die Erkenntnis durch, daß es klüger wäre, den PKK-Chef nicht hinzurichten. Doch wie erklärt man es dem Volk? Aus Istanbul Dilek Zaptçioglu
Die Bevölkerung scheint jedoch bei weitem nicht mehr so aufgewiegelt wie Ende vergangenen Jahres, als Öcalan in Rom auftauchte. Nach der Urteilsverkündung am Dienstag bleibt es ruhig. Außer den Angehörigen der Gefallenen, die in Mudanya, gegenüber der Gefängnisinsel, die türkischen Fahnen schwenken, jubelt niemand. Auch die Mahnungen aus Europa, man solle Öcalan nicht hängen, werden nicht etwa mit Empörung aufgenommen, sondern beiläufig registriert. Die Türkei hat seit 15 Jahren keine Todesstrafe vollstreckt. Es gibt keinen einzigen Scharfrichter mehr unter Sold. "Was soll man den noch hängen?" zuckt ein Gemüsehändler mit den Schultern. "Der ist doch schon wie tot. Viel kann er nicht mehr ausrichten. Wenn er aber hingerichtet wird, macht man ihn zum Märtyrer." Ein anderer meint, daß es bald einen neuen Öcalan geben wird, solange "das Problem" nicht gelöst ist. "Das Problem" wird von niemandem gerne beim Namen genannt, obwohl alle Bescheid wissen. Es ist ein offenes Geheimnis, das auch im Gerichtssaal lang und breit diskutiert wurde, als der Richter sich mit Öcalan in einen Dialog über die Probleme der Kurden vertiefte. "Die Leute dort sind arm und glauben, daß sie nur deshalb arm sind, weil sie Kurden sind", sinniert der Taxifahrer aus dem ostanatolischen Mardin, der lange mit kurdischen Nachbarn zusammenlebte. "Der Staat hat große Fehler gemacht. Und immer müssen wir es ausbaden." Istanbul hat sich nach dem Beginn der Schulferien geleert, die Touristen bleiben aus. "Ganz Europa den Krieg erklären?" fragt der Fahrer. "Was ist mit unserem Auskommen?" Auch die nationale Presse diskutiert heftig. Can Dündar von dem Massenblatt Sabah zählt Argumente auf, weshalb man Öcalan nicht hängen sollte: Die Todesstrafe sei unzeitgemäß, sowohl der Ministerpräsident Bülent Ecevit als auch der sie verhängende Richter seien persönlich dagegen. Zweitens habe die Türkei aus zahlreichen Hinrichtungen gelernt, daß diese keine Probleme lösen. Drittens würde Öcalans Tod die Wunden nur vertiefen und neue Gewaltakte verursachen. Dagegen sei Öcalan im Falle der Nichtvollstreckung bereit, seine Leute von den Bergen herunterzuholen. Warum ihn also zum Helden machen? Die Argumente für den Galgen sind leichter aufzuzählen: "Das Volk will es so", ferner gäbe es bald Geiselnahmen und Flugzeugentführungen, um den PKK-Chef freizupressen. Die Türkei solle vor dem Westen keine Kompromisse schließen. Und schließlich wäre man dann auf Öcalans "Erpressungsmanöver" vor Gericht hereingefallen. Diese Debatten werden, so sieht es aus, den ganzen heißen Sommer weitergehen, denn die Akte kommt vor September nicht vors Parlament. Premier Ecevit spricht vieldeutig von der "besänftigenden Wirkung der Zeit", und Staatspräsident Süleyman Demirel erzählt einem befreundeten Kolumnisten: "Das Ganze geht vor das Europäische Menschenrechtsgericht. Wir gehören zum zivilisierten Westen, wir können seine Institutionen und Traditionen nicht ignorieren." Im Fall Öcalan kann man zur Zeit mit Sicherheit nur eines sagen:
Diese Frage werden nicht die Leute auf der Straße, sondern die Machthaber
im Innern und die draußen entscheiden: Kaum jemand in der Türkei
zweifelt daran, daß es die US-Amerikaner waren, die Öcalan auslieferten.
Ohne die Zustimmung Washingtons wird er nicht hingerichtet. Zuviel Konspirationstheorie?
Der Leitartikler von Sabah, Güngör Mengi, bringt es auf den Punkt:
"Wenn der Staat Öcalan töten wollte, wäre er aus dem Flugzeug
aus Kenia nicht lebend herausgekommen."
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