Ohne Papier und Bleistift
Strasbourger Gerichtshof verlangt fairen Prozeß gegen Öcalan
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg
hat die Türkei in einer Eilentscheidung am späten Donnerstag
abend aufgefordert, die Rechte des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan
zu wahren. Die türkische Regierung wird verpflichtet, den Artikel
6 der Europäischen Menschenrechtskonvention einzuhalten, der Öcalan
das Recht auf einen fairen und gerechten Prozeß garantiert. Zudem
müsse der PKK-Chef das Recht erhalten, von Anwälten seiner Wahl
verteidigt zu werden. Dazu gehört auch die Möglichkeit zu einer
effektiven Beratung mit seinen Anwälten ohne Überwachung.
Einer der Anwälte Öcalans, Hans-Eberhard Schultz, bewertete
gegenüber jW diese Entscheidung als »wichtigen Teilerfolg«,
der zwar nicht im juristischen Sinne vollstreckbar sei, jedoch kaum von
der türkischen Regierung ignoriert werden könne. Schultz, der
nun die Möglichkeit hat, den türkischen Anwälten Öcalans
in den kommenden Verfahren zu assistieren, hat umgehend über die deutsche
Botschaft in Ankara eine Besuchserlaubnis beantragt, um sich mit Öcalan
zu beraten. Der Gerichtshof in Strasbourg erinnerte an seine früheren
Urteile, wonach die türkischen Staatssicherheitsgerichte mit der Menschenrechtskonvention
unvereinbar sind. Vor einem solchen Gericht soll ein erster Prozeß
gegen Öcalan, der eine Rede Öcalans in dem kurdischen Fernsehsender
Med-TV zum Inhalt hat, am 24. März beginnen. Die in Bremen und Amsterdam
ansässigen Anwälte Öcalans begrüßten die Stellungnahme
des Gerichts. Sie forderten die türkische Justiz auf, den Forderungen
aus Strasbourg »schnell und ohne Wenn und Aber« nachzukommen.
Ihren Angaben zufolge haben sich in der Türkei mittlerweile hundert
Anwälte bereiterklärt, Öcalan zu verteidigen.
Die Anwälte wiesen in einer Pressemitteilung darauf hin, daß
das Recht Öcalans auf eine effektive Verteidigung seit seiner Verschleppung
erheblich verletzt wurde: Öcalan war zehn Tage gänzlich ohne
anwaltliche Verteidigung, ebenso bei umfangreichen Verhören sowie
bei der Haftbefehlseröffnung. Dem Angeklagten wurden selbst Papier
und Bleistift zur Vorbereitung seiner Verteidigung gegen die weitreichenden
Anschuldigungen verweigert. Der Europäische Gerichtshof wird sich
in den nächsten Wochen mit den weiteren Beschwerdekomplexen Öcalans
bezüglich seiner völkerrechtswidrigen Verhaftung und Verschleppung
in die Türkei und seiner Haftsituation befassen.
(jW)