Der PKK-Vorsitzende Öcalan sprach am Donnerstag (16.
9.1999) von der Notwendigkeit des Glaubens daran, dass Dank
der Kraft der Politik der Staat sich verändern und transformieren
könne. In einer Kritik an Intellektuellen, die die Beziehung
zwischen Staat und Demokratie in `klassisch stereotyper Form`
sähen, sagte Öcalan: "In der Türkei kann
es vielleicht nicht so sehr eine Demokratisierung des Staates,
sehr wohl aber Bemühungen geben, ein Demokratiebewußtsein
zu schaffen. Die jüngsten Entwicklungen weisen etwas
darauf hin."
Dies teilte einer seiner Istanbuler Anwälte, Dogan Erbas,
nach einem Verteidigergespräch auf Imrali am 16. September
der türkischsprachigen Tageszeitung Özgür Politika
mit. Laut Erbas habe Öcalan gesagt: "Die Friedenslinie
(der PKK) ist zum Nutzen der Völker. Dies sollte allerseits
gut bedacht werden. Der einzige Grund weshalb ich noch lebe,
die schweren Bedingungen ertrage, ist, (unseren) Werten gerecht
zu werden."
Weiters betonte Öcalan, die gegenwärtigen Tage seien
wichtig und kritisch, so dass die Frage nicht lauten solle,
ob man hoffnungsvoll oder hoffnungslos sein solle, sondern
vielmehr, wie der Kampf gewonnen werden könne. Er wies
darauf hin, dass seine heutigen Stellungnahmen und Thesen
nichts wesentlich neues enthielten sondern vielmehr bereits
in einem 1993 über den ersten Waffenstillstand der PKK
erschienenen Buch "Ich suche einen Ansprechpartner"
(Bir muhatap ariyorum) angedeutet seien.
Glaube an den Wandel ?
Öcalan sagte: "Es gibt Kritiken von der Sorte `der
Staat Türkei wird sich nicht ändern, mit dieser
(friedlichen) Methode kann die Türkei nicht umgewandelt
werden`, die insbesondere von Intellektuellen kommen, von
unseren eigenen aber auch von türkischen Intellektuellen.
Ich halte solche Kritiken für äußerst unangebracht.
Verstößt es nicht gegen die Dialektik, wenn wir
sagen, der Staat könne sich nicht wandeln? Der Glaube
an Veränderung und Transformation ist notwendig. Der
Glaube an die Kraft der Politik ist notwendig." Nach
Angaben Erbas` wies Öcalan darauf hin, dass jene Intellektuellen
ohne Vertrauen in die Kraft der Politik die PKK mit Erfolglosigkeit
beschuldigten, und fügte hinzu: "Es ist aber offensichtlich,
welche Erträge unser vergangener Kampf erbracht hat.
Wenn unter den gegenwärtigen Bedingungen der Türkei
verschiedenste Kreise von ihrem Verlangen nach Frieden sprechen,
so ist dies ein direktes Resultat unseres Kampfes. Es ist
gewissenlos und respektlos, dies zu übersehen."
Öcalan fügte hinzu, dass diejenigen, die von einem
unveränderlichen Staat ausgehen, wissentlich oder unwissentlich
dem anti-demokratischen Staat dienten. Wer die Friedensbemühungen
(der PKK) kritisiere, solle auch eigene Alternativvorschläge
machen.
"Kurz vor der Jahrtausendwende erleben wir in der Türkei
Tage des nahenden Friedens." Dies, so Öcalan, sei
in einem so kurzen Zeitraum wie den letzten 6 Monaten zu Tage
getreten. Er bemerkte, dass in einem Staat wie der Türkei
einige Veränderungen geschehen seien: "Die Stellungnahmen
des Präsidenten, des Generalstabs, des (Vorsitzenden
des Kassationsgerichtshofes) Sami Selcuk, die Schlag auf Schlag
gekommen sind, weisen darauf hin, dass es in der Türkei
gesetzliche Besserungen geben könnte." Zivilgesellschaftliche
Organisationen, Intellektuelle, DemokratInnen und Kapitalbesitzer,
die ihre Interessen in einer EU-Mitgliedschaft der Türkei
gewahrt sehen, müßten sich in den Prozeß
einbringen, so Öcalan.
"Meine Gesundheit hängt von den Geschehnissen
ab"
Auf Fragen nach seiner Gesundheit antworte Öcalan nach
Angaben seines Verteidigers Erbas: "Es wäre unrecht,
auf die Frage `Wie geht es Ihnen` - `Gut, Danke` zu antworten.
Unser bisheriger Kampf ist bekannt. Es gibt Gefallene. So
viel Blut, so viele Werte. Wir haben große Schmerzen
erlebt. Wenn ich all dies bedenke, kann ich eine Antwort geben.
Aber ein klassisches `Gut, Danke` ist bedeutungslos. Denn
auch meine physische Existenz ist in dieser Hinsicht unwichtig.
Es geht darum, den großen Schmerzen gerecht zu werden,
die wir durchlebt haben." Öcalan bemerkte, seine
Gesundheit hänge vom Lauf der Ereignisse ab, und fuhr
fort: "Ich verkörpere grundlegende menschliche Werte,
die ich aus dem alten ins neue Jahrtausend herüber tragen
will. Wenn mir dies gelingt, kann ich mich gut fühlen."
Er wolle den gegenwärtigen Prozess noch weiter vertiefen,
so Öcalan.
Geschlechterfrage und Demokratie
In seiner Depesche an Rechtsanwalt Dogan Erbas hat der PKK-Vorsitzende
auch auf die Relation zwischen Geschlechterverhältnis
und Demokratie hingewiesen. Er betonte, dass die Geschlechterfrage
in einer echten Demokratie gelöst werden könne,
da Demokratie ein ideales Lösungsmodell sowohl für
die nationale Frage, als auch für die Geschlechterfrage
sei. "Aus diesem Hintergrund sollte die Bewegung der
Freien Frauen (d.h. kurdische Frauenorganisation) das Wesen
des Kampfes um Demokratie begreifen, weitervermitteln und
in die Praxis umsetzen", so Öcalan, "wenn dementsprechend
agiert wird, wird auch der [Friedens-] Prozess als ganzer
besser verständlich. Praktische Ziele in diesem Prozess
lassen sich um so konkreter verwirklichen, je höher die
Ebene des Begreifens ist".