Berlin, 16.11.1999
Am 15. November veröffentlichte der Präsidialrat
der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen an die Teilnehmer
des in Istanbul stattfindenden OSZE-Gipfels gerichteten offenen
Brief. In dem uns vorliegenden Schreiben geht der Präsidialrat
der PKK auf einige wichtige Fragen ein. Aus diesem Grund geben
wir den Brief in deutscher Übersetzung im vollen Wortlaut
wieder:
· Brief der PKK an das Gipfeltreffen der OSZE in
Istanbul
"An das Gipfeltreffen der OSZE und an die Öffentlichkeit
Das letzte Gipfeltreffen der OSZE in diesem Jahrhundert wird
in Istanbul durchgeführt. Da es genau in einer Zeit stattfindet,
in der die Diskussion über die Demokratisierung in der
Türkei verstärkt geführt wird, gewinnt das
Treffen noch mehr an Bedeutung. Es ist allgemein bekannt,
dass die Grundprinzipien der OSZE auf Demokratie, Menschenrechte
und Sicherheit beruhen. Es ist unbestritten, dass an der Schwelle
des 21. Jahrhunderts diese Werte von der freien Welt anerkannt
werden. Es scheint unmöglich, dass im Zeitalter der Kommunikation
ein Land, bzw. eine Gesellschaft sich ausserhalb dieses Wertesystemes
aufrecht erhalten kann. Diese Werte, die infolge des Kampfes
der Menschheit für Freiheit und Demokratie errungen wurden,
und das Leid der Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts
scheinen die Menschheit auf einen gemeinsamen Nenner vereint
zu haben: Ein Leben in Demokratie und Sicherheit unter Achtung
der Menschenrechte führen zu wollen. Daher steht außer
Frage, dass das 21. Jahrhundert die vorhanden Probleme und
Ungleichheiten überwinden und auf der Grundlage von Freiheit
und Demokratie das Jahrhundert des sozialen Wohlstandes werden
wird.
Die OSZE führt ihren Versammlung in einem Land durch,
dem es nicht gelungen ist, die Demokratie und die Menschenrechte
zu verwirklichen, sein Hauptproblem, die kurdische Frage,
zu lösen und das daher nicht in der Lage war, sich aus
dem Teufelskreis der Krise zu befreien und den Zustand der
Instabilität zu überwinden. Daher gilt die Aufmerksamkeit
neben den Beschlüssen der OSZE der Haltung der Türkei.
Der Erfolg wird davon abhängen, in wieweit die Prinzipien
der OSZE der Türkei nahegelegt und Fortschritte in dieser
Richtung erzielt werden. Außerdem wird sich die Bedeutung
und Glaubwürdigkeit der OSZE anhand ihres Interesses
an der Problematik, die unmittelbar um sie herum vorhanden
ist, und ihrem konstruktiven Beitrag messen lassen müssen.
Wenn die Türkei hinsichtlich Demokratie und Menschenrechte
Fortschritte erzielt, wird das Grundprinzip der OSZE, ein
Leben in Sicherheit und Zusammenarbeit, seine Wirkung auch
im Mittleren Osten und Asien zeigen. Die Situation der Türkei
wird auf Versammlung der OSZE eine wichtige Rolle spielen,
wenn auch nur aus diesem Bedürfnis heraus. Weil sich
die Interessen der OSZE in diesen Fragen mit denen der Türkei
decken, scheint ein Fortschritt möglich.
Während des Krieges zwischen unseren bewaffneten Kräften
und der türkischen Armee wurden die Menschenrechte stark
verletzt. Die Unterdrückung gegenüber dem kurdischen
Volk erreichte ein unerträgliches Ausmaß. Tausende
Morde, deren Täter bis heute unbekannt geblieben sind,
wurden verübt. In Polizeigewahrsam und in den Gefängnissen
wurden Zehntausende Menschen gefoltert. Noch heute werden
über 10.000 kurdische Menschen in den Gefängnissen
festgehalten. Der Großteil wurde mit banalen Begründungen
zu mehr als 15 Jahren Haft verurteilt. Selbst nach offiziellen
Angaben wurden über 3.000 Dörfer verbrannt und zerstört.
Millionen von Kurden wurden zur Flucht in die türkischen
Metropolen und nach Europa gezwungen.
Außer verbaler Kritik, die kaum Einfluß auf eine
Veränderung hat und nur als Druckmittel eingesetzt wurde,
wurde auf Grund der strategischen Bedeutung der Türkei
gegenüber der Unterdrückung die Augen verschlossen
oder sie sogar unterstützt. Während Volksgruppen
und nationalen Minderheiten in anderen Ländern ein hohes
Interesse entgegengebracht wird, wurden die Probleme der 25
Millionen Kurden in der Türkei ignoriert.
Bekanntlich hat unsere Partei, dem Aufruf unseres Vorsitzenden
Abdullah Öcalan folgend, den Krieg vollkommen eingestellt
und seine bewaffneten Kräfte aus der Türkei abgezogen.
Wie groß auch das erlittene Leid in der Vergangenheit
sein mag, unsere Partei hat erklärt, sich an einer Demokratischen
Republik in der Türkei zu beteiligen, die die kurdische
Identität anerkennt. Ein weiterer Grund für die
Beendigung des Krieges ist die Einsicht, dass alle Probleme
in der Türkei, die kurdische Frage eingeschlossen, nur
in diesem Rahmen gelöst werden können.
Wir sind der Auffassung, dass alle strategischen und politischen
Befürchtungen und Hindernisse, die einer Lösung
der kurdischen Frage im Wege standen, behoben sind. Der Beschluß
der PKK, den bewaffneten Kampf einzustellen, bietet denjenigen,
die einen Beitrag für die Lösung des Problems leisten
möchten, eine große Erleichterung. Auch die OSZE-Versammlung
kann die Türkei bei der Lösung der kurdischen Frage
unterstützen, indem es die entspannte Atmosphäre,
die durch die Beendigung des Krieges entstanden ist, nutzt.
Eins steht fest: Die Demokratisierung der Türkei zu erwarten,
bevor sie die kurdische Frage gelöst hat, ist nur ein
Traum. Richtiger wäre, zu sagen, dass eine solche Herangehensweise
eher der Ausdruck dafür ist, nicht zu wollen, dass die
Türkei sich demokratisiert. Der Grund, warum die Länder
- nicht nur die Türkei -, in denen die Kurden leben,
sich nicht demokratisieren können, resultiert aus dem
Bedürfnis, die Kurden zu unterdrücken. Die Länder,
die die kurdische Frage nicht lösen, haben zwangsläufig
ihre Gesetze und Institutionen auf eine antidemokratische
Weise geordnet, um das kurdische Volk zu unterdrücken.
Das hat dazu geführt, das diese Länder, allen voran
die Türkei, autoritäre und unterdrückende Regime
bleiben. Sobald die kurdische Frage gelöst ist, wird
keine Notwendigkeit mehr bestehen, diese antidemokratische
Gesetze und Institutionen aufrecht zu erhalten. Das heißt,
der entscheidende Schlüssel für die Demokratisierung
des Mittleren Ostens ist die Lösung der kurdischen Frage.
Auch für die Stabilität der Türkei und des
Mittleren Ostens ist wiederum die Lösung der kurdischen
Frage der Schlüssel. Jedem ist klar, dass die ungelöste
kurdische Frage eine wichtige Rolle in der jahrelangen Instabilität
in der Türkei spielt. Es ist eine Lehre der Geschichte,
dass, weil die kurdische Frage nicht auf der demokratische
Grundlage gelöst wurde, die Länder in der Region
diese Frage gegeneinander ausgespielt und somit der Instabilität
im Mittleren Osten den Weg geebnet haben. Im weiteren nutzen
einige internationale Mächte diese Frage für ihre
eigenen Interessen. Das führte dazu, dass die Beziehungen
zwischen den Staaten problematisch wurden. Wenn man bedenkt,
dass der Mittlere Osten das Rückgrat für den Weltfrieden
und das Gleichgewicht darstellt, so wird die Lösung der
kurdischen Frage einen wichtigen Einfluß auf den Weltfrieden
und ein sicheres Zusammenleben haben.
Dass der Weg zu Sicherheit und Stabilität im Mittleren
Osten über die Demokratisierung führt und diese
unmittelbar mit der Lösung der kurdischen Frage zusammenhängt,
ist eine wichtige Lehre, die aus den schmerzhaften Erfahrungen
zu ziehen ist. Wir erwarten, dass die OSZE aus dieser Perspektive
an die Probleme herangeht. Die Welt hat im 20. Jahrhundert
das kurdische Volk für nichtexistent erklärt und
ihm in keiner Weise einen Raum zugestanden. Das kurdische
Volk wurde gevierteilt, und durch das Vorenthalten ihrer nationalen
und kulturellen Rechte wollte man sie als Volk aus der Geschichte
auslöschen. Diese Situation führte zu Aufständen
und zu großem Leid. Neben den herrschenden Ländern
in der Region sind auch mächtige Länder, die in
der OSZE vertreten sind, für den Alptraum der Kurden
verantwortlich.
Es ist die moralische und politische Verantwortung aller
Staaten, die am OSZE-Treffen teilnehmen, zu Beginn des 21.
Jahrhunderts diesen Mißstand zu überwinden und
wenigstens diese großen historische Ungerechtigkeiten
und Fehler zu korrigieren. Unser Volk erwartet von allen Staaten,
die am Gipfeltreffen der OSZE teilnehmen, die Türkei
eingeschlossen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Die OSZE
kann ihrer Verantwortung nachkommen, wenn sie die Türkei
bei der Demokratisierung unterstützt. Dies kann sie tun,
in dem sie zum einen die Türkei als EU-Mitglied aufnimmt
und zum anderen die Türkei ermutigt, die notwendigen
Schritte für die Demokratisierung zu unternehmen. Die
kurdische Frage sollte nicht mehr als Mittel für Propaganda
und politischen Druck genutzt werden, sondern vielmehr zu
einem Mittel der Demokratisierung der Türkei gemacht
werden.
Jedem ist bekannt, dass wir als eine der wichtigsten Seiten
in der kurdischen Frage für die Lösung des Problems
wichtige Schritte unternommen haben. Im Verlauf des Prozesses
der Konfliktlösung werden wir weiterhin unseren Beitrag
leisten. Unsere Partei ist bereit, die Beschlüsse und
Perspektiven der OSZE für eine Lösung der kurdischen
Frage zu akzeptieren. Unser Vorsitzender hat des öfteren
erklärt, dass wir uns an alle Beschlüsse, die eine
Lösung der kurdischen Frage vorsehen, halten werden,
egal in welchem Rahmen sie verabschiedet werden. Wenn man
all dies berücksichtigt wird, stellt man fest, dass wir
dafür tun, die Demokratisierung der Türkei und die
Lösung der kurdischen Frage zu erleichtern.
Es ist von großer Bedeutung, dass auch die Türkei
Schritte hin zur Demokratisierung unternimmt und politischen
Willen zeigt, Beschlüsse zu fassen, die eine Lösung
erleichtern. Für eine gesellschaftliche Aussöhnung
und für eine Lösung ist das Abschaffen der Todesstrafe
und das Erlassen einer Generalamnestie unumgänglich.
Die Aufhebung des Ausnahmezustandes wird die Demokratisierungsphase
unterstützen. Den Menschen, die mit Zwang aus ihren Dörfern
vertrieben wurden, eine Rückkehr zu ermöglichen,
wird viel dazu beitragen, gesellschaftliche Wunden zu schließen.
Die Unterstützung der OSZE-Staaten für die Rückkehr
der Menschen in ihre Dörfer sowie für wirtschaftliche
und soziale Entwicklung der Türkei wird die Lösung
dieser Probleme erleichtern.
Damit eine dauerhafte Lösung erreicht wird und die leidvolle
Geschichte nicht noch einmal durchlebt werden muss, ist es
zwingend notwendig, dass die Identität der Kurden als
hauptsächliche Mitbegründer der Republik in der
Verfassung verankert wird und alle Verbote und Hindernisse,
die einer Entwicklung der kurdischen Sprache und Kultur im
Wege stehen, aufgehoben werden. Es ist eine unumstrittene
Realität, dass der Weg zur Lösung der kurdischen
Frage im Rahmen der Staatsbürgerrechts über die
Demokratisierung der Türkei führt. Sobald die Türkei
sich in einen Demokratisierungsprozess begibt, wird auch die
Lösung dieses Problems auf den Weg gebracht werden.
Wenn auch dass Problem eigentlich zwischen dem türkischen
und kurdischen Volk gelöst werden wird, glauben wir,
dass die Durchführung des OSZE-Treffens in Istanbul die
Demokratisierung der Türkei unterstützen wird und
die Teilnehmerländer und die Türkei verantwortungsvoll
handeln werden."