Der Staat gewährt die Demokratie nicht, sie wird
ihm abgerungen
Am 26. Dezember 1999 erschien in der prokurdischen
Tageszeitung Özgür Politika die folgende Erklärung
vom Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Abdullah
Öcalan für das kurdische Volk. Es beinhaltet
wichtige Erklärungen über das Verständnis
der Demokratie und die Aufgaben, die damit verbunden sind.
Im folgenden geben wir die deutsche Übersetzung in
gekürzter Fassung wieder:
Abdullah Öcalan, Imrali
Durch die Akzeptanz durch die EU ist die Türkei
gleichzeitig in einen großen Demokratisierungsprozess
eingetreten. Wir sehen uns vor einem Sprung, der so wertvoll
und wichtig ist, wie es die Gründung der Republik
war. Warum hat die EU getan, was sie jahrelang nicht getan
hat? Das hat direkt mit unseren Friedensbemühungen
zu tun. Mit der Aufnahme in die EU kam gleichzeitig der
Aufbau der Demokratie auf die Tagesordnung. Das ist auch
der springende Punkt.
Der Aufbau der Demokratie ist so wichtig wie der Aufbau
der Republik. Durch unseren jahrelangen Kampf haben wir
die demokratische Revolution verwirklicht. Jetzt geht
es darum, die erreichte Demokratie zu institutionalisieren.
Es geht jetzt also um den Demokratischen Aufbau.
Wir haben die Grundlagen für den Demokratischen
Aufbau gelegt, jetzt geht es darum, ihn in angemessener
Weise zu füllen. Die entscheidende Rolle in diesem
Prozess spielt das Volk in unserer Region. Durch die Kandidatur
der Türkei für die EU ist die Aufhebung der
Gründe der Republik für Schmerz und Trauer,
für Blut und Aufstand aktuell geworden. Es ist unumgänglich
geworden, ein neues Demokratieverständnis zu entwickeln
und zu etablieren.
Europa hat der Türkei das Ergebnis einer jahrhundertelangen
Entwicklung angeboten. Jetzt muss die Türkei dies
füllen. Sie muss die Staatsbürgerschaft der
Demokratischen Republik dem angemessen verwurzeln.
Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Sieges
und der Aufklärung
Leider haben bisher die Politiker in der Türkei
den Begriff der Demokratie ausgehöhlt. Sie haben
dem Demokratiebegriff keine Tiefe gegeben, sondern waren
unergiebig und demagogisch. Sie haben die Demokratie verraten,
indem sie den Demokratiebegriff äußerlich beließen.
Wir brauchen ein neues Demokratieverständnis.
Der legitime Mensch wird die legitime Gesellschaft
erschaffen
Wir sind Garanten der Demokratie, der freien Vereinigung.
Wir waren nie auf Teilung aus. Wir wollten unsere Identität,
unsere Sprache und unsere Kultur. Alle unsere Anstrengungen
waren auf das Projekt einer freien Republik gerichtet.
Was wir taten, hatte diese Zielrichtung. In gewisser Weise
haben wir der Republik einen großen Dienst erwiesen,
indem wir aufzeigten, was für ein schwerwiegendes
Problem die kurdische Frage ist. Unsere Zielscheibe waren
nie das Land, die Einheit des Staates und seine einheitliche
Struktur. Auch in Zukunft wird unser Ziel die Verwirklichung
eines zivilisierten, freien Friedens sein, der dem historischen
Wesen des ehrwürdigen Anatoliens angemessen ist.
Die Republik auf ein legitimes Fundament zu stellen, heißt
die Staatsbürgerschaft auf ein legitimes Fundament
zu stellen.
Der legitime Mensch wird die legitime Gesellschaft
erschaffen
Das wird die freie Vereinigung in der Republik bedeuten.
Der 10. Dezember ist in diesem Sinne ein Wendepunkt. So
wird die Republik zu einer Synthese. So reifen endlich
nach und nach die Bedingungen heran für ein Ende
von Leugnung und Vernichtung auf der einen, Aufstand und
Kämpfen auf der anderen Seite.
Die Schmerzen von 75 Jahren müssen ein Ende finden,
die klassischen Ängste müssen besiegt werden.
Die Republik, deren Gründung auch Wille der Kurden
war, muss ihre historische, kulturelle und gesellschaftliche
Identität begrüßen. So kann eine wirkliche
demokratische Öffnung beginnen und wachsen. Man muss
sich die Demokratie und das Projekt der Demokratischen
Lösung [der PKK] als Schritte vorstellen, die Hand
in Hand gehen und miteinander verbunden sind.
Schlüsselinstitution der Demokratischen Republik
ist die Staatsbürgerschaft
Wenn man den Prozess der EU[-Kandidatur] richtig begreift
und sich entsprechend dem Wesen einer Demokratisierung
verhält, dann kann die Republik sozial und demokratisch
gefüllt werden. Dafür müssen auch die 75jährigen
Schmerzen gelindert, die Ängste besiegt werden. Da
ist kein Platz für Leugnung und Vernichtung. Am Ende
muss die Republik unsere Identität begrüßen.
Die grundlegende Parole ist die Staatsbürgerschaft
der Demokratischen Republik. Diese Parole ist ein Schlüsselbegriff
des ganzen. Der Begriff 'Demokratie' wurde an diesem Punkt
nicht ganz verstanden. Mit der Aufnahme in die EU kam
der Aufbau der Demokratie auf die Tagesordnung(...) Die
Demokratie ist der Schlüssel des ganzen.
Die Demokratie und meine Demokratielinie wurden in der
Türkei verstanden. Der demokratische Aufbau ist ebensowichtig
wie der Aufbau der Republik. In den wichtigen Phasen unseres
Kampfes haben wir die Grundlagen für den demokratischen
Aufbau gelegt, jetzt muss er ausgefüllt werden. Wir
waren niemals separatistisch. Das muss man gut verstehen.
Man kann nicht in einer Zeit, in der versucht wird, den
Nationalstaat zu überwinden, in der Logik von Nationalstaaten
denken. Europa ist nicht verrückt. Das ist ein großes
Ereignis (...) Das Problem ist am Punkt der Verständigung.
Die Türkei wirkt aufrichtig, was eine Verständigung
angeht. Als Griechenland sah, dass das Spiel, das sie
mit uns spielen liessen, nicht aufging, bewegte sie sich
auf eine Verständigung zu. Die Rede von Clinton im
türkischen Parlament ist wichtig. Die EU musste die
Türkei nehmen, sonst hätte sie viel verloren.
Es liegt auch in ihrem Interesse.
Die zivilen Politker der Türkei sind mangelhaft.
Sie sind widerlich, sie höhlen die Begriffe aus.
Ecevit ist überlegt, aber die Tiefgründigkeit
ist mir nicht bekannt.
Die Sache wird nach und nach die Kopenhagener Kriterien
umfassen, die Lösung der Kurdenfrage wird aus dem
Gerichten hervorgehen. In diesen breiten Dimensionen muss
man denken. Recht und Politik greifen ineinander, das
wird eine Lösung sicherstellen. Man wird das demnächst
noch besser verstehen. Das Problem wurde nach Europa gebracht.
Die juristische und die politische Lösung des Problems
müssen gemeinsam angegangen werden.
Der Staat gewährt die Demokratie nicht, sie wird
ihm abgerungen
Das wesentliche des Ganzen konzentriert sich auf die
Staatsbürgerschaft der Demokratischen Republik. In
dieser Phase ist die Saatsbürgerschaft der Demokratischen
Republik die Schlüsselinstanz. Für mich sind
Begriffe wichtig. Ich verwende sie nicht sinnlos. Ich
habe meinen Willen, durch ihn lebe ich.
Der Unterschied zwischen der Demokratischen Republik
und früher ist folgender: Diese neue Republik akzeptiert
mich mit meiner historischen, gesellschaftlichen Identität.
Darüber könnte man hundert Bände füllen.
Wir gehen in einen großen Demokratisierungsprozess.
Die Türkei muss sich sensibilisieren. Wir werden
zusammen mit der Türkei Teil einer tiefgreifenden
demokratischen Lösung sein. Hinrichtungen, Repression
usw. müssen komplett aufgegeben werden.
Wenn sich Demokratie entwickelt, gibt es keinen Aufstand
Dies ist eine legitime Verteidigung: Die Republik muss
uns mit unserer historischen Identität akzeptieren.
Es gibt Erklärungen von Atatürk. Wir haben auch
Fehler gemacht. Wir haben die Sache bis hierher gebracht.
Der Staat hat das 1991 akzeptiert. Er sagte "Die
zwei Völker ähneln einander". Der Staat
kann diesen Begriff nicht füllen, aber dieses Geständnis
ist wichtig. Legitime Menschen bilden eine legitime Gesellschaft.
Das vertritt niemand besser als wir.
Es ist keine Schande; wir sind die besten Verteidiger
der gemeinsamen Heimat, der Demokratischen Republik. Sie
bedeutet für uns Reichtum. Musa Anter drückte
das aus, als er sagte: "Warum soll ich auf die Pfirsiche
von Bursa verzichten?" Das liegt in unserer Philosophie,
dafür muss man sich anstrengen.
Es muss Projekte für eine Wende geben
Ich möchte meine Stimme an Diyarbakir richten. Durch
Blut und Schmerzen ist eine Chance geschaffen worden.
Du wirst die Regeln für die Staatsbürgerschaft
der Demokratischen Republik ausarbeiten. Der Staat wird
das akzeptieren, den Weg zeigen; Du wirst deinen Willen
durchsetzen. 40 Kommunalverwaltungen sind ein Wille. Es
muss viel Arbeit geleistet werden. Wir werden der Türkei
die Demokratie bringen, das ist der grundlegende Weg des
ganzen. Und das ist auch unsere grundlegende Aufgabe.
Wir gehen in einen großen Demokratisierungsprozess.
Die Türkei muss sich sensibilisieren. Wir werden
zusammen mit der Türkei Teil einer tiefgreifenden
demokratischen Lösung sein. Hinrichtungen, Repression
usw. müssen komplett aufgegeben werden. Wenn sich
die Demokratie entwickelt, gibt es keinen Aufstand.
Wenn das Spiel weitergeht, gibt es noch einen Aufstand.
Da soll sich niemand verrechnen. Wenn die Demokratie in
einer verlässlichen Weise ins Leben gerufen wird,
wird ein ganzer Berg von Problemen überwunden. Es
müssen große Projekte geschaffen werden in
den Bereichen Verfassung und Politik, Demokratie und Kultur,
Gesetzgebung und Verwaltung, bis hin zur Ökonomie.
Jeder muss sie an der eigenen Front ins Leben rufen. Die
vor uns liegende Phase wird eine sein, in der diese Dinge
intensiv diskutiert werden. Auf dem Weg zur Lösung
oder bei der Verwirklichung einer demokratischen Wende
muss Du ein Projekt haben.
Haben die, die mich in jetzt kritisieren auch nur eine
einzige Friedensdemonstration organisiert? Nein.
Kein Nationalbewußtsein ohne Demokratie
Bildet viele Kader aus. Manche sind hinter Aghatum her;
sie sichern sich ein Monopol. Was immer wir sagen, sie
handeln nach dem eigenen Kopf.
Es geht auch mit solchen, die eine andere Philosophie
haben, aber gut arbeiten wollen. Man muss demokratisch
sein. Demokratie bedeutet Überwindung des Feudalismus.
Man muss nicht das gleiche Glaubensbekenntnis haben. Lasst
uns die Demokratie zuerst in uns selbst entwickeln. Der
Stil "auf jeden Fall jemand aus unserer Familie"
bedeutet Feudalismus. Wer nicht demokratisch ist, kann
nicht auf nationale Interessen bedacht sein, sondern ist
vielmehr chauvinistisch, primitiv nationalistisch. Bitte,
die Intellektuellen sollen uns anhören. Es gibt eine
historisch Trägheit, die muss schnell überwunden
werden.
Wir haben gesagt, das ist etwas neues. Es braucht ein
brandneues Demokratieverständnis. Wir sind die Garanten
der Demokratie, der freien Einheit. Wir betonen die Staatsbürgerschaft
der Demokratischen Republik. Auch das Volk des Gebiets
[Kurdistan] muss sich das bewusst machen. Das Volk des
Gebiets ist der Motor der Demokratie. Der alte Kurde ist
abgetreten, der neue Kurde kommt. Wir setzen den Begriff
der demokratischen Staatsbürgerschaft theoretisch-praktisch
um. Veränderung ist ein Naturgesetz. Im Universum
gibt es Veränderung. Wissenschaftlichkeit ist die
Methode, nicht primitiver Materialismus. Demokratie ist
eine Sache des Sozialismus, mehr als des Kapitalismus.
Das ist die Essenz meines Sozialismusverständnisses.
Sozialismus erfordert zuerst Demokratie. Niemand hat auf
den Sozialismus verzichtet. Das 21. Jahrhundert ist das
Jahrhundert des Sieges der Demokratie. Die demokratische
Lösung ist die universale Lösung. Aber die Kurden
haben zum ersten Mal die Chance erlangt, diesen Moment
zu erwischen. Die Türkei ist bereit. Wir haben 30
Jahre lang gekämpft, wir sind auch bereit. Wie wird
das Realität? Das muss man genau bedenken. Bündnisse
sind nötig. Bildet enorme Bündnisse für
Organisierung und Ausbildung. In fünf Jahren werdet
ihr die Früchte ernten. Die Demokratie muss sorgfältig
organisiert werden.
Unsere Friedensbemühungen sind nicht oberflächlich
(...) Brot, Wasser, auch die Sicherheit hängt daran.
Es wird voller Schwierigkeiten stecken. Wir leiden enorm,
damit ihr ruhig arbeiten könnt. Ihr wisst es nicht
zu schätzen. Entwicklungen können nicht dadurch
erreicht werden, in dem man am Sessel sitzenbleibt (...)
Es gibt immer Tod. Lasst uns unsere Arbeit machen, der
Tod soll kommen, woher er will. Von der Arbeitsweise des
Krieges in die Arbeitsweise des Friedens zu wechseln ist
sehr schwer. Am schwersten war es für mich. Die größten
Schwierigkeiten hatte ich. Es gibt hier keinen Egoismus,
wir erfüllen unsere historische Aufgabe. Weil wir
gut gearbeitet haben und das in die Praxis umgesetzt haben,
kommt der Staat nicht gegen uns an. Wir sind stärker
als früher. Das weiss auch der Staat. Dies ist ein
Anfang. Was bleibt, wird der demokratische Kampf ausfüllen.
In diesem Sinne begrüße ich die EU. Sie ist
auch für unser Volk positiv. Sie ist ein guter Anfang.
Es wird eine neue Stufe kommen. Mit diesem Prozess werden
wir die Demokratie retten. Denn unsere Friedensbemühungen
sind nicht oberflächlich, sie sind, um das Jahrhundert
zu retten. Das ist keine Kapitulation, es ist die demokratische
Staatsbürgerschaft auf legitimer Grundlage.