Presseerklärung der Kampagne "Frieden in Kurdistan - Für eine politische Lösung der kurdischen Frage"

Schirmherren: Lord Avebury, Lord Rea, Harold Pinter, Noam Chomsky, Arthur Miller

31. Januar 2000

Enthüllung von Hisbollah-Morden: Die "Verschwundenen" kehren zurück, um den türkischen Staat heimzusuchen

"Wenn sie in den kurdischen Gebieten graben, werden sie Hunderte Leichen finden statt einigen Zehn." Cemil Aydogan, IHD

Die türkische Öffentlichkeit hat in der vergangenen zwei Wochen mit bestürztem Unglauben zugesehen, als die verwesten Leichen von immer neuen Opfern der islamistischen Untergrund-Bande Hisbollah ans Tageslicht kamen. Entstellte und verstümmelte Leichen aus flüchtig angelegten Grabmulden oder Kellern, die in Presse und Fernsehen gezeigt wurden, haben das Land erschüttert. Als die grausigen Funde jedoch immer zahlreicher wurden, erhoben sich Fragen über die Natur der Organisation, die solche Gräueltaten verübt hat und wie sie so lange funktionsfähig bleiben konnte, ohne die Aufmerksamkeit des Staates zu erregen.
Bislang wurden ca. 46 Leichen an Orten im ganzen Land ausgegraben, nachdem eine Auseinandersetzung mit einer Hisbollah-Bande in einem Haus in Istanbul, in deren Verlauf der Anführer getötet und weitere Personen verhaftet worden waren, eine Suchaktion der Polizei ausgelöst hatte. In der Folge erlebte die Polizei eine Prüfung durch immer grausigere Entdeckungen, bei denen 25 Leichen, verscharrt in den Kellern und Kohleschuppen von vier Häusern in Ankara, Istanbul und Konya aufgefunden wurden. Eine der Leichen entdeckte man in einer flachen Grube an einem Graben, eine weitere war unter einem Baum verscharrt. Sechs Leichen waren auf einem Feld in der Region Tarsus, etwa 500 km südlich von Ankara vergraben und bei der letzten Suchaktion fand man vier weitere in Diyarbakir.
Viele Opfer konnten als kurdische Geschäftsleute identifiziert werden, die sich geweigert hatten, die Hisbollah [der Name bedeutet "Partei Gottes"] finanziell zu unterstützen. Trotz der Namensgleichheit gibt es weder Erkenntnisse für irgendeine Verbindung mit ihrem libanesischen "Gegenstück" noch dafür, dass sie durch eine ausländische Macht - wie etwa den Iran - unterstützt worden wäre. Tatsächlich legen alle bisher verfügbaren Erkenntnisse nahe, dass die Organisation vollständig "hausgemacht" und lange bestehenden Vermutungen zufolge nichts wesentlich anderes ist als eine staatlich geförderte "Konterguerilla"-Gruppe. Dieser Verdacht nährt sich vor allem aus dem Umstand, dass die Gruppe vor allem im kurdischen Südosten gegen PKK-Aktivisten operierte und in den späten Achzigern gegründet wurde, als die PKK ihre Aktivitäten verstärkte. Am stärksten war sie in den Städten Diyarbakir und Batman. Hinzu kommt, dass einer der kürzlich festgenommenen Verdächtigen angab, als Computer-Analytiker im Büro des Ministerpräsidenten zu arbeiten.
Die Vorwürfe veranlassten den Staatspräsidenten Demirel, ein Dementi zu veröffentlichen, indem er verkündete, dass "der Staat keine Morde begeht oder begangen hat". Trotzdem schien er überraschender Weise die Möglichkeit einzuräumen, dass es Elemente im Staatsapparat gibt, die jenseits ihrer Autorität tätig seien: "Es könnte zum Staatsapparat gehörende Kräfte geben, die illegal handeln; sie begehen jedoch ein Verbrechen. ... Erste Pflicht des Staates ist es, sie zu eliminieren."
Die Erklärung Demirels stand in einem gewissen Widerspruch zu den vehementen Dementis des Generalstabes, der versuchte, das Feuer auf die Islamisten unter Einschluss der islamischen Fazilet- [Tugend-]Partei und ihren 104 Parlamentsabgeordneten zu richten. Verbunden mit der Drohung, die Partei zu verbieten, stellte der Generalstab fest: "Die jüngsten Ereignisse haben einmal mehr offen bewiesen, dass die Bedrohung durch den radikalen Islam bestehen bleibt und dass politische Parteien, die diese Geisteshaltung repräsentieren, dreimal durch das Verfassungsgericht verboten wurden." Damit antworteten die Militärs auf Forderungen des Vorsitzenden der Tugendpartei, Recai Kutan, nach einer vollständigen offiziellen Aufklärung der Hisbollah und ihrer Ursprünge. Im Bestreben, seine Partei aus allen Verdächtigungen herauszuhalten, etwas mit den Hisbollah-Banden zu tun zu haben, machte Kutan die bemerkenswerte Feststellung, dass "in dem [kurdischen] Gebiet nicht einmal ein Vogel fliegen kann, ohne dass die bewaffneten Streitkräfte alles über ihn erfahren." Wer jemals versucht hat, in die Region zu reisen, weiß aus eigener Erfahrung, dass es wirklich so ist.
Beschuldigungen wegen einer offensichtlichen Verwicklung des Staates sind von Vertretern des Türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) erhoben worden. Cemil Aydogan, der Gebietsvorsitzende des IHD in Mardin, stellte fest: "die Hisbollah hat sich jahrelang in Kurdistan rekrutiert und Tausende von Menschen getötet. Die Regierung hat diese Morde nicht verhindert." Es wird nun befürchtet, dass die bisherigen Leichenfunde nur ein kleiner Anfang sind von weitaus umfassenderen und alarmierenderen Dingen, die noch bevorstehen. Wenn, wie anzunehmen, die polizeilichen Nachforschungen auch weiterhin zur Auffindung von Leichen führen, wird es den Staatsorganen schwer fallen, den Ruf einer entsetzten und über die Geschehnisse in ihrem Land empörten Öffentlichkeit nach Gerechtigkeit im Zaum zu halten. Das nationale und internationale Interesse am Ausmaß der Exhumierungen bietet die Möglichkeit, zur Wahrheit vorzudringen und wenigstens für einige der "Verschwundenen" der Türkei letztendlich Gerechtigkeit zu schaffen. Erin Keskin, die IHD-Vorsitzende für Istanbul, forderte Aufklärung für alle Fälle von "Verschwundenen" und der ungeklärten Morde: "Wir fordern, dass alle Vorfälle im Ausnahmezustandsgebiet, das sich in ein Feld des Todes verwandelt hat, aufgedeckt werden. Wir fordern dies, weil Menschenrechte und Demokratie nicht auf der Grundlage verwester Leichen und unterdrückter Tatsachen entstehen können."
Die Duldung der Hisbollah durch den Staat hat Kritiker schon seit Langem veranlasst, nach dem Ausmaß seiner Unabhängigkeit zu fragen. Der stellvertretende IHD-Vorsitzen-de, Osman Baydemir, kommentierte, dass die Bande Verbindungen hatte, die bis zur Spitze der staatlichen Hierarchie reichten: "Tatsache ist, dass es nie eine unabhängige Hisbollah gegeben hat. Diese Organisation ist durch den Staat selbst gegründet worden. Der Staat hatte Verbindungen zu illegalen Vereinigungen. In diesem Zusammenhang sind in der Region systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen worden. Obwohl auch die örtlichen Verwaltungen prinzipiell beteiligt gewesen sind, trieb man die Beziehungen nach Plänen voran, die von allerhöchsten Stellen wie dem Generalstab und dem Ministerpräsidenten vorgedacht worden waren."
Wie der berüchtigte Susurluk-Skandal vor einem Jahrzehnt, bei dem ein Polizeichef, ein Politiker und ein Drogendealer und Massenmörder bei einem Autounfall zu Tode kamen, hat dieser jüngste Vorfall einige finstere Kräfte im Herzen des türkischen Staates enthüllt, dazu Verbindungen mit der Unterwelt und politischen Massenmördern. Aydogan vom IHD zog eine Parallele mit Susurluk, dessen Wahrheit unterdrückt wurde, indem viele der beteiligten Personen entweder starben oder auf mysteriöse Weise verschwanden, einschließlich des Staatsanwaltes, der versucht hatte, den Fall aufzuklären. Um zu verhindern, dass sich Gleiches wieder ereignet, und um allen weiteren Gräueltaten vorzubeugen, rief Aydogan zur Zusammenarbeit zwischen allen demokratischen Kräften in der Türkei auf. Er betonte gleichermaßen, dass die übergroße Mehrheit der Opfer kurdische Menschen gewesen sind: "Wenn sie in den kurdischen Gebieten graben, werden sie hunderte Leichen finden statt einigen Zehn." Deshalb bieten die Entdeckungen vielleicht die Gelegenheit für eine Aufklärung der Ausmaße des "schmutzigen Krieges" des Staates gegen die Kurden.
Da sich die Aufmerksamkeit in der Folge des Helsinki-Gipfels über eine EU-Kandidatur zunehmend auf die Menschenrechtssituation in der Türkei richtet, liegt die Verantwortung nun bei all denen, die an demokratischen Prinzipien festhalten: sicherzustellen, dass die volle Wahrheit über all diese Verbrechen letztendlich aufgeklärt wird. Die neue Ära, die durch Abdullah Öcalan und die PKK durch ihre Arbeit mit politischen und friedlichen Methoden eingeleitet wurde, sollte es leichter machen, all jene, die diese Morde begangen haben, der Gerechtigkeit zuzuführen. Denn soviel ist sicher: Bevor all diese Verbrechen aufgedeckt und die Schuldigen gefunden sind, kann eine Versöhnung zwischen der Türkei und den Kurden nicht erreicht werden.