Erklärung der Oberbürgermeister und Bürgermeister von Diyarbakir, Batman, Bingöl, Hakkari, Siirt und Van sowie des Bürgermeisters von Dikmen (Provinz Mardin) auf der "Dritten Europäischen Konferenz Zukunftsbeständiger Städte und Gemeinden" in Hannover, 9.-12. Februar 2000:

AN DIE EUROPÄISCHE ÖFFENTLICHKEIT

"Wiederaufbau und Stadtentwicklung für die Südosttürkei"

Wir, die Oberbürgermeister der südosttürkischen Provinzhauptstädte Diyarbakir, Batman, Bingöl, Hakkari, Siirt und Van sowie der Bürgermeister der Kleinstadt Dikmen (Provinz Mardin) danken der Stadt Hannover für die Einladung zur Dritten Europäischen Konferenz Zukunftbeständiger Städte und Gemeinden vom 9. bis 12. Februar 2000. Der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) International danken wir für die Betreuung auf der Konferenz. Wir sind dieser Einladung gefolgt, da wir Partner beim Wiederaufbau unserer Heimat suchen, die während der letzten 15 Jahre verwüstet wurde. Zugleich wollen wir damit einen Beitrag zur Integration der Türkei in die Europäische Union leisten. Denn viele Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel können nur auf kommunaler Ebene überwunden werden. Mit unserer gemeinsamen Erklärung möchten wir die deutsche und europäische Öffentlichkeit über unsere konkreten Probleme informieren und zugleich eine Perspektive aufzeigen, wie in unserem Land Frieden und Menschenrechte gefördert werden können.

Der bewaffnete Konflikt zwischen der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und der türkischen Armee hat unendliches Leid über die ganze Bevölkerung der Türkei gebracht. Wie eine Untersuchungskommission des türkischen Parlamentes Ende 1997 festgestellt hat, wurden im Südosten des Landes mehr als 3.428 Dörfer zerstört. Mehr als 35.000 Menschen, Türken und Kurden, wurden getötet. Viele von ihnen waren Zivilisten. Mehr als 2,5 Millionen Dorfbewohner mussten flieden oder wurden vertrieben.

Durch Flucht und Vertreibung hat sich die Bevölkerung in unseren Städten binnen weniger Jahre verdoppelt und verdreifacht. Auch in Istanbul und anderen Metropolen der Westtürkei wuchsen die Slums. Unsere Gemeinden konnten die vielen Flüchtlinge kaum mehr ernähren. Infektionskrankheiten grassierten in den Zeltlagern. Noch heute müssen viele der Flüchtlinge in Notunterkünften hausen. Die Arbeitslosigkeit beträgt über 50 Prozent.

Seit letztem Jahr gelten die Kämpfe als beendet. Doch ein Waffenstillstand ist noch kein Frieden. Wahrer Frieden ist nicht möglich ohne Versöhnung und die Herstellung von Gerechtigkeit. Die Menschen müssen spüren, dass eine neue Zeit anbricht. Deshalb hoffen wir, dass die Chance genutzt wird. Wir wünschen uns, dass unsere zerstörte Region wirtschaftlich, sozial und politisch entwickelt wird. Wir fordern, dass der Ausnahmezustand in allen Provinzen der Südosttürkei aufgehoben wird. Alle Flüchtlinge haben das Recht auf Rückkehr und Wiederherstellung ihres Eigentums. Wo dies nicht möglich ist, müssen die Betroffenen angemessen entschädigt werden.

Bei der Entwicklung unserer Städte und Provinzen wollen wir nicht die Fehler wiederholen, die in den letzten 50 Jahren in vielen anderen Ländern begangen wurden. Große Infrastrukturprojekte sollen sozial und ökologisch verträglich sein. Sie müssen die Lebensbedingungen der ganzen Bevölkerung - auch die unserer Kinder und Kindeskinder - verbessern. Wir fühlen uns den Prinzipien der lokalen "Agenda 21" verbunden, wie sie in der "Charta von Aalborg" formuliert wurden und mit einer Abschlusserklärung der Hannover Conference 2000 weiterentwickelt werden.

Es fehlt bei uns an guten Schulen und an einem funktionierenden Gesundheitswesen, das alle Bürgerinnen und Bürger erreicht. Wir wollen den öffentlichen Verkehr fördern und erneuerbaren Energiequellen den Vorzug geben. Wir benötigen Kläranlagen und ein umweltschonendes System der Müllbeseitigung. Unsere Trinkwasserversorgung soll langfristig gesichert, unsere entwaldeten Berghänge sollen aufgeforstet werden. Um die Vitalität der Städte zu garantieren, bedarf es eines gesunden Umlandes mit einem Netz kleiner und mittelständischer Unternehmen und einer modernen Landwirtschaft. Wir Bürgermeister wollen alles in unserer Kraft Stehende tun, um gute Bedingungen für Investoren herzustellen.

Voraussetzung für jede nachhaltige Entwicklung ist die Beteiligung der Bevölkerung. Wir bitten um Unterstützung beim Aufbau unabhängiger Medien und Nichtregierungsorganisationen, die demokratischen Idealen verpflichtet sind. Zugleich rufen wir die türkische Regierung dazu auf, die Verbote friedlicher kurdischer Institutionen aufzuheben. Der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache darf nicht länger eingeschränkt werden. Auch andere ethnische und religiöse Minderheiten, die in der Vergangenheit verfolgt wurden, sollen sich frei entfalten können.

70 Prozent der gesamten Bevölkerung der Türkei leben in Städten und Gemeinden. Doch alle diese Städte und Gemeinden leiden unter der geringen Unterstützung durch die Zentralregierung. Der türkische Zentralismus ist ein Hindernis für viele Reformen auf regionaler und lokaler Ebene. Immer wieder werden wir Bürgermeister gerade in den Bereichen zum Sparen gezwungen, die für eine funktionstüchtige Stadtverwaltung unerlässlich sind. Diese Zustände sind zutiefst undemokratisch und widersprechen europäischen Ideen von lokaler und regionaler Selbstverwaltung. Die Türkei soll auf kommunaler Ebene endlich die Maßstäbe der Europäischen Union einführen.

Wir verlangen die Abschaffung der vollständige Beseitigung der Todesstrafe im Strafgesetzbuch. Wir fordern die Ausmerzung der Folter in allen Haftanstalten und Polizeistationen sowie Amnestie für alle Gefangenen, die aus rein politischen Gründen verurteilt wurden. Wer aber schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, der soll ungeachtet seiner ethnischen Zugehörigkeit und sozialen Stellung mit rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt werden.

Zum Schluss möchten wir unsere Solidarität mit allen Städten und Gemeinden in der übrigen Türkei zum Ausdruck bringen, die unter ähnlichen Problemen wie wir leiden, vor allem aber mit jenen, die durch die schweren Erdbeben im vergangenen Jahr getroffen wurden. Wir trauern mit ihnen um die Opfer dieser humanitären Katastrophe. Zusammen mit allen demokratisch gesinnten Kräften in der Türkei und in ganz Europa möchten wir an einer menschenwürdigen Zukunft bauen.

Feridun Celik, Oberbürgermeister der Stadt Diyarbakir
Abdullah Akin, Oberbürgermeister der Stadt Batman
Feyzullah Karaaslan, Oberbürgermeister der Stadt Bingöl
Hüseyin Ümit, Oberbürgermeister der Stadt Hakkari
Selim Özalp, Oberbürgermeister der Stadt Siirt
Sahabettin Özarslaner, Oberbürgermeister der Stadt Van
Salhaddin Ertas, Bürgermeister der Stadt Dikmen (Provinz Mardin)