Aufruf zu Newroz-Delegationen 2000

Nachdem es während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz seit Anfang der 90'er Jahre immer wieder zu massiven Übergriffen der türkischen Staatssicherheitskräften auf die Zivilbevölkerung kam, die zu vielen Opfern führten, gibt es seit 1993 den Aufruf verschiedener Organisationen an die demokratische und fortschrittliche Öffentlichkeit hier, sich an Menschenrechtsdelegationen nach Kurdistan und die Türkei zu beteiligen. Ziel dieser Delegationen war und ist es, sich ein unabhängiges Bild über die aktuelle Lage zu verschaffen und Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen.

Die aktuellen Entwicklungen der letzten 12 Monate ließen bei vielen Menschen die Hoffnung aufkommen, daß das kurdische Neujahrsfest in diesem Jahr als ein Zeichen des Friedens, der Völkerverständigung und des Demokratischen Wandels ungestört stattfinden könnte und internationale Beobachterdelegationen aus diesem Grund nicht notwendig wären. Doch die Entwicklungen der letzten zwei Wochen, vor allem das staatliche Vorgehen gegen die prokurdische HADEP-Partei, ließen die anfänglichen Hoffnungen auf ein friedliches Newrozfest schwinden.

Die Türkei zwischen Krieg und Frieden

Im August 1999 erklärte die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), dass sie ab dem 1. September 1999 die bewaffneten Aktionen gegen den türkischen Staat einstellen und alle Guerillaverbände aus den nordkurdischen Provinzen der Türkei abziehen wird, um damit einmal mehr dem Friedenswillen des kurdischen Volkes Ausdruck zu verleihen. Seit 1993 hat die PKK durch drei einseitig erklärte Waffenstillstände immer wieder versucht, einen politischen Dialog für eine Lösung des kurdisch-türkischen Konfliktes auf demokratischer Grundlage in Gang zu setzen.

Die Verschleppung des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, aus Kenia in die Türkei nutzte die PKK nicht, wie allgemein erwartet wurde, als Anlass dazu, die Türkei wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen, sondern um einmal mehr die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, betonte in seiner Verteidigungsrede, dass nach 15 Jahren Krieg, der im kurdischen und türkischem Volk soviel Leid und Schmerz verursacht hat, nun die Zeit gekommen sei, das türkische und kurdische Volk in einer demokratischen Republik wiederzuvereinen.

Trotz des von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingeleiteten Friedensprozesses und der daraufhin in der türkischen Gesellschaft begonnenen Diskussionen über demokratische Reformen, erachten wir es weiterhin für notwendig, zu Newroz internationale Beobachterdelegationen in die Türkei und nach Kurdistan zu entsenden. Mit der Verhaftung der Bürgermeister der kurdischen Städte Amed (Diyarbakir), Siirt und Bingöl, Ferid Celik, Selim Özalp und Feyzullah Karaarslan, am 24.2 und der Verurteilung von 18 führenden Mitgliedern der HADEP zu mehrjährigen Haftstrafen, ist damit zu rechnen, daß es zu Provokationen und Angriffen auf die Newrozfeierlichkeiten kommen könnte. Auch wenn die Bürgermeister in Folge der regionalen und internationalen Proteste nach ein paar Tagen wieder freigelassen wurden, darf doch nicht die Message übersehen werden, die durch diesen Akt zu vermitteln versucht wurde: dass nämlich staatliche Kräfte jederzeit wieder zu ihren alten Methoden von Repression greifen werden, um alle Stimmen im Keim zu ersticken, die sich emanzipiert für eine neue Politik einsetzen. Gerade jetzt ist es daher besonders wichtig, dass durch internationale Stimmen ein deutliches Zeichen gesetzt wird.

Während die HADEP sich sehr eindringlich für eine demokratische und politische Lösung des kurdisch-türkischen Konfliktes einsetzt, setzen die Gegner des Friedensprozesses weiter darauf, ihren schmutzigen Krieg gegen die Völker der Türkei fortzuführen und versuchen mit diesen repressiven Maßnahmen, die gesellschaftlichen Kräfte, die auf der Seite der Demokratie und des Friedens stehen, zum Schweigen zu bringen. Infolge der Enthüllungen im Fall der Hisbullah kommen nicht nur immer mehr Leichen von Menschen zutage, die zum großen Teil vor Jahren nach ihrer Festnahme spurlos verschwanden, sondern es wird auch immer deutlicher, dass die Hisbullah eine von Teilen des türkischen Staates geführte, ausgebildete und ausgerüstete Konterguerilla war. Die Verbindungen zu diesen verbrecherischen Kräften reichen von der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Ciller und Mehmet Agar (ehmaliger Inneminister) bis hin zum ehemaligen Generalstabchef Güres. Dies lässt nur erahnen, mit welch barbarischen Methoden der schmutzige Spezialkrieg gegen das kurdische und türkische Volk geführt wird.

Äußerungen Tansu Cillers über einen angeblich bevorstehenden Volksaufstand zum Frühjahr lassen Befürchtungen aufkommen, dass die Gegner des Friedensprozesses das kurdische Neujahrsfest "Newroz" dazu benutzen werden, um mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung den Friedensprozess zu zerstören.

Stellt euch auf die Seite der Demokratie und des Frieden

Aufgrund dieser Entwicklungen ist es überaus wichtig, dass auch dieses Jahr möglichst viele Beobachterdelegationen an den Newrozfeierlichkeiten teilnehmen, um dem kurdischen Volk ihre Solidarität und ihre Unterstützung für den Demokratisierungsprozeß zu übermitteln. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die Anwesenheit internationaler Beobachterdelegationen einen großen Schutz für die feiernden Menschen darstellten.

Durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen der türkischen Sicherheitskräfte während der Newroz-Feierlichkeiten, Vom staatlichen Vorgehen gegen Journalisten und Politiker, die sich für ein geschwisterliches Miteinander des kurdischen und türkischen Volkes einsetzen, durch Delegationen, die in den letzten Jahren vor Ort waren, konnte eine breite Öffentlichkeit zur Lage des kurdischen Volkes hergestellt werden.

Seit der Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat ist die Türkei in die Pflicht genommen, jetzt praktische Schritte zur Umsetzung u.a. der Kopenhagener Kriterien zu unternehmen und die Frage einer Demokratisierung der türkischen Gesellschaft und der Lösung der kurdischen Frage nicht weiter aufzuschieben. Vor allem die europäischen Staaten sind nach ihrer jahrelangen Unterstützung des türkischen Staates in seinem Krieg gegen das kurdische Volk verpflichtet, ihre Beziehungen zur Türkei zu nutzen, um Frieden und Demokratie in der Türkei auf den Weg zu helfen. Gerade deshalb ist die Anwesenheit internationaler Beobachterdelegationen besonders wichtig: um als unabhängige Beobachter die Einhaltung der Menschenrechte vor Ort zu überprüfen und im Falle von Verstößen auf diese hinzuweisen und mit vielfältigen Mitteln dagegen zu protestieren.

Deshalb rufen wir alle demokratischen Organisationen und fortschrittlichen Menschen dazu auf, ihrer Unterstützung für den Frieden in der Türkei und in Kurdistan einen praktischen Ausdruck zu geben und sich an den internationalen Beobachterdelegationen zu Newroz zu beteiligen.

Koordinationsstelle: Kurdistan Informations-Zentrum, Kaiser-Friedrich-Str. 63, 10605 Berlin, Tel: 030 - 32764023, Fax: 030 - 32764025, Email: kizkoeln@aol.com

Aus: Kurdistan-Rundbrief, Nr. 5, Jg. 13, 8.3.2000