PRESSEMITTEILUNG DES BUNDESVERWALTUNGSGERICHTES NR. 16/2000 VOM 18. MAI 2000 aus http://www.bverwg.de/index.htm

UNEINGESCHRÄNKTE SOZIALHILFE FÜR FLÜCHTLINGE IM SINNE DER GENFER FLÜCHTLINGSKONVENTION

Das Bundessozialhilfegesetz regelt, daß Ausländern, die - wie die Kläger der Ausgangsverfahren - eine räumlich nicht beschränkte Aufenthaltsbefugnis besitzen, sich aber außerhalb des Landes aufhalten, in dem diese erteilt wurde, von dem für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständigen Träger der Sozialhilfe nicht die volle, sondern nur die unabweisbar gebotene Hilfe gewährt werden darf (§ 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG). Sinn der Regelung ist es, eine unverhältnismäßige Belastung einzelner Teile des Bundesgebietes, insbesondere der Ballungszentren, mit Sozialhilfekosten durch Binnenwanderung aufenthaltsbefugter Ausländer zu verhindern. Im Hinblick darauf, daß die Kläger Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind, war fraglich, ob mit dieser Einschränkung die von der Bundesrepublik Deutschland in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Europäischen Fürsorgeabkommen übernommene völkervertragliche Verpflichtung eingehalten würde, Konventionsflüchtlinge und eigene Staatsangehörige auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge gleich zu behandeln.

Das Bundesverwaltungsgericht hat jetzt ausgesprochen, daß die Regelungen des Europäischen Fürsorgeabkommens als Spezialvorschriften der Kürzungsregelung des Bundessozialhilfegesetzes vorgehen, so daß den Klägern ebenso wie hilfebedürftigen Inländern am jeweiligen Aufenthaltsort im Bundesgebiet ungekürzte Sozialhilfe zu leisten ist. Auch soweit räumliche Beschränkungen einer Aufenthaltsbefugnis für Konventionsflüchtlinge nach dem für sie geltenden Völkervertragsrecht zulässig sein sollten, so knüpfe doch die Kürzungsregelung des Bundessozialhilfegesetzes gerade nicht an räumliche Beschränkungen der Aufenthaltsbefugnis an, sondern versuche, ein ähnliches Ergebnis dadurch zu erzielen, daß sie durch Verweigerung der Fürsorgeleistungen außerhalb des Bundeslandes, dessen Behörde die Aufenthaltsbefugnis erteilt hat, den Ausländer zwingen will, dieses Bundesland entweder nicht zu verlassen oder umgehend in dieses zurückzukehren. Im Europäischen Fürsorgeabkommen gebe es aber keine Anhaltspunkte dafür, daß es den Vertragsstaaten erlaubt sein sollte, die Gewährung von Fürsorgeleistungen auf ein bestimmtes Gebiet zu beschränken und damit den auf Sozialhilfe angewiesenen Angehörigen anderer Vertragsstaaten und den Konventionsflüchtlingen fürsorgerechtlich begründete Residenzverpflichtungen aufzuerlegen. Es sei nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber im Bundessozialhilfegesetz von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland habe abweichen wollen.

BVerwG 5 C 29.98 und 5 C 2.00 - Urteile vom 18. Mai 2000

******************

Anmerkungen von Georg Classen

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit dem Urteil vom heutigen Tage (das mir im Wortlaut noch nicht vorliegt) entschieden, dass die § 120 Abs. 5 BSHG (sozialhilferechtliche Beschränkung der Freizügigkeit auf das Bundesland, in dem die Aufenthaltsbefugnis erteilt wurde) nicht auf anerkannte Konventionsflüchtlinge angewendet werden darf.

In der Praxis hatte die bisherige Regelung zu völlig unerträglichen Folgen für die Betroffenen geführt, da die Sozialämter am urspünglichen Wohnort den sich dort abemldenden Flüchtlingen regelmäßig keinen Hinweis auf die Regelung gaben, und am neuen Wohnort vielfach die Sozialhilfezahlungen für einige Monate oder Jahre aufgenommen wurden, bis das neue Sozialamt seinen "Fehler" bemerkt und plötzlich und unvermittelt unter Verweis auf § 120 Abs. 5 BSHG sämtliche Hilfen einschl. Mietzahlungen einstellt, und den Betroffenen stattdessen als "unabweisbare Hilfe" nur noch eine Fahrkarte in das Bundesland anbietet, in dem sie seinerzeit ihre Flüchtlingsanerkennung erhalten hatten, und sie darauf verweist dort einen Sozialhilfeantrag zu stellen.

Auch schon länger (ohne ihr Wissen!) am "falschen Ort" in einer Wohnung lebende Familien mit kleinen Kindern wurden auf diese Weise von Sozialämtern regelmäßig aus ihren Wohnungen exmittiert und auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe (und einer Obdachlosenunterkunft!) in einem anderen Bundesland verwiesen. Die Rechtsprechung hierzu war unterschiedlich, das Berliner Oberverwaltungsgericht z.B. hat regelmäßig den Verweis auf eine Obdachlosenunterkunft in einem anderen Bundesland selbst für Familien mit Kindern, die in Berlin eine Wohnung und über Jahre Sozialhilfe erhalten hatten, bestätigt, bis eine dieser Entscheidungen in einem besonders schlimmen Fall vom Bundesverfassungsgericht wegen der Folgen für die Betroffenen (Verweis auf Obdachlosenunterbringung in einem anderen Bundesland für einen Familie mit mehreren kleinen Kindern) als "unverhältnismäßig" aufgehoben wurde.

Mit dem nunmehr bundesweit für alle Sozialämter verbindlichem Urteil wurde dieser Praxis ein Riegel vorgeschoben. Anerkannte Konventionsflüchtlinge können ab sofort grundsätzlich in jedem Bundesland und an jedem Ort Sozialhilfe beanspruchen - unabhängig davon, an welchem Ort sie ihre Flüchtlingsanerkennung bzw. Aufenthaltsbefugnis erhalten haben. Voraussetzung dafür ist allerdings (wie bei Deutschen), dass sie nicht sozialwidrig verhalten, indem sie sich durch ihren Umzug vorsätzlich in eine Notlage begeben, wenn sie z.B. einen am bisherigen Wohnort vorhandenen Arbeitsplatz ohne wichtigen Grund kündigen (vgl. § 25 BSHG). Das Urteil des BVerwG gilt allerdings nicht für Ausländer, die ihre Aufenthaltsbefugnis nicht aufgrund einer individuellen Flüchtlingsanerkennung im Rahmen des Asylverfahrens, sondern aus anderen Grund (z.B. einer Altfallregelung) besitzen.

Die Presseerklärung äußerst sich nicht eindeutig zu der Frage, ob das BVerwG den Anspruch auch im Falle einer den Wohnortwechsel untersagenden ausländerrechtlichen Auflage zuspricht. Wenn das BVerwG allerdings davon ausgeht, dass § 120 Abs. 5 Satz 2 gegen GK und EFA verstößt, dann muss dies ebenso für § 120 Abs. 5 Satz 1 gelten. Und nach § 97 BSHG besteht ein Anspruch auf Sozialhilfe grundsätzlich am tatsächlichen Aufenthaltsort - unabhängig von der Meldeanschrift.

Mit diesem Urteil dürfte zugleich die inzwischen vielerorts zusätzlich aus Auflage zur Aufenthaltsbefugnis vorgenommene AUSLÄNDERRECHTLICHE BESCHRÄNKUNG DER FREIZÜGIGKEIT anerkannter Flüchtlinge auf ein Bundesland oder sogar einen einzelnen Landkreis in Frage stehen, da bei anerkannten Flüchtlingen jetzt jedenfalls die gleichmäßige Verteilung von Sozialhilfelasten nicht mehr als Begründung für eine solche (nach § 14 AuslG eigentlich ohnehin nur in besonders begründeten Ausnahmefällen denkbare) Beschränkung der Freizügigkeit angeführt werden kann.

Die ausländerrechtliche Beschränkung der Freizügigkeit anerkannter Flüchtlinge verstößt aber auch gegen Völker- und Europarecht, und zwar gegen Art. 26 Genfer Flüchtlingskonvention sowie gegen Art. 2 Abs. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Aus diesen Gründen hat z.B. das VERWALTUNGSGERICHT DESSAU (Aktenzeichen 3 B 16/00 DE v. 28.2.00, IBIS e.V. R6003, Asylmagazin 5/2000, 33) kürzlich die Beschränkung der Wohnsitznahme auf einen Landkreis als Auflage zur Aufenthaltsbefugnis anerkannter Flüchtlinge (und die entsprechende Vorschrift des LANDESAUFNAHMEGESETZES SACHSEN-ANHALT) für rechtswidrig erklärt.

Dies entspricht auch der Auffassung des UNHCR. Vgl. dazu ausführlich die "Überarbeitete UNHCR-STELLUNGNAHME zur Praxis aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen für Flüchtlinge" des UNHCR Berlin vom März 2000, e-mail: gfrbe@unhcr.ch , im Volltext im Internet unter http://www.unhcr.de/whatsnew/neues.htm .

**** **** ****

Georg Classen c/o Flüchtlingsrat Berlin, Fennstr 31, D-12439 Berlin FAX ++49-30-6361198 E-mail: georg.classen@berlin.de Internet: http://www.proasyl.de , Verzeichnis "aktuell