Berichte zur Abschiebehaft in Berlin, Fortsetzung der Anhoerung Montag, 13.11.00 um 10 Uhr

Bei der von der PDS-Abgeorndeten Karin Hopfmann beantragten Anhörung zur Abschiebehaft im Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am 23.10.00 reichte die Zeit nicht, die Fragen der Abgeordneten an die Sachverständigen zu beantworten. Die Anhörung im wird daher fortgesetzt am

. Montag, 13. November ab 10 Uhr im Berliner Abgeordnetenhaus, Niederkichnerstr.

(Besucherkarten können tlf. vorbestellt werden unter 2325-1062 oder 2325-0, sie können gegen Vorlage des Personalausweises beim Pförtner abgeholt werden).

Anbei Presseberichte (TSP, TAZ, Berliner Zeitung, Morgenpost) zur Anhörung. Vorweg einige ergänzende Anmerkungen.

Alle Experten wiesen darauf hin, dass das Hauptproblem der Abschiebehaft nicht die Haftbedingungen seien, sondern dass niemand verstünde, weshalb er überhaupt inhaftiert sei. Deutlich wurde, dass sich an dieser Praxis nur etwas ändern kann, wenn die in der Koalitionsvereinbarung angekündigten Änderungen der §§ 14 AsylVfG und 57 AuslG erfolgen, was jedoch Aufgabe der rot-grünen Koalition im Bund ist. Scheinbar habe Rot-Grün dieses Thema bisher "irgendwie vergessen".

Hinzu käme die oft extrem lange Dauer der Passbeschaffung, die in der Regel nicht von den Insassen, sondern von den Botschaften zu vertreten sei. Als besonders problematisch genannt wur-den u.a. Indien, Algerien, Libanon (Palästinenser), ehemalige Sowjetunion (häufig ungeklärte Staatsangehörigkeit infolge Auflösung der Sowjetunion). Kritisiert wurde, dass die Insassen (im Unterschied z.B. zu Untersuchungsgefangenen) keinen Anspruch auf kostenlosen anwaltlichen Beistand hätten.

Äußerst schlampig ist offensichtlich die Praxis der Prüfung der von der Ausländerbehörde gestellten Haftanträge durch die in der Haftanstalt untergebrachte Dienststelle des für Abschiebehaftbeschlüsse zuständigen Amtsgerichts Schöneberg. Häufig würde man in den Haftbeschlüssen zwischen teils unzutreffenden Textbausteinen vergeblich nach individuellen Begründung für die Haft suchen.

Nicht uninteressant waren die (in den Presseberichten nicht erwähnten) Erläuterungen des von der CDU geladenen Sachverständigen Möller, Leiter der Abschiebehaft Büren/NRW.

. In Büren werde ein Teil der Tätigkeiten der der Justizverwaltung unterstehenden Anstalt, insbesondere weniger qualifizierte Tätigkeiten wie die Bewachung, von Personal einer privaten Firma durchgeführt. . Ein Anstaltsbeirat (in Berlin von der Innenverwaltung als besonderer Fortschritt verkauft) sei in NRW selbstverständlich und aufgrund des Status als Justizvollzugsanstalt auch gesetzlich vorgeschrieben. . Keiner (weder private noch Justizmitarbeiter) würde in Büren Waffen tragen. . Im Unterschied zu Berlin (keinerlei Beschäftigungsmöglichkeiten) könnten in Büren viele Insassen (ca. 40 %) in der Anstalt arbeiten, das sei schon im Eigeninteresse der Mitarbeiter der Anstalt sinnvoll, um eine allzu agressive Stimmung der Insassen untereinander und gegen die Mitarbeiter zu vermeiden. . Hofgang, Sport (Berlin: 1 Stunde Hofgang/Tag) und Umschluss werden anscheinend großzügiger als in Berlin gehandhabt . Im Unterschied zu Berlin (Besuch nur mit Trennscheibe) fänden Besuche generell ohne Trennscheibe in einer Art Cafeteria statt. Probleme mit Drogen oder Alkohol gebe es (im Unterscheid zu normalen Justizvollzugsanstalten) nicht. Wegen fehlender Verkehrsverbindungen zu der mitten im Wald gelegenen Anstalt würden Besucher "auf Anruf" auf Kosten der Anstalt vom nächsten Bahnhof abgeholt. . Von der Haftanstalt werde eine Beratung der Insassen durch unabhängige Anwälte ggf. unter Zuhilfenahme von Dolmetschern, finanziert (ca. 40 Beratungen/Woche bei ca 500 Insassen).

Skandalös das Verhalten von Innensenator Werthebach, der den Sachverständigen vorwarf, mit ihren Stellungnahmen, eine "Pogromstimmung" zu erzeugen.

Die Anmerkung des CDU-Abgeordneten Gewalt, dass derzeit die Haftkapazitäten längst nicht ausgeschöpft seien und deshalb eine Schließung der Anstalt Kruppstr. zu überlegen sei, bestätigte Werthebach mit einem Kopfnicken.

Von der Anhörung wird ein Wortprotokoll erstellt werden.

Georg Classen

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Der Tagesspiegel 24.10.2000

ABSCHIEBUNG - EIN JAHR WARTEN

Innenausschuss berät über die Situation in den Haftanstalten

Otto Diederichs. Um sich einen Eindruck von der Situation in den Abschiebegewahrsamen zu verschaffen, hatte der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses gestern Sachverständige zu einer Anhörung gebeten. Es wurde eine düstere Bilanz. Haftzeiten von über einem Jahr seien seltener geworden, so der Vorsitzende des Beirates für die Abschiebegewahrsame, Hartmut Horstkotte, Häftlinge warteten aber immer noch durchschnittlich sechs bis neun Monate auf die Abschiebung.

Besonders für Jugendliche, schwangere Frauen und Mütter, die für die Dauer der Abschiebehaft von ihren kleinen Kindern getrennt sind, sei die Haftsituation "eine außerordentlich schwere Belastung". Auch der Zugang der Abschiebehäftlinge zu ärztlicher Behandlung oder eines Anwalts, um die Abschiebeverfügung anzufechten, werde unnötig erschwert. Absolut keine Rechtsgrundlage sah Horstkotte für die Verhängung von Einzelhaft aus disziplarischen Gründen oder bei der Gefahr von Suizidversuchen. Gerade wenn bei verzweifelten Häftlingen mit einer Selbsttötung gerechnet werden müsse, sei der Kontakt mit ihren "Schicksalsgefährten die beste Prävention". Auch mit Kritik am Amtsgericht Schöneberg sparte Horstkotte nicht. Vermehrt würden Abschiebebeschlüsse mit "Textbausteinen aus dem Computer" verfasst.

Ähnlich schilderte auch der evangelische Pfarrer Ziebarth seine Erfahrungen. Bei ihm sei durch seine seelsorgerische Arbeit in den Abschiebegewahrsamen der Eindruck entstanden, dass die lange Haftdauer in Berlin als Druckmittel auf die Abzuschiebenden missbraucht werde, um deren Mitwirkung an ihrer Identitätsfeststellung zu erreichen. Denn erst wenn diese klar ist, können die erforderlichen Reisepapiere besorgt werden. Gerade bei politischen Flüchtlingen, so Ziebarth, "gibt es keine Pflicht zur Mitwirkung an der eigenen Verfolgung".

Innensenator Eckart Werthebach zeigte sich von den Schilderungen der Sachverständigen allerdings völlig unbeeindruckt. Er wolle zwar niemandem unterstellen, sagte er unter dem Protest von Bündnisgrünen und PDS, mit einer emotionsgeladenen Darstellung "eine Progromstimmung schaffen" zu wollen. "Aber man darf sich von Einzelfällen auch nicht zu sehr beeindrucken lassen." Eine solche Argumentation, hielt ihm der innenpolitische Sprecher der Grünen, Wolfgang Wieland, daraufhin vor, sei in seinen Augen absolut "schäbig".

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Die Tageszeitung 24.10.2000

LANGE HAFTDAUER SETZT FLÜCHTLINGEN AM MEISTEN ZU

Im Innenausschuss kritisierten gestern Sachverständige die Situation in den Abschiebegefängnissen.

Innenverwaltung sieht kaum Handlungsbedarf

Scharfe Kritik an der Situation in den Abschiebegefängnissen gab es gestern im parlamentarischen Innenausschuss. Auf Antrag der PDS waren vier Sachverständige geladen, die in den beiden Abschiebegefängnissen in Tiergarten und Köpenick Häftlinge betreuen. Zu Grunde lag außerdem der Bericht des Beirates für Abschiebegewahrsam. Der Beirat setzt sich aus Mitarbeitern von Wohlfahrtsverbänden zusammen und soll sich für die Interessen der Häftlinge engagieren.

Der Vorsitzende des Beirats, Hartmuth Horstkotte, sagte, nicht die Haftbedingungen, sondern die Haftdauer sei für die Flüchtlinge besonders problematisch. So liegt die durchschnittliche Verweil-dauer nach Angaben der Senatsverwaltung für Inneres bei 21 Tagen. Fünf Prozent der Häftlinge waren länger als 100 Tage im Gewahrsam. Die gesetzliche Höchstgrenze liegt bei 18 Monaten. 1999 waren insgesamt 6.727 Menschen inhaftiert, die abgeschoben werden sollten.

Gerade für Jugendliche sei eine lange Haftdauer eine besonders schwere Belastung, sagte Horstkotte. Flüchtlinge unter 18 Jahren sollten nur "in Ausnahmefällen" in Haft genommen werden, forderte er. Er kritisierte den mangelnden Zugang der Insassen zu professioneller rechtlicher Hilfe und die Einzelhaft, die immer wieder als Sanktion verhängt werde.

Härtere Worte fand Gerhard Leo von der Initiative gegen Abschiebehaft. Er plädierte dafür, dass die Haft ersatzlos abgeschafft werde. Immer mehr Flüchtlinge würden die Nahrung verweigern oder Suizidversuche unternehmen, weil sie ihre Situation als ausweglos empfänden. Im vergangenen Jahr versuchten 12 Menschen sich umzubringen, fast 230 traten in einen Hungerstreik, der durchschnittlich 14 Tage dauerte.

Innensenator Eckart Werthebach (CDU) betonte im Ausschuss, dass die Tätigkeit des Beirats wichtig sei. Die Innenverwaltung kommt der Kritik des Beirats jedoch wenig entgegen. So heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme, dass eine Aussetzung einer Abschiebung nicht in Betracht komme, wenn der Betroffene mit einer Selbsttötung drohe.

Die Innenverwaltung will auch die Praxis der Ausländerbehörde und des Amtsgerichts Schöneberg nicht überprüfen, die für die Einweisung in die Abschiebegewahrsame zuständig sind. Genau das forderte gestern der innenpolitische Sprecher der Grünen, Wolfgang Wieland. In über 90 Prozent aller Fälle wird einer Einweisung in die Abschiebegefängnisse stattgegeben.

Die Gründe für die teilweise sehr lange Haftdauer liegen nach Ansicht der Innenverwaltung bei den Flüchtlingen selbst. Sie würden nicht mit den Behörden bei der Passbeschaffung, die für die Ausreise nötig ist, kooperieren. Oft seien aber auch die Auslandsvertretungen schuld, die monatelang bräuchten, um Papiere auszustellen. So sitzen zum Beispiel UkrainerInnen unverhältnismäßig lange in Haft, weil die Botschaften keine Pässe ausstellen.

Zu einer Aussprache unter den Abgeordneten kam es gestern nicht. Sie soll bei der nächsten Sit-zung nachgeholt werden.

JULIA NAUMANN

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Berliner Morgenpost

Dienstag, 24. Oktober 2000

EXPERTEN ÜBEN KRITIK AN ABSCHIEBEPRAXIS

Die Situation in den beiden Berliner Abschiebegewahrsamen Grünauer Straße (Köpenick) und Kruppstraße (Tiergarten) stand im Mittelpunkt einer Experten-Anhörung gestern im Innenaus-schuss des Abgeordnetenhauses. Dabei übten als Seelsorger dort tätige evangelische und katholische Geistliche, aber auch ein Mitglied der «Initiative gegen Abschiebehaft» teilweise scharfe Kritik an der Praxis für die Abschiebung von Ausländern und an den Haftbedingungen in den Gewahrsamseinrichtungen. Hungerstreiks und Selbstmordversuche von Betroffenen seien alarmierende Anzeichen für unhaltbare Zustände.

Grundlage der Erörterungen war ein Bericht des unabhängigen «Beirates für den Abschiebungs-gewahrsam in Berlin», den dessen Vorsitzender Hartmuth Horstkotte erläuterte. Er äußerte Zweifel daran, dass beim Freiheitsentzug zum Zweck der beabsichtigten Abschiebung in jedem Einzelfall der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird. Im Beirats-Bericht wird gefordert, die Höchstfrist für die Abschiebehaft auf drei Monate zu beschränken. Mütter von Säuglingen oder kleinen Kindern sollten ebenso wie Jugendliche unter 16 Jahren überhaupt nicht in Abschiebehaft genommen werden.

Innensenator Eckart Werthebach (CDU) verwies auf eine Stellungnahme seiner Verwaltung zu dem Bericht. Darin wird unter anderem betont, die Abschiebepraxis werde weitgehend durch Bun-desgesetze geregelt. Die Anordnung von Abschiebehaft erfolge zudem durch ein unabhängiges Gericht.

Heftige Kritik bei der Opposition löste Werthebach aus, als er den angehörten Experten indirekt vorhielt, durch häufig unvollständige Schilderungen von Einzelschicksalen im Abschiebegewahr-sam «eine Pogrom-Stimmung» zu erzeugen. Wolfgang Wieland (Grüne) sagte dazu, damit habe sich Werthebach als Innensenator «selbst disqualifiziert». mei

© Berliner Morgenpost 2000

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Berliner Zeitung 24.10.2000

"UNMENSCHLICH" - EXPERTEN KRITISIEREN ZUSTÄNDE IN ABSCHIEBEHAFT

Vorwurf: Mütter und Kinder werden getrennt / Zu lange Haftzeiten

Gilbert Schomaker

Fünf Tage wusste die Georgierin Frau S. nicht, wo ihr einjähriges Kind geblieben war. Die Polizei hatte die Frau, die über Schleuser illegal nach Berlin gereist war, am Ostbahnhof aufgegriffen. Die Frau landete im Abschiebegewahrsam - ihr Kind ohne ihr Wissen in einem Heim. "Die Frau hatte Weinkrämpfe, als wir sie besuchten", berichtete Schwester Lucia Witte von ihrer Arbeit im Abschiebegewahrsam in Tiergarten. Erst nach fünf Tagen sei es gelungen, das Heim, in das das Kind gebracht worden war, herauszufinden. Schwester Lucia und andere unabhängige Sachverständige kritisierten am Montag vor dem Innenausschuss den Umgang mit Abschiebehäftlingen in Berlin.

In "Fließbandarbeit, viel zu schematisch" urteile das Amtsgericht Schöneberg über die Inhaftierung von Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, sagte Hartmuth Horstkotte vom Beirat Abschiebegewahrsam. Jedem illegalen Einwanderer droht Abschiebung, wenn er nicht als politisch verfolgt anerkannt wird. Um ein Abtauchen zu verhindern, wurden in den vergangenen drei Jahren vom Gericht 24 000 Menschen in die Abschiebegewahrsame nach Köpenick oder Tiergarten eingewiesen. Die Richter urteilten oft nach Aktenlage und hätten im Computer schon passende Textbausteine für die Begründungen, so der Vorwurf im Ausschuss. "Wir haben in vielen Fällen Zweifel, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gewahrt ist", sagte Horstkotte.

Pfarrer Dieter Ziebarth, der seit dem 1. März in Köpenick als Seelsorger tätig ist, warnte vor "psy-chischen Langzeitfolgen" der Haft, die oft sechs Monate und länger dauere. Viele Inhaftierte hätten Kopfschmerzen, seien depressiv und litten unter Schlaflosigkeit. Es gibt keine geregelte Arbeit, keine Freizeitbeschäftigung, nur eine Stunde Freigang am Tag. In Nordrhein-Westfalen arbeiten 40 Prozent der Abschiebehäftlinge und bekommen dafür 10 Mark am Tag. Auch für Rechtsberatung gibt es vom Land Geld. In Berlin helfen Anwälte unentgeltlich.

Innensenator Werthebach (CDU) kritisierte die Äußerungen der Experten als "Stimmungsmache". (sco.)

Warten über Monate // 6 570 Menschen warteten im vergangenen Jahr in Haft auf ihre Abschie-bung. 1997 waren es noch 10 690 Personen.

Durchschnittlich dauert die Abschiebehaft 16 Tage. Besonders bei Algeriern, Indern und Chinesen verzögert sich wegen Pass-Schwierigkeiten die Abschiebung um Monate. Artikel vom 24. Oktober 2000 © 2000 G+J BerlinOnline GmbH