Die
Europäische Union, die Türkei und die Kurden
Am Ende des vergangenen Jahrhunderts, beim EU-Gipfel
in Helsinki am 10. Dezember 1999, wurde zwischen der EU und der Türkei
ein neuer Prozess in Gang gesetzt, indem der Türkei der Status
eines EU-Kandidaten erteilt wurde. Dabei, dass solch eine Beziehung
überhaupt zustande gekommen ist und der Antrag der Türkei
auf Mitgliedskandidatur in der EU angenommen wurde, haben auch die Kurden
eine positive Rolle gespielt und hierzu einen nicht zu unterschätzenden
Beitrag geleistet.
Mittlerweile ist beinahe ein Jahr vergangen, und obwohl die Gespräche
zwischen der EU und der Türkei sich immer mehr intensiviert haben,
sind seitens der Türkei leider keinerlei ernsthafte Bemühungen
erkennbar.
Wie eh und je ist auch heute die Kurdenfrage das Hauptproblem der Türkei,
das auf keine Weise einer Lösung nähergebracht werden konnte.
Ob in der Türkei die Demokratie mit all ihren Institutionen Fuß
fassen kann, die Menschenrechte in ihrer vollen Bedeutung verwirklicht
werden können, die wirtschaftliche Notlage überwunden werden
und das Land auf den Weg der Entwicklung und des Fortschritts gelangen
kann, hängt von der demokratischen und gerechten Lösung der
Kurdenfrage ab und ist eng hiermit verknüpft.
Die Kurdenfrage ist das Problem eines unterdrückten Volkes, das
im Mittleren Osten, nach den Arabern, Türken und Persern, die viertgrößte
Nation bildet und dem sogar seine Grundrechte verwehrt werden. Wenn
eine Nation, wenn ein Individuum noch nicht einmal das Recht hat, sich
zu äußern und artikulieren, wenn seine Sprache, seine Kultur
und seine Geschichte per Gesetz verboten sind, so handelt es sich nicht
um ein Problem, das mit polizeilichen Mitteln gelöst werden kann,
sondern ein Problem der Gleichberechtigung bei den demokratischen Rechten
und Freiheiten.
Im Oktober 1999 haben 60 Intellektuelle aus der ganzen Welt auf Initiative
der türkisch- und kurdisch-stämmigen Schriftsteller Yasar
Kemal, Mehmed Uzun, Ahmet Altan, Orhan Pamuk und Zülfü Livaneli,
darunter auch Günter Grass, Costa Gavras, Harold Pinter, Ingmar
Bergman, Arthur Miller und Elie Wiesel in Istanbul eine Pressekonferenz
abgehalten und einen gemeinsamen Aufruf veröffentlicht. Diese 60
Intellektuellen haben als Gewissen der Welt mit folgenden Worten auf
die offene Wunde hingewiesen: "Die Türkei muss endlich mit
einem für die gesamte Welt und das neue Jahrhundert beispielhaften
demokratischen Schritt die kurdische Frage lösen und ihre kurdisch-stämmigen
Bürgern mit offenen Armen aufnehmen. Wir glauben, dass ein solcher
demokratischer und zivilisierter Schritt die Türkei wirtschaftlich,
sozial und kulturell sehr stärken und bereichern würde".
In Verbindung mit dieser Diagnose verlangten sie möglichst schnelle
Abhilfe: "Bitte befreien Sie die Türkei von dieser Schande.
(...) Versorgen Sie endlich diese soziale Wunde, die seit über
70 Jahren blutet".
Bei der Verankerung von Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung
und Menschenrechten in der Türkei kommt der EU, die diese als unverzichtbare
Grundsätze betrachtet, eine historische Aufgabe zu. Die Erklärungen
der EU-Verantwortlichen und insbesondere des für die EU-Erweiterung
zuständigen Kommissars Günter Verheugen, wonach "ein
EU-Beitritt der Türkei nicht möglich ist, solange die Kurdenfrage
nicht gelöst ist" (Hürriyet, 9.3.00), sind von großer
Bedeutung. Außerdem wird unsere Hoffnung hinsichtlich der Demokratisierung
der Türkei verstärkt durch den Anfang September 2000 veröffentlichten
EU-Bericht und die Tatsache, dass das Europäische Parlament in
seiner Entschließung über die Vergabe von MEDA-Hilfsgeldern
die Bedingung aufgestellt hat, "dass durch die türkische Regierung
die staatliche, rechtliche, politische, kulturelle und soziale Diskriminierung
der kurdischen Bevölkerung beendet wird; die Vergabe der finanziellen
Mittel der EU an die Türkei sollte daher an Schritte zur Lösung
der Kurdenfrage in der Türkei und an besondere Anstrengungen zur
Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Unterentwicklung
in den von der kurdischen Bevölkerung bewohnten Regionen geknüpft
werden."
Es wäre nicht nur für die Türkei, sondern für alle
Seiten das beste, wenn die Türkei während der Beitrittskandidatur
zur EU das im Rahmen der Kopenhagener Kriterien aufgestellte Auflagenpaket
vollständig und ohne Zeit zu verlieren erfüllt.
Als in den Mitgliedsländern der Europäischen Union lebende
und in den Bereichen Literatur, Kultur, Kunst und Wissenschaft tätige
Kurden haben wir versucht, unsere Vorschläge bezüglich der
EU, der Türkei und der Kurden in ihren Grundzügen zusammenzustellen.
In einer Zeit, in der sich für die Türkei die Tore zur EU
zu öffnen beginnen und sich die Verhandlungen zwischen den beiden
Seiten intensivieren, sehen wir es als unsere Aufgabe an, mit einem
bescheidenen Beitrag die geführten Diskussionen um Demokratisierung,
Menschenrechte und -freiheiten zu unterstützen.
· Als erstes muss die Existenz des in der Türkei lebenden
kurdischen Volkes vom türkischen Staat gesetzlich anerkannt werden,
und es müssen Schritte zur Beseitigung der Hindernisse für
die Entfaltung der kurdischen Sprache, Kultur, Identität und des
kulturellen Erbes eingeleitet werden.
· Der Ausnahmezustand sowie das System des Regionalgouverneurments
in den kurdischen Gebieten, die von demokratischen Kreisen und JuristInnen
als undemokratisch bezeichnet werden, müssen aufgehoben werden.
Das Dorfschützersystem, einer der Stützpfeiler des Kriegs
in der Region, muss beseitigt und Kriegsorganisationen wie die Spezialeinheiten
und die JITEM müssen aufgelöst werden.
· Die Menschen, die wegen des Bürgerkriegs ihre Siedlungsgebiete
verlassen mussten oder vertrieben worden sind, müssen entschädigt
und die Voraussetzungen für ihre Rückkehr geschaffen werden.
· Zur Entspannung der politischen Atmosphäre müssen
zunächst alle Intellektuellen, die wegen Art. 8 des Anti-Terror-Gesetzes
und Art. 312 des türkischen Strafgesetzbuches inhaftiert sind,
sowie die gefangenen DEP-Abgeordneten freigelassen werden.
· Um zu einer zivilisierten und demokratischen Lösung der
Kurdenfrage zu gelangen, müssen Bedingungen für eine freie
Diskussion geschaffen werden, an der alle gesellschaftlichen Schichten
teilnehmen können; alle gesetzlichen Hindernisse, die der Presse-,
Meinungs- und Organisationsfreiheit entgegenstehen, müssen aufgehoben
werden.
· Das Zusatzprotokoll 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention
muss unterzeichnet und somit die Todesstrafe abgeschafft werden; die
undemokratischen Staatssicherheitsgerichte müssen aufgelöst
werden.
· Durch eine Generalamnestie müssen alle politischen Gefangenen
freigelassen werden; für die Eingliederung in das gesellschaftliche
Leben müssen besondere Maßnahmen ergriffen werden; ferner
müssen die Voraussetzungen für die Rückkehr der ausgebürgerten
und der zur Flucht ins Ausland gezwungenen Menschen geschaffen und ihnen
all ihre politischen Rechte wieder zuerkannt werden.
· Das Verbot von kurdischen Organisationen und Parteien muss
aufgehoben und das Recht kurdischer Parteien, sich frei zu organisieren,
anerkannt werden.
· Es müssen Voraussetzungen dafür geschaffen werden,
dass die kurdische Sprache in allen Bereichen des Lebens einschließlich
Bildung, Ausbildung, Presse und Publikationen frei verwendet werden
kann. Zur freien Entfaltung der kurdischen Sprache und Kultur müssen
kurdischsprachige Rundfunk- und Fernsehsendungen eingeführt und
kurdischsprachige Presseerzeugnisse ungehindert zugelassen werden. Den
Kurden muss das Recht zuerkannt werden, ihre Gebräuche und Traditionen
frei zu leben; die geänderten Orts- und Landschaftsnamen müssen
wieder in ihrer ursprünglichen kurdischen Form zugelassen werden;
wer es wünscht, muss seinem Kind einen kurdischen Namen geben dürfen.
· Wie bereits der heutige Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer
sowie der Vorsitzende des Kassationshofes Sami Selçuk vorgeschlagen
haben, muss anstelle der undemokratischen Verfassung, deren "Legitimation
beinahe gegen Null geht" und die "einer Polizeisatzung ähnelt"
(S. Selçuk) eine demokratische Verfassung ausgearbeitet werden.
Dabei muss die multikulturelle Struktur der Türkei berücksichtigt
und die Existenz des kurdischen Volkes und der anderen Volksgruppen
sowie der religiösen Minderheiten anerkannt werden; ihre Rechte
sind verfassungsmäßig zu garantieren.
· Bezogen auf die kurdischen Siedlungsgebiete müssen wirtschaftliche
Entwicklungsprojekte und -investitionen eingeführt werden, die
Grenzregionen müssen entmint und diese Ländereien an bedürftige
Bauern verteilt werden. Kurdische Bauern, die von der Landwirtschaft
und Viehzucht leben, müssen finanziell unterstützt werden;
der Grenzhandel darf nicht behindert werden.
· Die kommunalen Verwaltungen müssen gestärkt und die
Schulden der Gemeinden, die unmittelbar durch die Kämpfe und den
Kriegszustand betroffen waren, erlassen werden; diese Gemeinden müssen
bevorzugt aus Sonderfonds und mit anderen vom Haushalt abgezweigten
Mitteln unterstützt werden.
· Die heutige undemokratische Struktur des Nationalen Sicherheitsrats
muss beseitigt und entsprechend den Beispielen aus demokratischen Ländern
verändert bzw. angepasst werden.
Wenn in den oben kurz skizzierten Bereichen demokratische Schritte eingeleitet
und die notwendigen gesetzlichen Regelungen durchgeführt werden,
wird die Türkei von ihrer Schande befreit und das soziale Leben
vielfältiger, dynamischer und reicher werden.
· Die Europäische Union muss die notwendige Sensibilität
und Entschlossenheit zeigen, damit die Türkei sich demokratisiert,
die Kurden die ihnen zustehenden Rechte erhalten und die Region untrennbar
mit der demokratischen Welt vereint wird; und die EU muss in all diesen
Bereichen aktiv dabei mithelfen. Im Verlauf der Beitrittskandidatur
muss die EU bezüglich dieser Themen mit den Kurden in einem ständigen
und regelmäßigen Kontakt stehen, und bei der Lösung
der Probleme müssen auch ihre Meinungen und Vorschläge eingeholt
werden.
· Andererseits muss die EU auch konkrete Schritte zur Gleichstellung
der in den europäischen Ländern lebenden über eine Million
Kurden mit den anderen Migrantengruppen einleiten. In Punkt 25 einer
Entschließung vom 12. Juni 1992 forderte das Europäische
Parlament die Mitgliedsstaaten auf, "den kurdischen Immigrantinnen
und Immigranten in der Gemeinschaft ihre kulturellen Rechte zu gewähren,
ihre Sprache zu fördern, Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer
Sprache zu ermöglichen". Für die Umsetzung solcher Rechte
müssen umgehend Bemühungen unternommen werden.
· Um die Entwicklungen während der Dauer der Beitrittskandidatur
vor Ort zu verfolgen und zu koordinieren, soll auch in Diyarbakir ein
Büro eröffnet werden.
· Die auf Initiative der EU am 27. und 28. November 1998 vom
deutschen Bundeskanzler Schröder und dem damaligen italienischen
Ministerpräsidenten D'Alema sowie ihren Außenministern Fischer
und Dini vorgeschlagene "Europäische Initiative zur Lösung
der Kurdenfrage" muss zwei Jahre danach endlich in die Tat umgesetzt
werden. Die EU muss die Vorreiterrolle bei der Einberufung der in einer
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 3. Dezember
1999 erwähnten "Kurdenkonferenz" übernehmen.
Wir bekunden hiermit, dass wir bereit sind, bei der detaillierten Ausgestaltung
und auch bei der Umsetzung der oben in groben Zügen dargestellten
Forderungen alle uns zufallenden Aufgaben zu übernehmen. Außerdem
möchten wir nochmals die lebenswichtige Bedeutung der Beachtung
der Grundrechte des kurdischen Volkes beim EU-Prozess betonen.
Auf Einladung von Mehmed Uzun (Schriftsteller), Ahmet Kahraman (Journalist,
Schriftsteller), Sivan Perwer (Künstler), Nizamettin Ariç
(Künstler, Schauspieler), Remzi Kartal (Ehem. DEP-Abgeordnete),
Derwês M. Ferho (Schriftsteller), Hüseyin Kartal (Schriftsteller)
und Mehmet Sahin (Menschenrechts- und Friedensaktivist) unterstützen
folgende Personen die obige Deklaration: Abdulkadir Konuk (Schriftsteller,
Journalist); Abdullah Demirkapi (Künstler); Abdullah Uzun (Schriftsteller);
Ahmet Alim (Schriftsteller); Ahmet Karatas (Politiker); Ali Yalçin
(Politiker); Ali Yigit (Ehem. DEP-Abgeordnete); Amed Demirhan (Schriftsteller,
Journalist); Anter Anter (Politiker); Aziz Kosgin (Friedensaktivist);
Bedirhan Epözdemir (Schriftsteller); Beser Sahin (Künstlerin);
Brader Mûsîkî (Künstler); Burhan Elturan (Schriftsteller);
Burhan Karadeniz (Journalist); Cahit Merwan (Journalist); Emekçi
Bender (Künstler); Erdal Gezik (Historiker, Schriftsteller); Eyüp
Burç (Journalist); F. Melik Aykoç (Schriftsteller); Dr.
Fahrettin Adsay (Arzt, Menschenrechtler); Dr. Faik Savas (Politiker);
Feleknas Uca (MdEP); Felemez Basboga (Politiker); Ferda Çetin
(Journalist); Fevzi Özmen (Betriebswirt); Giyasettin Sayan (Mitglied
des Abgeordnetenhauses von Berlin); Prof. Dr. Haci Akman (Etnolog, Universitär
Bergen/Norwegen); Hamdullah Kansiray (Jurist); Hanefi Celepli (Politiker);
Hasan Bildirici (Journalist, Schriftsteller); Hasan Sezgin (Lehrer);
Hasan Taskale (Lehrer, Dichter); Haydar Diljen (Lehrer, Schriftsteller);
Haydar Isik (Schriftsteller); Hêlin Evrim Baba (Mitglied des Abgeordnetenhauses
von Berlin); Hikmet Serbilind (Politiker); Hüsamettin Aslan (Lehrer);
Imam Kiliç (Journalist); Kazim Baba (Lehrer, Politiker); Kemal
Astare (Schriftsteller); Kemal Görgü (Schauspieler); Kerim
Yildiz (Menschenrechtler); Lokman Polat (Schriftsteller); Mahmud Lewendi
(Schriftsteller); Masallah Öztürk (Politiker); Medeni Ferho
(Journalist, Schriftsteller); Mehmet Seker (Lehrer, Schriftsteller);
Mehmet Tanriverdi (Menschenrechtler); Memo Yetkin (Lehrer); Mesut Uysal
(Rechtsanwalt); Musa Aksoy (Maler); Musa Kaval (Jurist); Mustafa Demir
(Rechtsanwalt); Mûrad Ciwan (Schriftsteller); Nejdet Buldan (Politiker,
Schriftsteller); Nizamettin Toguç (Ehem. DEP-Abgeordnete); Nuh
Ates (Schriftsteller); Ökkes Ünlübayir (Journalist);
Prof. Dr. Rasit Tepe (Physiker, Technische Universität Berlin);
Riza Baran (Lehrer, Politiker); Riza Erdogan (Journalist); Rojan Hazim
(Schriftsteller, Journalist); Sabri Agir (Journalist, Schriftsteller);
Salih Sahin (Rechtsanwalt); Selim Firat (Schriftsteller); Seyit Ali
Bayrak (Künstler); Süleyman Danisman (Maler); Dr. Süleyman
Ergün (Arzt); Serafettin Kaya (Rechtsanwalt); Sêxo Kartal
(Künstler); Sükrü Alkan (Sprachwissenschaftler); Sükrü
Yildiz (Journalist, Schriftsteller); Xemgin Birhat (Künstler);
Zinarê Xamo (Schriftsteller); Zübeyr Aydar (Ehem. DEP-Abgeordnete)
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Mehmet Sahin, Postfach 90 02 65, D-51112 Köln, Tel: 0049-2203-126
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