XENION
Psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte
Roscherstraße 2a
10629 Berlin
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Presseerklärung

Polizei stürmt mit gezogenen Waffen die Berliner Therapieeinrichtung für Folteropfer XENION - jugendlicher kurdischer Flüchtling stürzt sich aus Angst vor Abschiebung in Panik aus dem Fenster und erleidet lebensgefährliche Verletzungen

Am Freitag, den 24.11.00, verletzte sich der kurdische Jugendliche Davut K., der unsere psychotherapeutische Beratungsstelle für politisch Verfolgte, XENION, aufgesucht hatte, lebensgefährlich auf der Flucht vor einem Einsatzkommando der Berliner Polizei. In Panik stürzte er sich drei Etagen tief aus dem Fenster der Beratungsstelle, als Polizisten mit gezogenen Waffen die Beratungsstelle stürmten. Davut K. gehört zum Personenkreis von durch Folter schwer traumatisierten Flüchtlingen.

Der siebzehnjährige Davut K., Kurde aus der Türkei und als politischer Flüchtling nach Deutschland gekommen, wurde auf Bitten des Ausländerbeauftragten der Stadt Bitterfeld wegen manifester psychischer Symptome aufgrund schwerer Folterungen in der Türkei in der Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Folteropfer XENION behandelt. Er hatte dort am 24.11. um 10.00 Uhr einen Behandlungstermin. Gegen 10.30 Uhr kam er in sehr aufgeregtem Zustand in der Beratungsstelle an und erklärte sein verspätetes Erscheinen mit einer Fahrkartenkontrolle, die ihn aufgehalten habe. Dabei seien ihm seine Papiere abgenommen worden, darunter auch die aktuelle Terminvereinbarung. Er befürchtete, dass er in die Türkei abgeschoben würde. Bei der Ankündigung, dass man die Polizei rufen werde, ergriff er daher die Flucht und begab sich zu XENION. Der Jugendliche fürchtete, dass die Polizei ihm folgen könne, da eine Vereinbarung des Behandlungstermins mit Anschrift der Einrichtung, Datum und Uhrzeit bei den einbehaltenen Papieren war. Nach übereinstimmender Einschätzung des behandelnden Therapeuten und einer kontaktierten Rechtsanwältin sollte dies jedoch nicht als Grund für eine Fahndung ausreichen und es gelang zunächst, den Jugendlichen zu beruhigen.

Kurze Zeit darauf klingelte es am Hauseingang. Polizei stand vor der Tür und verlangte Einlass in die Einrichtung. Herr Koch, der behandelnde Psychotherapeut und Leiter der Einrichtung, empfing zwei Polizeibeamte im Treppenhaus, um den Grund für den Besuch zu erfahren. Da er zur Erklärung lediglich die Auskunft erhielt, dass es Hinweise dafür gäbe, dass sich eine gesuchte Person in den Räumen der Beratungsstelle aufhielte und auf ausdrückliches Verlangen weder ein Haftbefehl noch ein schriftlicher Fahndungsbefehl, noch ein Durchsuchungsbefehl vorgelegt wurde, verweigerte Herr Koch den Beamten unter Hinweis auf sein Hausrecht und den besonderen Charakter von XENION als psychotherapeutische Einrichtung für traumatisierte Flüchtlinge den Zutritt zu den Räumen und unter Berufung auf seine Schweigepflicht als behandelnder psychologischer Psychotherapeut die Auskunft darüber, wer sich in den Räumen aufhalte. Nachdem sich die Beamten zunächst abweisen ließen, klingelte es einige Zeit später erneut an der Eingangstür der Beratungsstelle. Nachdem nicht sofort geöffnet wurde, wurde gegen die Eingangstür gehämmert oder getreten, sodass der Eindruck entstand, die Tür werde eingetreten. Herr Koch öffnete erneut die Tür, um mit den 5 oder 6 Polizistinnen und Polizisten zu sprechen. Trotz erneuter Weigerung des Leiters, den Beamten ohne Rechtsgrundlage Zutritt zu den Räumen zu gewähren und trotz deutlicher Warnung hinsichtlich der Gefährdung von Klienten von XENION, drängten die Polizisten in den Eingangsbereich der Beratungsstelle. Als ein Geräusch zu hören war, drangen Polizeibeamte laut schreiend mit gezogenen Waffen überfallartig in die Therapieeinrichtung ein. Herr Koch ersuchte sie sofort die Waffen einzustecken und erklärte sich angesichts dieser bedrohlichen Situation bereit, sie durch die Räume zu führen, aber ohne Erfolg. Die Beamten stürmten brüllend mit Waffen in der Hand die Räume, trotz der Hinweise auf mögliche Panikreaktionen von Klienten. Im Therapieraum fand sich der Betreffende aber nicht. Daraufhin zogen sich die Polizisten wieder in den Eingangsbereich zurück. Eine Beamtin öffnete dort das Fenster zum Lichthof und entdeckte den schwer verletzten Davut K.

Noch während des Einsatzes, als das Ausmaß des Schadens abzusehen war, wurden die Mitarbeiter der Einrichtung beschuldigt, die Verantwortung für den Vorfall zu tragen. Selbst dem Dolmetscher, der mit dem Verletzten sprach und sich bis zum Abtransport ins Krankenhaus um ihn kümmerte, wurden Platzverweis und Festnahme angedroht.

Mittlerweile haben wir durch eine Presseerklärung der Polizei erfahren, dass der Klient ohne gültigen Fahrtausweis unterwegs gewesen sein soll und dass Herr Koch wegen Behinderung polizeilichen Ermittlungen und unterlassener Hilfeleistung strafrechtlich belangt werden soll.

Davut K. floh vor einer drohenden Haftstrafe und erneuter Folter in der Türkei. Nach mittlerweile bestätigten Angaben ist er dort zu 11 Jahren und sechs Monaten Haft ver-urteilt worden. Die Angst vor Abschiebung motivierten seine Verzweiflungstat und be-schäftigten ihn sogar noch als er schwer verletzt im Lichthof lag. Der Anwalt habe darüber hinaus in dieser Woche die Bestätigung der Echtheit der vorgelegten Dokumente belegen können, die das Gericht, welches sein Asylverfahren bearbeitete, bisher ungeprüft als Fälschungen betrachtet hatte. Die Einsatzleitung trägt die Verant-wortung für die tragischen Folgen ihres Einsatzes. Wir weisen den zynischen Versuch, dem Leiter der Einrichtung diese Schuld zuweisen zu wollen, aufs Schärfste zurück.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtung sind bestürzt und entsetzt über das Vorgehen der Polizei. Der Tatvorwurf des Fahrens ohne gültigen Fahrtausweis an den Jugendlichen steht in keinem Verhältnis zum wissentlichen und gewaltvollen Eindringen in die Räume einer Therapieeinrichtung für Folteropfer. Die ausdrücklichen Warnungen des Leiters der Einrichtung und seine Hinweise der besonderen Schutzbedürftigkeit der Einrichtung und der dort behandelten Patienten zu übergehen, betrachten wir als gefährlich, grob fahrlässig und jenseits aller Verhältnismäßigkeit. Es ist unerklärlich, wieso die Beamten die Aufforderungen des behandelnden Therapeuten und Leiters der Einrichtung ignorierten und sich offensichtlich ohne ausreichende Rechtsgrundlage mit Gewalt Zutritt verschafften. Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, zu klären, wie es zu den eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen und den derart unverhältnismäßigen Übergriffen kommen konnte. Die von den Polizeibeamten aufgefundene Terminkarte der Beratungsstelle XENION hätte andere Formen der Ermittlung zur Folge haben müssen, als das überfallartige Vorgehen des Einsatz-kommandos. Erfahrenen und besonnenen Beamten müsste bekannt sein, dass Menschen, die sich einer psychotherapeutischen Behandlung nach schwerer Trau-matisierung unterziehen, nicht in der Lage sind, eine derartige retraumatisierende Belastung auszuhalten.

Wir befürchten, dass ohne grundsätzliche Änderungen in der Einstellung der Polizei gegenüber politisch verfolgten Flüchtlingen und gegenüber therapeutischen Schutzräumen für Opfer von Folter und politisch motivierter Gewalt, sich derartige Vorfälle wiederholen können. Menschen, die aufgrund von Verfolgung und Folter an behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankungen leiden, sind keine gefährlichen Kriminellen.

Die Aufgabe von XENION ist die psychotherapeutische Behandlung und Beratung politisch verfolgter Flüchtlinge und Folteropfer. Für diese Arbeit engagieren sich die Mitglieder des Trägervereins und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von XENION. Für seine Arbeit wird der Verein vom Berliner Senat, der Europäischen Union und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR finanziell unterstützt und genießt seit Jahren hohe Anerkennung für seine fachliche Arbeit und sein humanitäres Engagement. Polizeiaktionen wie am 24. November zerstören nicht nur die physische und psychische Gesundheit einzelner Flüchtlinge und die Arbeitsgrundlage von XENION, sie zerstören auch die das humanitäre Klima in unserem Land und dieser Stadt. Auch und gerade die politisch Verantwortlichen, die noch Anfang dieses Monats zum "Aufstand der Anständigen" aufriefen, sind zur Stellungnahme und zum Handeln aufgerufen, ggf. auch dazu, die Polizei dieser Stadt in ihre Schranken zu weisen.

Berlin, den 27.11.2000 M. Schmude (Vorsitzender)