Die Äußerungen von Menschenrechtsorganisationen und zivilgesellschaftlicher Einrichtungen in der Türkei über die Menschenrechtslage, sowie den politischen Entwicklungen in ihrem Land, werden zunehmend dramatischer. Alarmierend ist auch das zunehmende Desinteresse in der europäischen Öffentlichkeit gegenüber dem aktuellen Negativtrend in der Türkei. Auch die Aussicht auf eine dauerhafte Beendigung des türkisch-kurdischen Konfliktes und ein gesellschaftlicher Frieden gerät zusehendst in die Defensive. Der Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) Diyarbakir, Osman Baydemir, welcher sich zu Gesprächen mit Vertretern aus Politik und NGO`s auf einem Kurzbesuch in der Bundesrepublik Deutschland befand, bestätigte diese negative Entwicklung und zeichnete ein drastisches Bild von der politischen Lage in der Türkei. Die freie Journalistin Karin Leukefeld führte mit Osman Baydemir am 13.1.2001 das nachfolgend dokumentierte Gespräch, Jutta Hermanns sorgte für die Übersetzung. -------------------------------------------------------------------------------- Trotz der Verlegung der Gefangenen nach dem Militärsturm auf die Gefängnisse in der Türkei werden die Hungerstreiks und das Todesfasten von einer großen Zahl von politischen Gefangenen fortgesetzt. Liegen dem IHD gesicherte Angaben über das Ausmaß der anhaltenden Protestaktion und die Situation der Gefangenen vor? Alle politischen Gefangenen wurden aus den verschiedenen Haftanstalten in 5 Gefängnisse des sog. F-Typs verlegt. Zum Beginn der Operation waren die Gefangenen im 61. Tag des Todesfastens. Heute ist beim Todesfasten der 84. Tag erreicht. 355 politische Gefangene sind im Todesfasten und über eintausend in einem unbefristeten Hungerstreik. Gibt es in der Türkei noch mehr als diese fünf F-Typ-Gefängnisse? Bei diesen fünf Gefängnissen sind die Neubauten fertiggestellt. Es befinden sich aber noch weitere F-Typ-Gefängnisse im Bau, deren Fertigstellung in der nächsten Zukunft ansteht. In Diyarbakir, das den hohen technischen Standards des F-Typ-Gefängnisses entsprechen wird, rechnen wir mit der Fertigstellung in drei Monaten. Dann ist auch dort mit den ersten Belegungen zu rechnen. Insgesamt gibt es 48 Gefängnisse die entweder durch Neubau oder durch Umbau zu F-Typ-Gefängnissen gemacht werden. Außer den 5 bereits fertiggestellten Gefängnissen werden in der Region mit vorwiegend kurdischer Bevölkerung an den Gefängnissen in Midyat, Mardin, Antep, Mus, Maras und Elbistan Umbauten vorgenommen. In Siirt, Batman und Erzurum sind die Umbauten schon fertig und dort wurden schon Gefangene untergebracht. Ist dem IHD bekannt, wo welche Gefangenen nun sind? Konnten die Anwälte ihre Mandanten, die Familien ihre Angehörigen besuchen? Erst eine Woche nach Beginn der Operation legte das Justizministerium Listen vor, in denen Namen der Gefangenen und ihr neuer Aufenthaltsort angegeben waren. Solange wussten weder die Menschenrechtsorganisationen, noch die Anwälte, noch die Angehörigen, wo sich die verschleppten Gefangenen befanden. Nach wie vor konnten 11 Gefangene weder vom IHD noch von den Angehörigen ausfindig gemacht werden. Wie wird nach Ihnen gesucht? Wir schreiben an die zuständigen Staatsanwaltschaften, wir stellen Anträge an das Justizministerium und fragen nach ihnen. Wir gehen in alle Gefängnisse, um sie zu finden. Das Justizministerium erkennt den IHD aber nicht als offiziellen Ansprechpartner an, daher haben wir bisher keine einzige Antwort erhalten. Wir gehen im Moment davon aus, dass diese 11 Gefangenen sich irgendwo in Krankenhäusern befinden. Ist es nicht üblich, dass in solchen Fällen wenigstens die Angehörigen von den Ärzten informiert werden? Die Situation im ganzen Land ist sehr angespannt. Es herrscht Todesangst bei allen, die irgendwie involviert sind. Auch die betroffenen Ärzte haben keinen Mut, Informationen zu geben. Dazu kommt, dass die Gesetzeslage eine Information nicht vorsieht. Gefangene stehen unter staatlicher Kontrolle, d.h. in diesem Fall ist das Justiz- oder das Gesundheitsministerium zuständig. Und von dort gibt es keine Auskunft. Es heißt, dass es viele Festnahmen gab und gibt, Niederlassungen des IHD wurden in verschiedenen Städten geschlossen? Mit dem Tag der Operation in den Haftanstalten haben wieder die Waffen das Sagen, nicht nur in den Haftanstalten. Die ganze Gesellschaft ist von Gewalt und Anspannung beherrscht. Das ist eine unakzeptable Situation. Auf allen Organisationen der zivilen Gesellschaft lastet ein ungeheurer Repressionsdruck. Die Vertretungen des IHD in Bursa, Izmir, Antep, Malatya, Van und Konya sind geschlossen worden. Die Aktivisten des IHD, die in Istanbul und Ankara zu Pressekonferenzen eingeladen haben und dort Erklärungen verlesen, werden festgenommen, wenn auch nur vorübergehend. Der Angriff auf die Gefängnisse ist noch keineswegs beendet, sondern wird fortgesetzt. Heißt das, der Angriff auf die Gefängnisse und die Gefangenen richtet sich gegen die gesamte demokratische Bewegung? Im vergangenen Jahr war das Klima in der Türkei nicht von Gewalt und Waffen geprägt. Die demokratischen Kräfte hatten Auftrieb und zivile Organisationen begannen mit einer Diskussion über die Durchsetzung von Menschenrechten, Demokratie und einen wirklichen gesellschaftlichen Frieden. Diese Diskussion wurde auf allen Ebenen der Gesellschaft geführt. Sogar offizielle Vertreter des Staates beteiligten sich daran. Mit der Operation vom 19.12. wurde diese Situation von einer Sekunde auf die andere beendet. Das genau war auch ein Ziel, die Diskussion über die Demokratisierung in der Türkei sollte gestoppt werden. Alle Menschen, die sich für einen gerechten gesellschaftlichen Frieden einsetzen wollten, wurden und werden damit unter Druck gesetzt und bedroht. Die Aussage ist: hört auf damit. Und das geschieht zu einem Zeitpunkt, wo die EU die Aufnahme der Türkei als Vollmitglied diskutiert. Bestimmte Forderungen wurden an die Türkei gestellt, wie z.B. die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien, die Einhaltung bestimmter Menschenrechtsstandards und eine strukturelle Erneuerung des Staates. Die Militäroperation ist auch eine Antwort auf diese ganzen Forderungen. Der Angriff hat so deutlich wie nie zuvor gezeigt, dass der bestimmende Faktor über Entwicklung und Dynamik des zivilen Lebens, jeglichen Lebens in der Türkei der Militarismus ist. Die militärische Gewalt hat sich durchgesetzt. Alles, was zum damaligen Zeitpunkt die Tagesordnung der Regierung bestimmt hat, ist von einem Moment auf den anderen kein Thema mehr. Direkt nach dem Angriff begann das Militär sehr offen, sich gegen die EU zu äußern. Sie wandten sich gegen das Aufnahmeprogramm der EU, es begann eine richtige Gegenpropaganda. Die Operation richtete sich also nicht nur gegen Proteste gegen die Einführung der F-Typ-Gefängnisse, es ging nicht nur um die Durchsetzung des F-Typ-Gefängnisses. Es ging faktisch darum, alle Menschen, alle Organisationen und Institutionen zu treffen, die sich für eine strukturelle Demokratisierung als Lösung der bestehenden Probleme in der Türkei eingesetzt haben. Und es geht weiter. Insbesondere die Situation im Nordirak, wo massiv militärische Kräfte zusammengezogen wurden und wo die Gefahr eines neuen Krieges besteht, ist ein zweites Standbein dieser Militäroperation. Als Menschenrechtsaktivisten befürchten wir das Schlimmste für die nahe Zukunft. Wie immer, werden sich diese Entwicklungen dort, wo vorwiegend Kurden und Kurdinnen leben, sehr negativ auswirken. Das bekommen wir jetzt schon zu spüren. Gab es gegenüber dem IHD auch positive Zeichen, die den Rückschluss zulassen, dass Europa an seinen Forderungen festhält und die demokratischen Kräfte in der Türkei unterstützen wird? Für uns als IHD sind die Menschenrechte unteilbar und universal. Wir erwarten generell, dass dort, wo Menschenrechte mit Füssen getreten werden, die Internationale Gemeinschaft sich einsetzt. Egal auf welchem Fleck der Erde sich so etwas abspielt. Leider sind unsere Erwartungen völlig enttäuscht worden. Ich muss sagen, wir haben uns so allein gelassen gefühlt, wie noch nie zuvor. Die Gründe wissen wir nicht, aber sowohl von offizieller staatlicher Seite, als auch von Nichtregierungsorganisationen sind wir wirklich allein gelassen worden. Vielleicht lag es an der Argumentation des Staates, mit der die Operation vertreten wurde? Es könnte auch sein, dass im Westen die Meinung herrscht, die Situation in den Gefängnissen sei unhaltbar. Aber es wird übersehen, dass die politischen Gefangenen in der Türkei nun völlig isoliert wurden. Schließlich hat die Operation zum Tod geführt. Der Staat hat seine totale Macht bewiesen. Er entscheidet, wer stirbt oder nicht. Vielleicht wird im Westen auch gesagt, dass Einzelzellen nützlich und vertretbar sind. Aber die eigentliche Logik des Staates während dieser Operation wird dort nicht erkannt und die lautet: "Egal wie viele Tote es gibt, egal wie viel Folter, wir setzen durch, was wir wollen." Die Folterungen, die Vergewaltigungen, das Urinieren auf die Köpfe der Gefangenen, dass man sie gezwungen hat, die Stiefel von Soldaten abzulecken, alles das wird im Westen nicht wahrgenommen. So eine Situation, ist durch nichts zu rechtfertigen. Handelt es sich um eine Machtoperation des Militärs die besagt, wir bestimmen hier die Politik? Oder gab es Zeichen aus den Parteien, sich dem militärischen Vormarsch entgegen zu stellen? Die Militärputsche in der Türkei wurden nie beendet. Der IHD hat immer wieder darauf hingewiesen, dass sowohl das soziale Leben als auch die Politik entscheidend von den Militärs bestimmt wird. Im letzten Monat hat diese Situation gefährliche Ausmaße erreicht. Jede Stellungnahme der zivilen Regierung wird umgehend von den Militärs kommentiert und dementiert. Dafür gibt es etliche Beispiele. Die zivile Regierung hatte erklärt, man könne über die Einführung kurdischer Medien diskutieren. Sofort gab der Große Generalstab eine Gegenerklärung ab. Als Staatspräsident Ecevit in Nizza war, um an den Gesprächen über den Beitritt zur Europäischen Union teilzunehmen, gab der Große Generalstab noch am gleichen Tag eine äußerst anti-europäische Erklärung ab. Vor kurzem äußerte sich der Staatspräsident zu dem Einmarsch türkischer Soldaten im Nordirak, umgehend kam das Dementi des Großen Generalstabs. Das Militär verhält sich gerade so, als sei es eine politische Partei, und zwar in Opposition zur Regierung. So etwas hat es vorher nicht gegeben. Niemand aus den politischen Parteien, schon gar nicht aus der zivilen Regierung, wehrt sich dagegen. Die ANAP, die unter Führung von Mesut Yilmaz einen sehr Europa nahen Kurs einnimmt, äußert sich zu all den Vorgängen fast gar nicht. Sie ordnen sich dem Militär unter und das macht die Gefährlichkeit der heutigen Situation deutlich. Wenn Sie, trotz der schlechten Erfahrungen, einen Aufruf an die Regierungen in Europa, an die demokratischen Institutionen, die Nichtregierungsorganisation machen wollten, Herr Baydemir, was würden Sie ihnen sagen? Als aller Erstes rufen wir jeden Menschen auf, alles in seiner Kraft stehende zu tun, um das Sterben zu beenden. Es darf nicht noch mehr Tote geben. Dieser Aufruf geht von uns, vom IHD, in erster Linie an den türkischen Staat. Er richtet sich aber auch an die Gefangenen selbst, die sich im Todesfasten befinden. Das zweite, betrifft die reale Situation in der Türkei. Jegliche Form von Demokratisierung ist dort in weite Ferne gerückt. Europa, die Staaten Europas und die ganze Öffentlichkeit ist gefordert. Beobachterdelegation aus den Parlamenten sollten möglichst umgehend in die Türkei kommen und dort mit den Menschenrechtsorganisationen und mit den Regierungsvertretern Kontakt aufnehmen. Wir sind der festen Überzeugung, dass das hiesige Desinteresse, das Schweigen, die Türkei immer weiter von der Europäischen Union wegtreibt. Der Demokratisierungsprozess, den wir alle dort in der Türkei als große Hoffnung in uns tragen, die Annäherung an Westeuropa rückt in weite Ferne. Wenn das europäische Desinteresse anhält, wird sich der Militarismus in der Türkei neu etablieren und die Türkei wird sich mehr in Richtung des Mittleren Ostens orientieren. Wir haben eine schwere Zeit vor uns. International Initiative Freedom for Ocalan - Peace in Kurdistan
- Freier Abruck und Gebrauch erwünscht, jedoch nur mit der vollen Namensnennung der Internationalen Initiative -
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