Newroz
in Diyarbakir
Bericht von der studentischen Newroz-Delegation 2001
Von
Nick Brauns, München
"Newroz
in Amed", das war das Ziel der ersten Studierendendelegation nach
Kurdistan. Vom 16. bis 23. März 2001 beteiligten sich 14 deutsche
und kurdische Studierende aus Frankfurt a.M., München, Berlin,
Leipzig, Trier und Bremen an der vom Verband der StudentInnen aus Kurdistan
(YXK) organisierten Reise. Kulturelle Ereignisse standen ebenso auf
dem Programm, wie die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und der
Besuch von Parteien und Massenorganisationen. Vor allem sollte der Erfahrungsaustausch
mit Studierenden der Dicle-Universität von Diyarbakir ermöglicht
werden, bei denen wir auch wohnten.
Die
Studierenden, mit denen wir uns trafen, sind alle Aktivisten der kurdischen
HADEP-Partei. Die HADEP sei eine sozialdemokratisch orientierte Partei,
erläuterte uns ein Mitglied der HADEP-Stadtleitung von Diyarbakir.
In ihr seien Sozialisten ebenso aktiv, wie gläubige Moslems. Vor
allem ist die HADEP eine kurdische Volkspartei, deren Hauptziele Frieden,
Demokratie, Menschenrechte für die gesamte Türkei sowie die
Anerkennung der kurdischen Identität sind. Die HADEP verfügt
auch über einen Frauen- und einen Jugendverband.
Obwohl die HADEP eine legale Partei ist, werden ihre Mitglieder und
Funktionäre immer wieder von der Polizei verhaftet und auch gefoltert.
Erst vor wenigen Wochen sind in Silopi die zwei HADEP-Funktionäre
Tanis und Deniz nach ihrer Vorladung auf die Polizei "verschwunden".
Man geht davon aus, dass sie von der Konterguerilla ermordet wurden.
Überall in der Stadt sehen wir Plakate mit ihren Bildern.
Seit zwei Jahren stellt die kurdische Partei den mit 70% der Stimmen
gewählten Bürgermeister von Diyarbakir, Feridun Celik. Die
Gesetze der Türkischen Republik zwingen Celik, hinter seinem Schreibtisch
das Bild Kemal Attatürks und die türkische Fahne aufzuhängen.
Der kurdische Bürgermeister ist ein Symbol des Willens der Bevölkerung,
aber noch liegt die tatsächliche Macht bei den bewaffneten Kräften.
In mehreren Städten wurde die HADEP am Wahlkampf gehindert und
gewählte HADEP-Bürgermeister wurden einfach durch den Gouverneur
entlassen.
Im Gewerkschaftshaus der Föderation KESK sahen wir eine Tafel mit
Dutzenden Bildern ermordeter Gewerkschaftsfunktionäre der letzten
Jahrzehnte. Die Gewerkschafter klagten, dass auch heute noch ihre Aktivisten
in die Verbannung in andere Landesteile geschickt würden. Häufig
werden kurdische Lehrer in mittelanatolische Dörfer verbannt, die
von der faschistischen MHP dominiert werden. So soll die Organisierung
kurdischer Arbeiter und Angestellter verhindert werden.
Der
Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD von Diyarbakir, der nach langem
Verbot seit Oktober wieder geöffnet hat, berichtete uns, dass systematische
Folter in den Gefängnissen weiterhin alltäglich sei. Nach
dem Rückzug der Guerilla aus der Türkei und der Verkündung
des Friedensplan der PKK seien die offenen Menschenrechtsverletzungen
durch Armee und Polizei etwas zurückgegangen. In der Gesellschaft
habe eine breite Debatte über die Demokratisierung des Landes eingesetzt,
die sich selbst in den nationalistischen Medien wiederspiegle. Doch
seit drei Monaten sei diese positive Entwicklung mit einem Schlag abgebrochen.
Es häuften sich die Angriffe auf Organisationen der Zivilgesellschaft.
In Ankara wurde erstmals der Menschenrechtsverein IHD verboten. In Diyarbakir
und anderen Städten wurden studentische Kulturzentren geschlossen.
Die Erstürmung der Gefängnisse durch die Armee, bei der im
Dezember 32 hungerstreikende politische Gefangene ermordet wurden, das
"Verschwindenlassen" der beiden HADEP-Funktionäre und
die Ermordung des bei der Bevölkerung beliebten Polizeipräsidenten
von Dyiarbakir Gaffar Okan durch den Geheimdienst hat den Friedensprozess
momentan zu Erliegen gebracht.
Das Dilemma, in dem sich die Demokratiebewegung befindet, besteht darin,
dass zwar von den Organisationen der Zivilgesellschaft über die
HADEP-Partei bis zum Unternehmerverband Tüsyad und selbst dem Staatspräsidenten
eine Demokratisierung des Landes gewünscht wird, aber die Gegner
des Friedensprozesses in den bewaffneten Verbänden von Armee, Polizei
und Mafiabanden zu finden sind. Diese Kriegsgewinnler versuchen mit
Attentaten und Drohungen eine Demokratisierung zu verhindern, weil sie
in einer demokratischen Türkei ihren Einfluss einbüssen würden.
Große Hoffnung wird von den türkisch-kurdischen Demokraten
daher weiterhin auf Druck aus dem Ausland, vor allem aus der EU gelegt.
In den kurdischen Gebieten herrscht immer noch Ausnahmezustand. Das
Wort des Gouverneurs gilt als Gesetz. An nahezu jeder Straßenecke
in Diyarbakir befindet sich entweder eine Polizeistation oder eine Kaserne.
Außerhalb der Stadt gibt es alle paar Kilometer Militärposten.
Seit der durch die PKK eingeleitete Friedensphase sind einige dieser
Posten nicht mehr besetzt und nicht mehr alle Fahrzeuginsassen müssen
jedes Mal aussteigen und sich durchsuchen lassen, wie vor zwei Jahren
noch. Aber die Armee bleibt überall präsent. Mehrmals am Tag
fliegen F-16 und Phantom-Jäger im Tiefflug über die Stadt.
Unter ihren Flügeln sind Bomben zu erkennen. Die Kampfflugzeuge
erinnern daran, dass die Türkei im Nordirak einen massiven Angriff
auf die dorthin zurück gezogene PKK-Guerilla vorbereitet.
Reichtum
an Völkern und Kulturen
"Glücklich
ist, wer sich Türke nennen kann", "Ein Türke zählt
soviel, wie die Welt" und "Das Vaterland ist unteilbar"
- diese Parolen schmücken nicht nur die Eingänge von Behörden
und Polizeistationen, sondern sind in metergroßen Buchstaben auch
weithin sichtbar an den Berghängen angebracht. Nach der kemalistischen
Ideologie zählt allein das Türkentum als Kulturnation. Andere
Kulturen und Völker innerhalb der Grenzen der türkischen Republik
werden verachtet, wie die Armenier und Assyrer, oder ihre Existenz wird
gänzlich geleugnet, wie im Fall der Kurden. Mesopotamien, die Wiege
der Menschheit, hat bis heute einen einzigartigen Reichtum an Völkern,
Kulturen und Religionen erhalten und blickt auf ein vielfältiges
Erbe der Jahrtausende zurück. Im Tur Abdin, der Region um Mardin
nahe der syrischen Grenze können wir uns selber von dieser kulturellen
Vielfalt überzeugen. In der Stadt Midyat mit 25.000 Einwohnern
gehört ein Fünftel dem christlichen Glauben an. Darunter sind
Armenier ebenso, wie Syrianer und andere christlich-orthodoxe Strömungen,
die sich während der Religionsstreitigkeiten in der Spätantike
herausgebildet haben und sich vor der Verfolgung durch die Amtskirche
hierher zurückgezogen haben. Bedeutende christliche Klöster
wie das Mar Gabriel befinden sich in dieser Region. Ein Drittel der
Bevölkerung von Midyat besteht aus Arabern. Auch die Yezidi, die
älteste Religion des Kurdentums, sind in diesem Landesteil noch
anzutreffen. Die verschiedenen Volksgruppen können friedlich und
respektvoll zusammenleben, solange sie nicht von den Herrschenden gegeneinander
aufgehetzt werden.
In Gesprächen mit den kurdischen Studenten fällt uns immer
wieder ein tiefes Geschichtsbewusstsein auf. Die Studenten begreifen
das historische Erbe aller Völker Mesopotamiens, der Araber, Kurden,
Assyrer, Juden, Armenier etc. als Teil ihrer Geschichte und Herkunft.
So gehören dem HADEP-Studentenverband neben Kurden auch Angehörige
anderer Minderheiten wie der Lasen und Armenier an. "Ich habe mich
der HADEP und nicht einer türkischen linken Partei angeschlossen,
weil ich für die Befreiung aller Völker in der Türkei
kämpfen will", erklärte uns ein türkischer Student.
Kemalistische
Kulturbarbareien
Aus
ihrer Vergangenheit, die sich in erhaltenen Baudenkmälern ebenso
wiederspiegelt, wie in den Bräuchen, Sprachen und Religionen der
Gegenwart schöpfen die Völker Mesopotamiens heute ihre Identität.
Daher gilt die Feindschaft der kemalistischen Machthaber nicht nur den
Menschen in Kurdistan, sondern auch dem kulturellen Erbe. Bewusste Zerstörung
von Kulturgütern der Menschheit geht einher mit dem langsamen Zerfall
dieser einzigartigen Werke vergangener Epochen.
Die berühmte schwarze Stadtmauer von Diyarbakir ist stellenweise
in einem schlechten Zustand. "Wir würden sie gerne restaurieren",
erklärte uns Bürgermeister Feridun Celik von der HADEP, "Aber
die Mauer ist Eigentum des Kultusministeriums und der zuständige
Minister erlaubt uns nicht, die Mauer instand zu setzen."
In der Nähe von Silvan sahen wir eine Felswand mit Hunderten ehemaligen
Wohnhöhlen. Viele Jahrhunderte befand sich hier eine Stadt. Eine
am Straßenrand liegende Patronenhülse, eines AK-47 Gewehrs
zeigte uns, dass auch die Guerilla vor ihrem Rückzug diese Höhlen
nutze. Heute befinden sich kilometerweite Müllberge vor der Höhlensiedlung.
Die türkischen Behörden lassen den Müll hier abladen,
um die Bewohner der umliegenden Dörfer von ihrem historischen Erbe
abzuschneiden und diesen Ort zu schänden.
Ein neuer Höhepunkt der kemalistischen Kulturbarbarei droht die
geplante Vernichtung der mittelalterlichen Stadt Hasankeyf zu werden.
Sollte der im Rahmen des GAP-Projektes geplante Ilisu-Staudamm errichtet
werden, werden die eindruckvollen Pfeiler der steinernen Tirisbrücke
aus der Aturkiden-Zeit ebenso unter den Fluten eines Stausees verschwinden,
wie die vielen in der Felswand erbauten Höhlenwohnungen und die
direkt aus dem Fels erbaute Burg. Viele Bewohner von Hasankeyf haben
für wenige Tausend Mark Entschädigung bereits freiwillig ihre
Wohnungen geräumt. Für diese Menschen ist dies eine gigantische
Geldsumme. Sie denken nicht daran, dass dieses Geld bald aufgebraucht
sein wird, wenn sie arbeitslos in den Slums von Diyarbakir leben. "Hoffentlich
ist der Staudamm bald fertig", zischte uns ein Zivilpolizist zu,
der misstrauisch unsere Gruppe beäugte. Auch mit deutschen Hermes-Bürgschaften
soll der Ilisu-Damm erbaut werden. Ob diese Gelder von der Bundesregierung
freigegeben werden, hängt auch von unseren Aktivitäten in
Deutschland ab. Noch ist Hasaskeyf zu retten.
Newroz
Zwei
Millionen Menschen feierten in der ganzen Türkei am 21.März
ihr Newroz-Fest. In 18 Städten und Orten, darunter in Istanbul,
waren die Feierlichkeiten allerdings verboten worden.
Nachdem sich bereits im letzten Jahr 200.000 Menschen zu einer gewaltigen
Kundgebung für Frieden, Freiheit und Demokratie versammelt hatten,
wurde das Newroz-Fest in Diyarbaykir mit einer halben Millionen Teilnehmer
zu bislang mächtigsten Kundgebung des kurdischen Volkes. Die Behörden
hatten das Fest nur auf dem 10 km von der Stadt entfernt liegenden Messegelände
genehmigt. Wäre der Festplatz in der Stadt gewesen, hätten
sicherlich eine Millionen Menschen gefeiert.
Obwohl das Fest genehmigt war, wurden wenige Tage vor dem 21.März
über 70 Studenten der Dicle-Universität, die an den Newroz-Vorbereitungen
beteiligt waren, verhaftet. In den letzten Jahren waren auch viele der
studentischen Freunde, bei denen wir wohnen, kurz vor oder während
dem Fest in Untersuchungshaft genommen und dort misshandelt worden.
Schon frühmorgens fuhren wir zusammen mit Hunderttausenden aus
der Stadt zum Festplatz. 4000 Fahrzeuge brachten die Menschen von 30
Sammelpunkten zum Fest. Alles, was Räder hat, wurde als Transportmittel
eingesetzt - Kleinbusse, Motorräder, Traktoren, Baulastwagen und
sogar Bagger waren bis oben hin mit singenden Menschen beladen. Viele
trugen ihre Folklorekostüme. Die kurdischen Farben rot-gelb-grün
waren allgegenwärtig.
Bis neun Uhr früh stoppte die Polizei, die mit Schützenpanzerwagen
auf den Zufahrtsstrassen anwesend war, Hunderte von Autos, um die Insassen
zu durchsuchen. Dann kapitulierten die Uniformierten vor dem Massenansturm
und ließen alle Fahrzeuge ungehindert durch.
Eine gewaltige Menschenmenge hatte sich um eine Newroz-Feuer, das einer
olympischen Fackel gleicht, versammelt. Um den Festplatz waren traditionelle
kurdische Zelte als Sonnenschutz aufgebaut. Überall wehten die
gelben Fahnen der HADEP mit dem blauen Schmetterlingssymbol. "Weder
Verleugnung noch Separatismus sondern Demokratische Republik" lautete
ein zentrales Transparent der HADEP. Lange, bevor das Fest offiziell
eröffnet war, tanzten die Menschen Halay. Auch wir reihten uns
ein.
Zwei Düsenjäger der türkischen Luftwaffe, die im Tiefflug
über den Festplatz donnerten, um die Feiernden daran zu erinnern,
dass es noch eine andere Realität in Kurdistan gibt, wurden ausgepfiffen.
Tausendfach ertönt der Ruf "Biji serok Apo!" - "Es
lebe der Vorsitzende Öcalan!" Die Verbundenheit der Massen
mit dem vor zwei Jahren auf die Gefängnisinsel Imrali verschleppten
PKK-Vorsitzenden ist allgegenwärtig zu spüren.
"Der Weg zur Einheit, zur Gemeinsamkeit und Geschwisterlichkeit
führt auch über Diyarbakir", erklärte der HADEP-Vorsitzende
Murat Bozlak und kritisiert die Regierung in Ankara, die sich bisher
jeder politischen Lösung entgegenstellt. "Die Demokraten in
der Türkei werden unseren Friedenswunsch Antwort geben. Es ist
nicht mehr notwendig, auf die Regierung zu warten. Wir müssen uns
mit den Demokraten in der Türkei vereinigen und auf die Macht losmarschieren.
Deshalb, wenn Ihr noch schönere, noch freiere Newrozfeiern erleben
wollt, kommt und vereinigt Euch mit der HADEP."
Grußworte gab es von den Vorsitzenden der türkischen Linksparteien
ÖDP und SIP, der PDS-Europaabgeordneten Felek Uca, dem IHD-Ehrenvorsitzenden
Akin Birdal und einer Vielzahl weiter in- und ausländischer Gäste.
Neben unserer studentischen Delegation waren deutsche Freunde aus Hamburg
und Delegationen aus Italien, Frankreich, Russland, Belgien und Holland
anwesend um den friedlichen Verlauf des Festes zu beobachten.
Bei strahlendem Sonnenschein feierten die Menschen bis in den Nachmittag.
Zurück in die Stadt fuhren wir auf der Ladefläche eines offenen
Baulasters entlang an Polizei-und Militärkasernen. Wir sangen revolutionäre
Lieder und über uns wehte die Fahne der HADEP. Immer wieder ertönten
Hochrufe auf Abdullah Öcalan. Es ist, als wären wir in einem
befreiten Kurdistan. Doch schlagartig brachen die Parolen und Lieder
ab. Wir waren an der Stadtgrenze angelangt. Zwei an der Straßenkreuzung
aufgefahrene Schützenpanzer und Scharfschützen auf einem Hausdach
holten uns in die Realität zurück. Wir haben die eindrucksvolle
Manifestation eines in seinem Wunsch nach Frieden und Demokratie vereinigten
Volkes erlebt, aber wir befanden uns immer noch in einem besetzten Land,
in dem die kurdische Identität geleugnet und die Menschen als "Terroristen"
verfolgt werden. Wie Sinnlos diese Leugnung ist, musste selbst der Korrespondent
der nationalistischen Hürriyet am folgenden Tag anerkennen: "Man
kann die Tatsache nicht leugnen, das Hunderttausende von Menschen aus
allen Ecken der Region kamen, um voller Freude in Diyarbakir "Nevruz"
zu feiern. [...] Wenn wir uns unter unsere kurdischen Bürger mischen,
während sie "Nevruz" feiern, werden wir erkennen, dass
der wirkliche Grund für diese Feiern die Tatsache ist, dass sie
existieren."
"Erzählt
in Deutschland, was ihr hier gesehen habt", baten uns die Studierenden
der Dicle-Universität zum Abschied. "Denkt daran, dass der
Kampf gegen den Faschismus international ist." In diesem Sinne
werden wir in Deutschland weiter gegen die deutsche Militärhilfe
für die türkische Armee, gegen die Kredite für das zerstörerische
GAP-Projekt und gegen das PKK-Verbot eintreten. Und wir hoffen, unsere
kurdischen Kommilitonen bald einmal in Deutschland begrüßen
zu dürfen.