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Hamburg, 10. Juni 2001

Wir dokumentieren aus Özgür Politika vom 10.06.2001 Osman Öcalan, Mitglied des Präsidialrates der PKK

‚Spielt nicht den tauben Sultan'

Wie Osman Öcalan, Mitglied des Präsidialrates der PKK, vorgestern in einem telefonischen Beitrag zur kurdischsprachigen Sendung ‚Rews' bei MEDYA TV erklärte, arbeitet der türkische Staat daran, die entstandene Hoffnung auf Frieden zu vernichten: "Wenn die neu entstandene Hoffnung auf eine Lösung des Problems nicht erfüllt wird, wird der kurdische nationale Aufstand noch stärker, breiter und härter werden." Osman Öcalan gab eine umfassende Erklärung zu den jüngsten Entwicklungen in Kurdistan und der Türkei ab. Dabei ging er auch auf die Tötung von 20 Guerillaangehörigen der Volksverteidigungskräfte am 22. Mai in der Nähe von Bingöl durch die türkische Armee und die an verschiedenen Punkten Nordkurdistans durchgeführten Militäroperationen ein. In verschiedenen Gebieten Nordkurdistans befänden sich kleine Guerillaeinheiten, weil nach wie vor keine Lösung der kurdischen Frage erbracht worden sei, so Öcalan: "Im Norden sind kleine Guerillaeinheiten vorhanden. Sie führen keine Aktionen gegen den Staat durch, machen keine Angriffe, aber trotzdem respektiert der Staat unseren Waffenstillstand nicht. Wie wir wissen, wurde vor ein paar Wochen in Bingöl ein Angriff gegen die Guerilla durchgeführt. Zwanzig Angehörige unsere Guerilla sind dabei gefallen. Das ist für uns von grosser Wichtigkeit. Warum wird gegen diese Menschen, die keine Gefahr darstellen, ein Vernichtungszug gestartet? Es werden wieder die gleichen Fehler gemacht." Weiter richtete Öcalan die Aufmerksamkeit auf die angestiegene Repression gegen demokratische Institutionen in der Türkei, so z.B. gegen HADEP: "Die Repression gegen HADEP hat sich verschärft. Es finden ständig Festnahmen und Verhaftungen statt. Das zeigt, dass nicht einmal Arbeiten innerhalb des gesetzlichen Rahmens gewollt werden."

Intifada-Warnung
Öcalan rief alle Zuständigen der Republik Türkei und insbesondere die militärisch Verantwortlichen dazu auf, nicht den ‚tauben Sultan' zu spielen. Zur Zeit werde versucht, die mit dem von der PKK seit zweieinhalb Jahren entwickelten Projekt Demokratische Republik entstandenen Hoffnungen auf Frieden und Chancen auf eine Lösung zu vernichten: "Auch sie wissen sehr genau, dass wir ausdauernd sind in unserem Waffenstillstand. Aber ich muss sagen, dass auch unsere Ausdauer Grenzen hat. Wenn diese Grenze weiterhin verletzt wird, wird auch die Ausdauer zu Ende gehen. Zum einen wird der Volksaufstand verstärkt und verbreitert werden, zum anderen werden diese einseitigen Angriffe nach bestimmter Zeit beantwortet werden. Wenn die neu entstandene Hoffnung auf eine Lösung des Problems nicht erfüllt wird, wird der kurdische nationale Aufstand noch stärker, breiter und härter werden. Darauf machen wir ein weiteres Mal aufmerksam." Aus der Hoffnungslosigkeit könne wie in der palästinensischen Intifada ein noch stärkerer und umfassenderer Aufstand entstehen, so Öcalan: "Wir betonen ein weiteres Mal, dass der Weg, den ihr verfolgt, nicht der richtige Weg ist. Der Wille des kurdischen Volkes kann nicht ignoriert werden. Spielt nicht den ‚tauben Sultan'. Es ist niemand mehr da, den ihr täuschen könnt. Wie an Newroz 2001 zu sehen war, können in Amed 500 000 Menschen zusammenkommen. Millionen von Menschen können aufstehen. Und sie befinden sich in einem Aufstand. Ein Volk, das soweit gekommen ist, wird keine Verleugnungs- und Vernichtungspolitik mehr akzeptieren. Es wird sich nie mehr beugen."

Sezers wirkliches Gesicht
Auf die Frage, was er über die Besuche des Staatspräsidenten der Türkei, Ahmet N. Sezer, vergangene Woche in Kurdistan denke, erklärte Öcalan: "Seit Herr Sezer gewählt wurde, waren alle Augen auf ihn gerichtet, auch die der Kurden. Jeder hat sich gefragt, ob er wohl neue Möglichkeiten eröffnen kann, eine Lösung für die nationalen und gesellschaftlichen Fragen der Türkei finden kann oder nicht. Deshalb war sein Kurdistanbesuch die Gelegenheit, das wahre Gesicht des Staatspräsidenten zu erkennen. Was wir sehen konnten, waren Militärs, vor ihm, hinter ihm, rechts und links von ihm. Es war ein sehr unangenehmes Bild. Er bewegte sich wie eine Person, die eingekreist ist und deren Grenzen klar festgelegt sind. Die Nachricht, die sich für die Kurden daraus ergeben hat, ist: ‚Erwartet nichts von ihm. Wir haben seine Umgebung eingekreist, und aus dieser Umzingelung kann er nicht hinaus. Er wird tun, was auch immer wir wollen.' Wie bekannt ist, hat er nicht zum Volk gesprochen und kein Wort über die aktuelle Tagesordnung der Türkei verloren. Was das Resultat betrifft, wäre es besser gewesen, anstelle von Sezer eine Statue Kurdistan besuchen zu lassen. Das Szenario macht deutlich, dass sie die Hoffnungen, die sowohl in der Türkei als auch in Kurdistan mit der Person des Staatspräsidenten verbunden sind, vernichten wollen. Es ist klar geworden, dass er für das kurdische Volk nichts tun wird und nichts tun kann."

Mehr Politik und Diplomatie
Weiter äusserte Öcalan, es müsse von kurdischer Seite begriffen werden, dass die internationalen Kräfte, wie die EU-Länder und insbesondere Deutschland und England, die bei Krisen wie beispielsweise in Bosnien und Mazedonien sofort Delegationen bilden und sich auf die Suche nach Lösungsmöglichkeiten machen würden, der viel umfassenderen kurdischen Frage gegenüber gleichgültig bleiben und darüber hinaus versuchen, entwickelte Friedensvorschläge ins Leere laufen zu lassen. Selbst wenn eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei, im Iran, in Syrien und Irak gewollt werde, könne dies nicht ohne die Erlaubnis internationaler Kreise stattfinden: "Wir sagen nicht, dass wir gegen diese internationalen Kräfte Krieg führen sollten, aber wir sollten sie in die Lösung einbeziehen. Wo immer es eine Plattform gibt, sollten wir in die Tagesordnung eingreifen und mit ihnen diskutieren. Darum haben wir mit der Kampagne ‚Identitätsbekenntnis' auf den Gerichten begonnen. Damit soll die Tür zur Diskussion eröffnet werden." Öcalan forderte eine stärkere Einwirkung der Kurden in Politik und Diplomatie: "Hier fällt dem kurdischen Volk eine grosse Rolle zu. Das kurdische Volk darf uns nie aus dem Blick verlieren. Wer von sich sagt, dass er Politik macht, Kader ist, muss auch belegen, wie er seinen Tag auswertet und was er jeweils im politischen, diplomatischen, juristischen Bereich vollbracht hat. Hier muss sich die Kritik des Volkes intensivieren. Das Volk muss die Kader zur Arbeit zwingen. Niemand darf sich zu keiner Zeit bequem zurücklehnen. Die Kurden müssen sich unbedingt auf die weltweite Tagesordnung bringen. Die kurdische Diplomatie muss einerseits freundschaftliche Grundlagen sichern, auf der anderen Seite seinen Kampf gegen die internationalen Kräfte, die über Kurdistan herrschen, führen. (...)" Politik werde nicht nur mit wahren Worten gemacht, so Öcalan: "Die anderen Stützen sind Organisation und Aktion. Wenn sie gemeinsam auftreten, ist es richtig. Leider begnügen sich so einige kurdische Politiker damit, das Richtige nur zu sagen."

Ohne Lösung im Norden keine Lösung im Süden
In einer Bewertung der in letzter Zeit stattfindenden Diskussionen zu Südkurdistan erklärte Osman Öcalan: "Wenn die Frage im Norden nicht gelöst wird, wird sie auch im Süden nicht gelöst werden." Die fortgesetzten Widersprüche zwischen USA und Türkei zum Thema Saddam-Regime und Südkurdistan hätten beide Mächte miteinander konfrontiert: "Die USA haben in Jugoslawien militärisch interveniert, in der Türkei ökonomisch. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird angestrebt, die wirtschaftliche Krise weiter zu vertiefen und somit die Türkei auf den gewünschten Weg zu bringen." In Bezug auf die Führer der kurdischen Organisationen aus dem Süden und insbesondere der PUK, die in der Türkei ein- und ausgehen, erklärte Öcalan: "Die Türkei empfiehlt ihnen, gegen die PKK zu kämpfen. Diesbezüglich müssen wir wiederholt warnen: In diesem Spiel kommt für die Kurden kein Gewinn heraus. Wer auch immer Druck ausübt, zwischen den Kurden soll kein Krieg stattfinden. Es sollten Schritte zum Frieden unternommen werden. Gegenüber der Türkei bleiben sie immer schwach." Der Kampf des kurdischen Volkes habe einen Punkt erreicht, an dem es keinen Rückzug mehr gebe. Aus diesem Grund seien die Kurden aufgefordert, sich heute mehr als je zuvor politisch zu verhalten: "Im Rahmen des KNK kann eine gemeinsame und zeitgenössische Politik ausgeübt werden. Wir haben im Süden viele Schritte unternommen, unsere Kräfte aus verschiedenen Gebieten zurückgezogen und sogar unsere demokratischen Rechte nicht zur Anwendung kommen lassen, damit kein Problem entsteht. An diesem Punkt ist ein Gewissen notwendig. In dieser Zeit muss Bewegung entstehen. Wir wenden uns insbesondere an die PUK. Auch wenn sie keinen Frieden machen, sollten wir uns doch nicht bekriegen."