Kurdistan Informations-Zentrum
Kaiser-Friedrich-Str. 63
Postfach 12 11 22
10 605 Berlin

Tel: (49) 030-32764023
Fax: (49) 030-32764025
e-mail:KurdistanIZ@aol.com
internet: www.nadir.org/kiz/

 

Berlin, 10. Oktober 2001


Sind die Verfassungsänderungen in der Türkei wirklich ein Fortschritt?

Interview mit einem HADEP-Vertreter und Hintergrundinformation über die Bedeutung der Gesetzesveränderungen anhand einiger Beispiele

In diesem Monat hat das Türkische Parlament in 34 Artikeln der türkischen Verfassung einige Veränderungen vorgenommen. Sowohl die Türkei als auch die internationalen Institutionen (z.B. Europarat) und die internationalen Medien begrüßten diese Veränderungen lautstark als wichtige Schritte in Richtung Demokratisierung. Doch von vielen demokratischen Kräften und zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei werden diese Veränderungen nicht mit solchem Jubel begrüßt, sondern vielmehr als oberflächliche Korrekturen bewertet.

Im Folgenden geben wir ein kurzes Interview mit Kemal Okutan, Mitglied des Parteirates der HADEP, über die jüngsten Verfassungsänderungen in der Türkei wieder. Diesem Interview folgt eine kurzer Einblick in die Bedeutung der o.g. Verfassungsänderungen anhand einiger konkreten Beispiele.

Frage: Wie bewerten Sie die Verfassungsänderungen in der Türkei? Sind diese
Veränderungen tatsächlich wichtige Schritte für die Demokratisierung und zur Lösung der Probleme der Türkei, wie dies von verschiedenen Seiten behauptet wird?

K. O.: Die Teilveränderungen in der türkischen Verfassung entsprechen nicht den Sehnsüchten der Gesellschaft nach einer modernen demokratischen, freiheitlichen und pluralistischen Verfassung. Wenn auch die Veränderungen im Vergleich zu vorher eine gewisse Entwicklung darstellen, beantworten sie nicht die Bedürfnisse der Türkei und entsprechen nicht den sozio-kulturellen Erfordernissen des Landes. Offenbar dienen sie allein dem Ziel, in der Phase der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft keinen Bruch sichtbar werden zu lassen. Deshalb wurde auch nicht auf die innere Dynamik der Gesellschaft reagiert. Das Bedürfnis der Türkei sind nicht kleine Teilveränderungen, sondern der Ersatz der Verfassung vom 1982 durch eine vollständig neue Verfassung.

Frage: Worin bewerten Sie diese Gesetzesänderungen positiv bzw. negativ? Was hat diese Veränderungen für das kurdische Volk gebracht?

K. O.: Wie wir bereits erwähnt haben, können diese Veränderungen auf den ersten Blick als positiv gesehen werden, doch erwartet die Gesellschaft in der Türkei eine neue, moderne und demokratische Verfassung. Auch die Kurden erwarten nichts anderes. Es wird zwar von einem Veröffentlichungsrecht auch in anderen Sprachen außer dem Türkischen gesprochen, doch wird die kurdische Sprache nicht explizit benannt. Dies ist ein Mangel, der zu praktischen Problemen führen wird. Auch die Tatsache, dass die Todesstrafe nicht vollständig abgeschafft wurde, stellt ein großes Hindernis für die Demokratisierung dar. Auch müssen die Anpassungsbestimmungen für die Teilgesetzesänderungen noch verabschiedet werden, um wenigstens die neuen Veränderungen umsetzen zu können.

Frage: Inzwischen ist die Rede von einem weiteren Entwurf der Verfassungsänderung. Es sieht so aus, als würde die Verfassung restauriert werden, statt eine neue Verfassung auszuarbeiten und zu verabschieden. Sind Sie der Meinung, dass diese Verfassung restaurationsfähig ist?

K. O.: Die Forderung und die Erwartung der demokratischen Kräfte in der Türkei, in erster Linie die unserer Partei, ist eine neue Verfassung. Der große Beitrag Anatoliens und Mesopotamiens für die Zivilisation ist bekannt. Die Demokratische Türkische Republik, die nur durch die Etablierung pluralistischer Strukturen in der Türkei, in erste Linie einer neuen Verfassung, entstehen kann, wird in der modernen Welt eine wichtige Funktion ausüben können. Erst eine solche, auf dem inneren Frieden basierende Demokratie wird im Stande sein, auch einen Beitrag für den Weltfrieden zu leisten. Nur die von uns angestrebte Rechtsreform kann die eigentliche Sicherheit und Einheit begründen.


* * *


Bedeutung der Gesetzesveränderungen anhand einiger Beispiele

Der siebte Absatz des Anfangskapitel der türkischen Verfassung "Kein Gedanke und keine Meinung darf gegenüber den türkischen Nationalinteressen, dem Existenzprinzip, das der türkische Staat mit seinem Hoheitsgebiet und seinem Volk ein unteilbares Ganzes bildet, der Geschichte des Türkentums und seiner moralischen Werte sowie gegenüber dem Nationalismus, den Prinzipien und der Zivilisation Atatürks keinen Schutz genießen" wurde geändert, indem "Keine Gedanken und Meinung" mit "keine Aktivität" ersetz wurde. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Veränderung nur ein formelles ist, denn das Schreiben eines Buch oder einer Kolumne, d.h. seine Gedanken mit anderen Mitteln zur Sprache zu bringen, sich zu Versammeln und zu organisieren stellt eine Aktivität dar. Die Artikel 13 und 14 der Verfassung wurden auf eine ähnliche Weise wie im vorhergehenden Beispiel geändert. Bei diesen Artikeln wurden zudem mehrere Einschränkungen hinzugefügt. Im Artikel 26 wurde zwar der folgende Satz gestrichen "Eine Sprache, die das Gesetz untersagt, darf bei der Äußerung und Verbreitung von Gedanken nicht gebraucht werden.", aber dies hat keine praktische Bedeutung. In der Türkei gibt es gegenwärtig viele Gesetze, die ein ähnliches Verbot aussprechen. In vielen Artikeln der Verfassung, im Strafgesetz und vor allem im Artikel 8 des Anti-Terror-Gesetzt (vom 12.04.1991), ist die Gedankenäußerung als Vergehen festgelegt. Viele Menschen, darunter Wissenschaftler und Schriftsteller befinden sich aufgrund ihrer Gedankenäußerungen in türkischen Gefängnissen.

Das Verbot der kurdischen Veröffentlichungen und der kurdischen Bildung hält weiterhin an:
In Artikel 28 der türkischen Verfassung wurde der folgende Satz gestrichen: "In Veröffentlichungen darf keine Sprache gebraucht werden, die durch das Gesetz verboten ist". Auch diese Veränderung hat keinen praktischen Wert. In einigen Presseorganen wird diese Veränderung so interpretiert, als wäre das Verbot der kurdischen Sprache aufgehoben. Dem ist aber nicht so. Sowohl in der Verfassung als auch in anderen Gesetzen sind noch immer Verbote die Kurden und die kurdische Sprache betreffend in Kraft.

Der Absatz 9 in Artikel 28 der Verfassung, in dem es heißt: "In den Erziehungs- und Unterrichtsanstalten darf türkischen Staatsbürgern keine andere Sprache als Türkisch als Muttersprache gelehrt oder im Unterricht verwendet werden." wurde nicht verändert und hat demnach weiterhin Gültigkeit.

In Artikel 4 des Gesetz Nr. 3984 über Rundfunk und Fernsehen (von 13.04.1994), heißt es: "Es ist verboten, Sendungen in anderen Sprachen außer der Türkischen Sprache auszustrahlen, ausgenommen die Fremdsprachen die einen Beitrag zur Entstehung von universellen Kultur- und Wissenschaftswerten geleistet haben."

In Artikel 81 des Parteiengesetzes Nr. 2820 (vom 22.04.1983), heißt es: "Politische Parteien dürfen nicht behaupten, dass es in der Türkischen Republik Minderheiten gibt, die sich auf Religions-, Kultur-, Sekten-, Rassen- oder Sprachenunterschiede gründen. Politische Parteien dürfen keine Aktivitäten entfalten, um andere Sprachen oder Kulturen als die türkische zu verbreiten und somit durch Schaffung von Minderheiten die Einheit der Nation zu gefährden. Politische Parteien dürfen in Satzungen, Programmen, auf Kongressen und Versammlungen keine andere Sprache als das Türkische verwenden. Sie dürfen Plakate, Schallplatten, Ton- und Videobänder, Broschüren und Erklärungen in keiner anderen als der türkischen Sprache verteilen. Sie dürfen gegenüber derartigen Aktionen dritter nicht gleichgültig bleiben (...)"

Wenn auch durch jüngst vorgenommene Veränderungen in der Verfassung die Anwendung der Todesstrafe zum Teil begrenzt wurde, so wurde diese jedoch nicht abgeschafft.

Verkürzung der Incommunadohaftzeit (Polizeihaftzeit), die Gleichstellung von Mann und Frau, Schutz der Intimsphäre, Arbeitsschutz und die zum Teil erschwerte Parteischließung sind zweifelsohne positive und notwendige Veränderungen, die jedoch den Lösungsweg für die eigentlichen Probleme des Landes nicht ebnen.