Informationsstelle
Kurdistan e.V.
Hamburg, den 29. Oktober 2001 Wir dokumentieren die Presseerklärung des "Rechtsbüro des Jahrhunderts" (Asrin Hukuk Bürosu) Istanbul, eine Mitschrift aus dem Gespräch Abdullah Öcalans mit seinem AnwältInnen vom 24. Oktober 2001 auf der Gefängnisinsel Imrali. Übersetzung aus dem Türkischen
Das 21. Jahrhundert wird eine neue Zivilisationsstufe darstellenIn meiner Eingabe [an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof EuMRGh] habe ich die Widersprüche des Mittleren Ostens umfassend bearbeitet. Darin kommen Analysen zum Irak vor; von seinen historischen Anfängen bis heute, also seit den Sumerern, die aus dem heutigen Irak hervorgegangen sind, ist dieses Land eine Wiege der Zivilisation. Mit der [ersten] Klassengesellschaft bei den Sumerern hat diese geografische Region Geschichte hervorgebracht. Auch heute wieder nährt sich die Geschichte aus dem Tigris- und Euphrat-Becken und drängt auf einen demokratischen Aufbruch im Irak hin. Die Bedingungen treiben rapide auf diesen Punkt zu. Die noch von den Sumerern stammende theokratische Ideologie hat sich seit 5000 Jahren über die Freiheitsideale der Völker hinweggewalzt und sich zum Nachteil der Völker entwickelt. Heute nährt sich aus dieser Zivilisation, die wir auch als blutrünstige Zivilisation bezeichnen können, der Nationalismus der Baath-Partei, der arabische Nationalismus. Die KurdInnen haben 5000 Jahre lang Massaker erlebt, ebenso wie andere Völker auch. Die auf dem Klassenwiderspruch beruhende Zivilisation, also die blutrünstige Zivilisation, hat sich entfaltet. In meiner Eingabe bin ich diesen Prozess auf mythologischer, philosophischer und historischer Ebene angegangen und habe versucht, zu schöpferischen Ergebnissen zu kommen, ohne mich von der wissenschaftlichen Methode zu lösen. Dadurch ist es mir gelungen, die kurdische Frage, die Frage Mesopotamiens und des Mittleren Osten voll und ganz zu erfassen. Ich bin zu dem Ergebnis gelangt, dass die Geschichte jetzt Veränderungen unausweichlich macht. Es
waren die Widersprüche des Mittleren Ostens, die zu den Angriffen
auf die USA geführt haben. Die Widersprüche zwischen der arabischen
und jüdischen sowie der semitischen und der indo-europäischen
Kultur sind über New York explodiert. [Anm.: Im Einklang mit der
Frühgeschichtsforschung rechnet Öcalan die arabisch/jüdische
Kultur zu einer der beiden Hauptkulturgruppen des Mittleren Ostens von
seinen historischen Anfängen bis heute. Auch die heute nur noch gering
vertretene assyrisch-aramäische Kultur zählt zur semitischen
Sprachfamilie und Kulturgruppe. Eine zweite Hauptkulturgruppe und Sprachfamilie
ist die indo-europäische, zu der z.B. die KurdInnen und PerserInnen
gehören. Öcalan geht also beim arabisch-jüdischen Konflikt
von einem historisch noch ungelösten Konflikt innerhalb einer Kulturgruppe
aus, der gleichzeitig in bestimmten Konfliktkonstellationen zwischen der
semitischen Kulturgruppe und den nicht-semitischen Völkern des Mittleren
Ostens steht. Konkret ist damit gemeint, dass der heutige arabisch-israelische
Konflikt und die kurdische Frage miteinander verflochten sind.] Die gleiche Situation gilt auch für die TürkInnen. Im Grunde genommen werden sie sich ihrer eigenen Geschichte erst seit neuestem bewusst. Zwischen der türkischen Kultur Anatoliens und der kurdischen Kultur Mesopotamiens gibt es Verbindungen, die aus der Geschichte herrühren. Das muss die Türkei endlich einsehen. Genauso wie primitiver kurdischer Nationalismus ein Hindernis [im Sinne der Verständigung] darstellt, ist auch der primitive türkische Nationalismus ein Hindernis, welcher überwunden werden muss. Der primitive türkische Nationalismus kann als ein ethnischer Nationalismus bezeichnet werden. Anstelle von ethnischem, religiösem Nationalismus muss sich eine demokratische türkische Tendenz entwickeln. Es ist wohl mittlerweile klar geworden, dass man mit der türkisch-islamischen Synthese nirgendwo hinkommt. [Anm.: Eine von türkischen Nationalisten unter Berufung auf das osmanische Kalifat konstruierte Theorie, nach der der Islam in seiner Synthese mit der türkischen "Rasse" zu seinem eigentlichen Höhepunkt findet und einen Herrschaftsanspruch über andere Kulturen erheben kann. Diese Ideologie ist sowohl bei der islamistischen als auch bei der faschistischen Bewegung in der Türkei nach wie vor weit verbreitet.] Auch der Nationalismus der Ittihat und Terakki [Anm.: Einheit und Fortschritt, bürgerlich-nationalistische Reformbewegung, aus der Mustafa Kemal Atatürk hervorgegangen ist] hat der Türkei nur geschadet. Ethnischer Nationalismus kann die TürkInnen niemals zusammenbringen und nutzt der Türkei überhaupt nicht. Weder innere noch äussere Bedingungen lassen das zu. Wenn die Türkei einen Aufbruch erleben will, muss sie sich um die Formierung einer demokratischen Republik bemühen, die sich an folgenden Grundsätzen orientiert: einen Patriotismus, der sich auf die anatolische Zivilisation bezieht, das Miteinander der Völker und Respekt für die jeweils andere Kultur, sowie auf politischer Ebene Einheit mit den KurdInnen. Wenn das nicht gelingt, wird die Türkei ihre politische und wirtschaftliche Krise niemals überwinden können. Um diese Krise zu überwinden, braucht es eine Absage an jene Politik, die auf Kriegsprofite aus ist, es braucht politische Leitfiguren mit Mut, mit einem Verständnis von wirklichem Patriotismus und vor allem braucht es einer geschichtlichen Perspektive. Die Situation der KurdInnen lässt sich mit einer Unterteilung in drei Haupttendenzen beschreiben: Es gibt die versklavten KurdInnen, deren Welt seit 5000 Jahren verfinstert ist. Ihr Zustand lässt sich auch als objektives Kurdentum bezeichnen. Jeder kann sie nach Belieben benutzen, sie haben keinen eigenen Willen. Dann gibt es das Kurdentum der Staaten, die staatlicherseits erschaffenen KurdInnen, die kollaborierenden KurdInnen. Sie sind päpstlicher als der Papst und stellen eine Gruppe dar, die als ein Hindernis vor einer Lösung der kurdischen Frage steht. Ihre Funktion besteht darin, den Mittleren Osten und die Türkei in einem undemokratischen Zustand zu halten, indem sie eine Lösung der kurdische Frage verhindern. Drittens gibt es jene, die Freiheit wollen. Im Grunde genommen haben die KurdInnen geschichtlich gesehen viel Widerstand geleistet. Vieles an diesem Widerstand ist sehr bedeutungsvoll, doch hat er niemals sein Ziel erreicht. Dieser Widerstand hat nie zu einer theoretischen Selbstanalyse geführt, er hat es nicht zu Schrift, Politik oder staatlichen Strukturen gebracht. Trotzdem haben sich die KurdInnen an der Freiheit angesteckt. Es hat eine befreiende Explosion stattgefunden. Die KurdInnen müssen sich Bereiche schaffen, in denen sie ihre eigene Politik, Wirtschaft und ganz sicher auch Ideologie produzieren können. Dies müssen Bereiche des demokratischen Aufbaus, der demokratischen Neugeburt sein, denn die Entwicklungen im Mittleren Osten drängen mit aller Geschwindigkeit auf einer demokratischen Neugeburt entgegen. Und dafür bedarf es Geschichtsbewusstsein, Willenskraft, und der kreativen Arbeit all jener, die ausgeprägte politische und militärische Begabungen haben. So kann eine freie, produktive kurdische Persönlichkeit entstehen. Meine Beschäftigung mit den KurdInnen und der Freiheit nährt sich von dieser Überzeugung und Leidenschaft. Das 21. Jahrhundert wird eine neue Zivilisationsstufe darstellen. Der Stand der wissenschaftlich-technischen Entwicklung macht einen solchen Prozess unausweichlich. Im Kern dieses Prozesses steht die Lösung der Frage der Freiheit der Völker und Kulturen, der Freiheit der Frau, des Problems Umweltzerstörung und die Durchsetzung von Kinderrechten durch eine organisierte Zivilgesellschaft. Wir werden eine Zivilisationsstufe erreichen, auf der sich Gemeinwesen mit Respekt für die Werte und Kulturen der Völker herausbilden wird, auf der der klassische Staat überwunden werden, als ein blosses, technisches Koordinationsmittel übrigbleiben und im Laufe der Zeit eine Evolution zum Weltstaat erleben wird. |