FrauenFluchtNetz
Stuttgart und Tübingen
30.10.2001
Pressemitteilung
Frauen-Delegation
kritisiert neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur Türkei
als zynisch und unsachlich
Das
Auswärtige Amt macht sich zu Komplizen des Folter-Systems in der
Türkei
Vom 16. bis 21.10.01 hielt sich eine Delegation, organisiert vom "FrauenRechtsBüro
gegen sexuelle Folter" Berlin, "FrauenFluchtNetz" Stuttgart
und Tübingen sowie von "kein Mensch ist illegal" Tübingen,
zur Recherche gegen den neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes
zur Türkei (24.07.01) in Istanbul auf.
Die Delegation nahm teil an der internationalen Prozessbeobachtung des
dritten Verhandlungstermins gegen 18 Frauen und einem Mann vor dem Strafgericht
Beyoglu/ Istanbul, der nach 45 Minuten wieder vertagt wurde. Der Prozess
muss als Einschüchterungsversuch des türkischen Staates verstanden
werden, öffentliches Eintreten gegen Folter im Ansatz zu unterbinden.
Die Delegationsteilnehmerinnen: " Er ist ein wesentliches Indiz
dafür, dass der türkische Staat und die Gerichte nicht Folteropfer
schützen, sondern die Folterer decken."
Vor
diesem Hintergrund erscheinen die Behauptungen des Lageberichts zu Behandlungsmöglichkeiten
von Folteropfern noch zynischer. Entgegen den detaillierten Angaben
des letzten Lageberichts über die schlecht ausgebaute Versorgungssituation
behauptet der diesjährige Bericht plötzlich, dass die Behandlung
von posttraumatischen Belastungsstörungen gewährleistet sei.
Nach den zahlreichen Gesprächen der Delegation mit Anwältinnen,
ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und MenschenrechtsaktivistInnen
kritisieren die Teilnehmerinnen aufs schärfste die Aussagen des
neuen Lageberichts Türkei als absolut unsachlich und verharmlosend.
Die Behauptung, dass die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen
in Folge von Folter durch medikamentöse und psychotherapeutische
Therapien in Krankenhäusern mit psychiatrischer Abteilung gewährleistet
sei, entbehrt jeder objektiven Grundlage und ist schlichtweg falsch.
Angesichts des fortgesetzten "Folter-Systems", wobei sexualisierte
Folter ein zentraler Bestandteil ist, der andauernden staatlichen Einschüchterung
und Verfolgung von Institutionen und ÄrztInnen, die sich für
Folteropfer einsetzen, und der Folge-Verfolgung von Folteropfern sind
die Aussagen des Lageberichts absolut zynisch. Die Delegationsteilnehmerinnen
erklären: "Das Auswärtige Amt macht sich mit ihren verharmlosenden
unsachlichen Aussagen zum Komplizen des Folter-Systems."
Die
folgende Gegendarstellung enthält eine Analyse der:
I) Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern:
1. Staatliche Behandlungsmöglichkeiten für Folteropfer sind
in Istanbul wie generell in der Türkei nicht vorhanden
2. An staatlichen Krankenhäusern ist aus mehreren Gründen
eine medizinisch- therapeutische Behandlung von Folteropfern unmöglich
3. Begrenzte Therapiemöglichkeiten bestehen in Istanbul nur bei
den zwei Behandlungszentren von TIHV und TOHAV sowie am "Psychosozialen
Traumazentrum" der Universität Capa-Istanbul, medizinische
Fakultät
II) Folter - ein totales System:
Unterzeichnet
von: FrauenFluchtNetz Stuttgart; FETZ, Frauen Beratungs- und Therapiezentrum
Stuttgart; FrauenFluchtNetz Tübingen; Kein mensch ist illegal,
Tübingen
Gegendarstellung
zum Lagebericht Türkei
Erste Auswertung der Frauen-Delegationsreise vom 16. bis 21.10.01 in
Istanbul
I)
Behandlungsmöglichkeiten von Folteropfern:
Die
Delegation konnte in ihren fünftägigen intensiven Recherchen
in Istanbul entgegen der Aussage des Lageberichts, "die Behandlung
von posttraumatischen Belastungsstörungen kann durch medikamentöse
und psychotherapeutische Therapien erfolgen", keine gesicherten
Behandlungsmöglichkeiten vorfinden. Auch ist die zufriedenstellende
medizinisch, therapeutische Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen
unter den gegebenen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen
nicht möglich.
Dabei folgte die Delegation der Aufforderung des deutschen Konsulats
in Istanbul, im Gespräch Frau Daimer, die meinte, dass ihr keine
staatlichen Behandlungsstellen bekannt seien und wir uns an den Menschenrechtsverein
wenden sollten.
Gespräche
bei Frau Prof. Dr. Sebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für
Gerichtsmedizin, Medizinische Fakultät Istanbul, und den einzigen
zwei unabhängigen Behandlungsstellen TIHV (Menschenrechtsstiftung
Türkei) und TOHAV (Stiftung für soziale Rechtsstudien) ergeben
folgend düsteres Bild:
1.
Staatliche Behandlungsmöglichkeiten für Folteropfer sind in
Istanbul wie generell in der Türkei nicht vorhanden. Am einzigen
Krankenhaus in Istanbul mit psychiatrischer Abteilung können nur
zwei Ärztinnen Trauma-Kranke behandeln.
2.
An staatlichen Krankenhäusern ist aus mehreren Gründen eine
medizinisch, therapeutische Behandlung von Folteropfern unmöglich:
· Es mangelt generell an entsprechend ausgebildeten Fachkräften
für Trauma-Kranke insbesonders für Folteropfer, da Traumatisierung
erst seit dem Erdbeben in der Türkei vor zwei Jahren als fachärztlicher
Themenkomplex diskutiert wird. Die medizinische und psychologischen
Ausbildung hat das Thema posttraumatischer Belastungsstörung immer
noch nicht aufgegriffen.
· Die staatliche Repression gegen Folteropfer und behandelnde
ÄrztInnen erzeugt ein Klima der Angst, welches die meisten ÄrztInnen
aus staatlichen Einrichtungen davor zurückschrecken lässt,
Folter zu attestieren.
· Folter als legitimes Mittel der Beweiserhebung, Bestrafung
und Einschüchterung politisch Oppositioneller basiert auf einem
breiten gesellschaftlichen Konsens, der sich bis in die Krankenhäuser
fortsetzt. Frau Prof. Sebnem Korur Fincanci meinte dazu: "Viele
Ärzte sehen Folter als etwas normales, legitimes an."
· Auf Seiten der Folteropfer besteht ein großes Misstrauen
gegenüber Krankenhäusern als staatliche Einrichtungen, so
dass sich die wenigsten getrauen, über ihre erfahrene Folter zu
sprechen. Dieses Misstrauen ist, so Prof. Sebnem Korur Fincanci, angesichts
des staatlichen Umgangs mit den unabhängigen Behandlungszentren
nur begründet. So werden die Behandlungszentren z.B. immer wieder
angeklagt, ihre Patientenkarteien herauszugeben. In staatlichen Krankenhäusern
sei der staatliche Zugriff auf Patientenkarteien problemlos gegeben.
3. Begrenzte Therapiemöglichkeiten für Folteropfer bestehen
in Istanbul nur bei den zwei unabhängigen Behandlungszentren von
TIHV und TOHAV. Für sexualisiert gefolterte Frauen gibt es als
einzige Stelle in der Türkei das "Psychosoziale Traumazentrum"
der Universität Capa-Istanbul, medizinische Fakultät, das
sich auf "Gewalt gegen Frauen" spezialisiert hat. Dabei ist
der Erfolg ihrer Behandlung durch mehrere Faktoren, vor allem die staatliche
Repression, stark eingeschränkt
Begrenzte
Kapazitäten der Behandlungszentren:
· Angesichts der geschätzten Zahl von einer Millionen Folteropfer
(jede/r sechzigste Türke/in) seit 1980, so die Anwaltskammer, ist
es nur ein kleiner Prozentsatz, der sich an die unabhängigen Behandlungszentren
wendet und behandelt werden kann.
· An die Menschenrechtsstiftung TIHV, die in fünf grossen
Städten der Türkei seit 1991 Behandlungszentren aufgebaut
hat (Istanbul, Izmir, Adana, Diyarbarkir, Ankara), wurden im letzten
Jahr 1200 Anfragen gestellt. An das Istanbuler Behandlungszentrum wandten
sich im letzten Jahr 450 Folteropfer. Damit sind ihre finanziellen und
institutionellen Kapazitäten als NGO absolut ausgeschöpft.
Neben der konkreten medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung
ist die für die Behandlung notwendige finanzielle und soziale Unterstützung
der Patienten nicht möglich.
· Die Stiftung für soziale Rechtsstudien TOHAV in Istanbul
behandelt pro Jahr 150 bis 200 Folteropfer. Damit sind auch ihre begrenzten
Ressourcen, ein festangestellter Arzt und eine Psychologin, bei weitem
ausgeschöpft. Oft muss die medikamentöse und psychotherapeutische
Behandlung aufs notwendigste beschränkt bleiben, da Operationen
und diagnostische Tests nicht finanzierbar sind.
Staatliche
Repression und Verfolgung von Behandlungsstellen und Folteropfern:
· Alle Behandlungsstellen sind ständig von staatlicher Repression,
Anklagen gegen ÄrztInnen und von ständiger Schließung
bedroht (siehe auch Dossier: Trials of the Human Rights Foundation of
Turkey and Pressures on the Human Rights Assiociation 1999-2001, vom
19.01.01):
Während der letzten Razzia gegen das Zentrum der Menschenrechtsstiftung
TIHV in Diyarbarkir am 7.9.01 wurden alle Patientenakten und Adressenlisten
von ÄrztInnen beschlagnahmt und 15 Tage widerrechtlich einbehalten.
Zwei bei der Stiftung ehrenamtlich tätige Ärzte aus staatlichen
Krankenhäusern wurden zwangsversetzt (amnesty international berichtete).
Am 18.10 wurde ein gerichtliches Verfahren zur Schließung des
Zentrums vor dem Staatssicherheitsgericht in Diyarbarkir eingeleitet.
Angesichts der Prozesswelle gegen Folteropfer ist zu befürchten,
dass die Folterpatienten nun wieder von staatlicher Gewalt bedroht sind.
Dieses staatliche Vorgehen ist kein Einzelfall , sondern ist ein Beispiel
für die regelmäßige Kriminalisierung und Gewaltandrohung
unter der die wenigen unabhängigen Einrichtungen und mutigen ÄrztInnen
zu arbeiten haben.
Ärzte der TIHV-Stelle in Adana wurden verurteilt, weil sie sich
weigerten, Patientenakten an staatliche Stellen herauszugeben.
Das Zentrum in Izmir wurde Anfang des Jahres für 10 Tage geschlossen
und behandelnde Ärzte aufgrund ihrer öffentlichen Aussagen
zu Folterfällen und Behandlung u.a. wegen "Unterstützung
einer illegalen Vereinigung" angeklagt.
Gegen das Istanbuler Zentrum wurden allein im Januar 2001 sechs Verfahren
eröffnet.
Auch gegen Ärztinnen des Psychosozialen Traumazentrums der Universität
Capa-Istanbul wurden Ermittlungen und Disziplinarverfahren 1999 eingeleitet,
nachdem sie Folteropfer behandelt haben.
Prof. Sebnem Korur Fincanci vom gerichtsmedizinischen Instituten wurde
ebenfalls aufgrund ihrer Gutachten, in denen sie Folter attestierte,
mit Klagen überzogen. Die letzte Anklage wegen "Verunglimpfung
des Staates und seiner Organe" wurde im Februar dieses Jahres gegen
sie erhoben.
·
Auch die Folteropfer selbst sind einer Folge-Verfolgung ausgesetzt und
viele
werden ein weiteres Mal, eingeschüchtert, verhaftet und gefoltert:
Vor allem Folteropfer, die den Mut aufbringen, ein Behandlungszentrum
aufzusuchen, über ihre Folter öffentlich zu reden und Anzeige
gegen ihre Folterer zu erstatten, sind von erneuter staatlicher Verfolgung
bedroht, wie auch der Prozess gegen die 18 Frauen und einen Mann zeigen.
Dieses repressive Klima und die fortbestehende starke Unsicherheit steht
einer erfolgreichen Behandlung diamentral entgegen, wie uns alle Gesprächspartner
vermittelten. Viele Patienten brechen aus diesen Gründen, so die
Erfahrung von TIHV und TOHAV, ihre Behandlung ab. Auch überträgt
sich die Verfolgungssituation der Folteropfer auf die Ärzte.
Soziale
Rahmenbedingungen - soziale Sicherheit nicht gegeben:
· Ein weiterer zentraler Faktor für eine gelungene Behandlung
stellt die soziale
Absicherung und Versorgung der Patienten dar. Doch in Folge des Gefängnisaufenthalts,
inländischer Flucht in die Großstädte oder Verfolgung
sind die allermeisten Patienten sozial äußerst schlecht gestellt.
Sie können nicht mehr auf die familiären Versorgungsstrukturen
zurückgreifen oder die geringen staatlichen Sozialleistungen wie
die Grüne Karte (Yesil Kart) in Anspruch nehmen. Diese soziale
Problematik der Patienten, so TIHV und TOHAV, verunmöglicht in
vielen Fällen eine Fortsetzung der Behandlung
Auch
die Aussagen des Lageberichts zur Inanspruchnahme der Yesil Kart müssen
nach den Recherchen erheblich in Frage gestellt und davon ausgegangen
werden, dass ein Großteil auch durch dieses Netz fällt. So
wird für die Antragstellung ein Ausweispapier, eine Wohnbescheinigung,
sowie eine Abmeldebestätigung vom alten Wohnsitz, zu erhalten beim
Vorsteher (muhtar), benötigt. Zudem müssen weitere Bestätigungen
von der Sozialversicherung, der Rentenversicherung und vom Grundbuchamt
vorgelegt werden. Für Menschen, die Verfolgungserfahrungen hinter
sich haben bzw. befürchten müssen, immer noch verfolgt zu
werden, stellt dieser Behördengang ein unüberwindbares Hindernis
dar.
Yesil Kart Besitzer bekommen außerdem nicht jede Operation/Behandlung
erstattet. So brauchen Yesil Kart Besitzer auch eine Überweisung
vom staatlichen Krankenhaus, wenn sie sich am "Psychosozialen Traumazentrum"
der Universität Capa behandeln lassen wollen. Frau Prof. Sebnem
Korur Fincanci wies ebenso darauf hin, dass sie Yesil Kart Besitzer
wegen Finanzierungsproblemen ablehnen und an TIHV weiterleiten mussten.
Fazit:
Die für eine erfolgreiche Therapie unerläßlichen Voraussetzungen,
wie Sicherheit, Geborgenheit, Angstfreiheit und eine sozio-ökonomische
Basis, sind unter diesen Umständen nicht gegeben.
"Wenn sich das gesellschaftliche Klima nicht ändert, macht
die Behandlung von Folteropfern eigentlich keinen Sinn", so Prof.
Sebnem Korur Fincanci. Auch TIHV wies auf die äußerst negativen
Rahmenbedingungen hin: "Eine medizinisch therapeutische Gesundung
ist unter den Bedingungen sehr schwierig. Die Behandlung nach Folter
ist keine Operation. Nach einer Operation reicht eine gute Krankenschwester.
Bei einer Behandlung nach erlittener Folter sind die sozialen Begleitumstände
sehr wichtig."
II) Folter ein totales System - Folterer und nicht Folteropfer werden
staatlich geschützt
Dieser
Zusammenfassung liegen Gespräche mit Eren Keskin, Vorsitzende der
Istanbuler Sektion des Menschenrechtsvereins, mit Seref Turgut, Vorsitzender
der Menschenrechtskommission der Istanbuler Anwaltskammer, und Prof.
Dr. Sebnem Korur Fincanci, Direktorin der Abteilung für Gerichtsmedizin,
Medizinische Fakultät Istanbul, zugrunde:
"Folter
wird im großen Maße in der Türkei ausgeübt, in
den östlichen Gebieten wie im Westen der Türkei. Es zeigt
sich ein Bild einer Systematik: Die Gesetze sind "offen" für
Folter und tragen nicht dazu bei, sie zu verhindern. Vielmehr beschützen
die Gesetze die Folterer, anstatt Folteropfer zu schützen. So wird
gegen Folterer staatlicherseits und juristisch nicht vorgegangen, was
die hohe Zahl von über 95% Freisprüchen zeigt." Mit diesem
Statement fasste der Anwalt Seref Turgut die Analysen der Menschenrechtskommission
der Istanbuler Anwaltskammer über die derzeitige gesetzliche Lage
und Verfahrenswirklichkeit in Bezug auf Folter zusammen.
Folter - ein totales System
An
Folter, ihrer Ausübung, Legitimierung, Deckung und Vertuschung
sind eine Reihe von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen
beteiligt.
Folgende unterstützende Institutionen sind zu nennen:
· Die Gesetze, die Folter nicht definieren und Folterer nicht
verfolgen
· die Gerichte, die Folterer freisprechen;
· die Gerichtsmedizin, die Folterung nicht in Gutachten bestätigt
· und die Staatsanwaltschaft, die Foltervorwürfe nicht untersuchen.
Laut TOHAV werden nur 1 bis 5% der Verfahren überhaupt eröffnet.
Gesetzeslage: Gesetze sind offen für (sexualisierte) Folter
· Schon bei der Definition von Folter fängt die staatliche
Legitimierungspraxis an. So werden Folterungen nur im Polizeigewahrsam
als "Folter" definiert (Art.243), während des Gefängnisaufenthaltes
läuft Folter unter "schlechter Behandlung" (Art. 245),
was mit einem niedrigeren Strafmaß bemessen ist. Die Definition
von Folter entspricht nicht der UN-Folter-Konvention.
· Bei sexualisierter Folter trifft dies hinsichtlich der gesetzlichen
Definition von Vergewaltigung ebenfalls zu: so wird orale oder anale
Vergewaltigung, sowie die Vergewaltigung mit Gegenständen nicht
als "Vergewaltigung" definiert.
· Auch "Sexueller Missbrauch" ist kein eigenständiger
Straftatbestand im Türkischen Strafgesetzbuch. Alle Sexualstraftaten
außerhalb der engen Definition von Vergewaltigung fallen unter
"Sexuelle Belästigung", worunter auch "verbale Belästigung"
fällt. D.h. auch die Vergewaltigungen mit Schlagstöcken etc.
wird mit "verbaler Belästigung" auf eine Stufe gestellt.
· Es ist keine Mindeststrafe für die Verurteilung von Folterern
festgelegt.
· Ferner können gegen Staatsbeamte, wie Polizisten, nur
Verfahren eröffnet werden, wenn ihr Vorgesetzter zustimmt.
· Auch die jüngste Grundrechtsreform der Türkei hat
keine Verbesserung gebracht: So wurden zwar die Höchststrafen von
5 auf 8 Jahre angehoben, doch immer noch keine Mindeststrafe festgesetzt.
Weiterhin bleibt der Vorgesetzte zuständig für die Einleitung
von Verfahren, nur der Zeitraum, in dem das Verfahren eröffnet
werden muss, wurde auf ein Monat verkürzt.
Gerichte:
Während 1998-2000 wurden in Istanbul 125 Verfahren gegen 366 Polizisten
wegen Folterung eröffnet. Dabei wurden nur in drei Fällen
sechs Polizisten verurteilt zu Strafen, die sich in Pfennigbeträgen
belaufen (einmal 375.000 türkische Lira = ca. 50 Pf). (siehe Statistik
der Menschenrechtskommission der Anwaltskammer, Istanbul 2001)
Gerichtsmedizin:
Begutachtung unter Druck
Die Begutachtung findet an den staatlichen gerichtsmedizinischen Instituten
statt. Vor und am Ende des Polizeigewahrsams sind Vorführungen
bei Ärzten oder den gerichtsmedizinischen Instituten angeordnet.
Doch bei der Begutachtung sind Polizeikräfte anwesend und verfolgen
das höchst intime und schambehaftete Gespräch. Wie Prof. Dr.
Sebnem Korur Fincanci von vielen Gerichtsmedizinern erfahren hat, läuft
die Begutachtung unter enormen polizeilichen Druck ab: "Die Pistole
liegt mit auf dem Tisch". Unter diesen repressiven Bedingungen
ist es nicht erstaunlich, dass viele Gutachter keine Folterung feststellen
können. Auch droht gefolterten Frauen, die ihre Folter offen legen,
erneute Gewalt zurück im Gefängnis.
Schwierigkeit, Systematik von Folter zu belegen:
Auf
diese Sachverhalte führen alle GesprächspartnerInnen die Schwierigkeit
zurück, den systematischen Charakter und das große Ausmaß
von Folter im Polizeigewahrsam und als Repressionsmittel statistisch
zu belegen: nur die wenigsten Folteropfer getrauen sich, eine Anzeige
zu erstatten; nur die wenigsten Folterungen, werden als solche begutachtet;
nur wenige Verfahren werden daraufhin eröffnet; nur bei einem Bruchteil
kommt es zu einem Urteilsspruch:
Am
Beispiel sexualisierter Folter kann dies verdeutlicht werden:
Die meisten Frauen, die festgenommen werden oder in den kurdischen Gebieten
von Dorfrazzien betroffen sind, werden Opfer sexualisierter Folter,
so die Erfahrungen der Menschenrechtsstiftung und des Istanbuler Projekts
"Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften
vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell mißhandelt werden".
Die meisten Frauen erfahren während ihrer Festnahme und im Polizeigewahrsam
sexualisierte Folter.
Dabei ist Vergewaltigung sehr schwer nachzuweisen und kann medizinisch
nur binnen 48 Stunden begutachtet werden. Befinden sich Frauen in Polizeigewahrsam
ist diese kurze Frist nicht einzuhalten. Während des Gefängnisaufenthalts
können Frauen nur mit massiven öffentlichen Druck erreichen,
zur Begutachtung vorgelassen zu werden. Hinzu kommen gesellschaftlich-kulturelle
Tabuisierung und Scham, die erlittene Folter offen zu machen. Wenn die
Frist zur medizinischen Feststellung abgelaufen ist, kann die Folterung
über psychologische Gutachten bestätigt werden. Doch dafür
bräuchte man spezialisierte und unabhängige Stellen, die Gutachten
erstellen. Dies hat auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof
bereits mehrfach angemahnt und die Türkei wegen ihrer Gutachtenpraxis
verurteilt. Gutachten von unabhängigen Stellen wie TIHV oder der
medizinischen Fakultät Capa werden jedoch selten vor Gericht anerkannt.
Prozesswelle gegen Frauen, die öffentlich versuchen, sexualisierte
Folter zu enttabuisieren und gegen Folterer vorzugehen:
·
Selbst gegen die Ex-Vorsitzende der Untersuchungskommission des türkischen
Parlaments Dr. Piskinsüt leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren
ein. Sie soll die Identität der Folteropfer preisgeben.
· Seit einem Jahr haben Staatsanwaltschaften verschiedene Verfahren
gegen Frauen, die den Mut aufgebracht haben, gegen ihre Folterer auszusagen,
sowie gegen Rechtsanwältinnen angestrengt:
1) Am 21.3.2001 erhob die Staatsanwaltschaft Istanbul vor dem Strafgericht
Beyoglu/ Istanbul Anklage gegen 19 Rednerinnen und Mitorganisatorinnen
des Kongresses "Nein zur sexuellen Folter" im Jahr 2000.
2) Am 15.6.2001 stand die türkische Rechtsanwältin Eren Keskin
vor Gericht, die für das Istanbuler FrauenRechtsBüro gegen
sexualisierte Folter arbeitet, sowie der Chef-Redakteur der Zeitung
Yeni Gündem. Ihnen wird vorgeworfen "staatliche Streitkräfte
verunglimpft" zu haben. Frau Keskin ist angeklagt, weil sie auf
einer Pressekonferenz eine gefolterte Mandantin zitierte. Diese habe
berichtet, dass sie in der Haftanstalt Mardin die Augen verbunden, völlig
entkleidet und sexuell misshandelt worden ist. Yeni Gündem hat
den Bericht abgedruckt.
3) Ein dritter Prozess läuft seit dem 28.6.2001 vor dem Staatssicherheitsgericht.
Angeklagt sind die Rechtsanwältin Fatma Karakas, ebenfalls Mitarbeiterin
des FrauenRechtsBüros Istanbul, und vier weitere Frauen wegen des
gleichen Tatbestands wie im Verfahren gegen die 19.
Sabine
Hess, Britta Wente
FrauenFluchtNetz Stuttgart und Tübingen
s.hess@em.uni-frankfurt.de
b.wente@z.zgs.de