Internationale
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Köln,
1. November 2001
Briefing: Keine wirkliche Reform
Zu
den Gesetzesänderungen in der Türkei, betreffend die
Meinungsfreiheit, die Todesstrafe und die Rechte der Kurden
Die
Reformen treffen nicht den Kern des Problems
Das
türkische Parlament hat im September 34 Änderungen der geltenden
Verfassung be-schlossen, die auf die Zeit nach dem Militärputsch
von 1980 zurückging. Diese Änderungen zielen darauf ab, die
politischen Bedingungen für einen Beitritt zur Europäischen
Union, die sog. "Kopenhagener Kriterien" zu erfüllen.
Kernpunkte sind die Todesstrafe, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie
die Minderheitenrechte (Kurdenfrage) und die Gleichstellung von Mann
und Frau. Als Problem gilt außerdem die Stellung des Militärs
in der türkischen Verfas-sung.
Die Erfüllung dieser Kriterien gilt als nicht verhandelbare Prämisse
für die Aufnahme kon-kreter Beitrittsverhandlungen. Im November
steht zudem wieder der jährliche Bericht über die Fortschritte
der Beitrittskandidaten an. Eine Umsetzung der Verfassungsänderungen
in entsprechende Einzelgesetze steht noch aus.
Unabhängig
von den bekannten Defiziten der Türkei in den Bereichen Menschen-
und Bür-gerrechte, Minderheiten und Todesstrafe, sind auch die
grundlegenden Abweichungen der türkischen Verfassung vom europäischen
Standard seit langem bekannt: Der nationale Si-cherheitsrat, ein aus
Militärs und Zivilisten bestehendes Gremium, das - wenn man es
mode-rat beschreiben will - der Regierung mit Rat und Tat zur Seite
steht, ist mit dem Primat der Politik, wie ihn die europäischen
Verfassungen festschreiben, nicht vereinbar. Der zweite Punkt ist noch
grundlegender. Der Kerngedanke der türkischen Verfassung ist die
Einheit und Unteilbarkeit von Staat, Volk und Land. Alle in der Verfassung
oder in anderen Gesetzen und Vorschriften gewährten Rechte gelten
nur, insoweit sie diesem Grundsatz nicht widersprechen oder ihm zuwider
handelnd verwendet werden. Hier liegt ein fundamentaler Unterschied
zur europäischen Staatsauffassung und hier liegen auch die Ursachen
für die unzähligen Men-schenrechtsverletzungen in der Türkei,
für die Kurdenproblematik und das nur langsame Vor-anschreiten
dieses Landes nach Europa. In seiner Verfassung manifestiert sich ein
Verständ-nis vom Staat und seine Bürgern, das mit europäischem
Denken nicht vereinbar ist. Nicht um-sonst hat das Europaparlament die
Türkei kurz nach den jüngsten Verfassungsänderungen er-neut
aufgefordert, sich endlich eine moderne Verfassung zu geben.
Wie wollen wir also die Änderungen vom September bewerten? Der
Versuch, einige der schlimmsten Probleme endlich anzufassen, ist sicher
lobenswert. Das Ergebnis konnte aller-dings nur Stückwerk sein,
zumal es ein Ergebnis des Tauziehens aller parlamentarischen Fraktionen
ist, in das sich regelmäßig auch der Generalstab mit seinen
Vorstellungen einge-bracht hat. Einige der Änderungen werden sicher
Kosmetik bleiben: Die Todesstrafe ist eben nicht abgeschafft. Die Kurden
wurden weiterhin nicht als Minderheit anerkannt. Die Sprach-rechte,
die ihnen jetzt zugestanden wurden, beziehen sich nur auf unpolitische
Inhalte und den nicht-staatlichen Bereich.
Die Kernprobleme wurden nicht angegangen. Wir haben sie oben bereits
erwähnt. Hier wird auch die Aufstockung des Nationalen Sicherheitsrates
mit vier weiteren zivilen Mitgliedern keinen substantiellen Fortschritt
im Hinblick auf einen Primat der Politik über das Militär
be-deuten. Es bleibt die Hoffnung, dass die europäischen Institutionen
unnachgiebig und unab-lässig die notwendigen Änderungen einfordern,
und der Wunsch, dass die jüngsten Änderun-gen ein erster Schritt
sein mögen auf dem Weg zu einer wirklich demokratischen Verfassung,
die allen Bürgern ihre politischen, sozialen und kulturellen Rechte
sichert.
Anhang:
Die Änderungen
A.
Todesstrafe
B. Meinungs- und Pressefreiheit
C. Minderheitenrechte / Kurdenfrage
D. Gleichstellung von Mann und Frau
E. Rolle des Militärs in der Verfassung
F. Folter
G. Verschiedenes
E.
Stellungnahme des Europaparlamentes
A.
Todesstrafe
Die
Änderung sieht vor, dass Todesurteile künftig nur noch in
Kriegszeiten, bei Kriegsgefahr sowie bei Terrordelikten ("terroristische
Aktivitäten") verhängt werden dürfen.
Die vollständige Abschaffung der Todesstrafe scheiterte in der
Hauptsache an der MHP, einer der drei derzeitigen Regierungsparteien.
Auch die ursprüngliche präzisere Formulierung "Ter-rorakte"
scheiterte an der MHP.
Wenn
auch zu begrüßen ist, dass nun eine deutlich geringere Zahl
von Delikten mit der To-desstrafe bewehrt ist, kann diese Änderung
nicht als Abschaffung der Todesstrafe gewertet werden. Während
die Todesstrafe vor den Änderungen zwar Bestandteil vieler Gesetze
war, wurde sie nun, wenn auch eingeschränkt, in die Verfassung
aufgenommen, so dass eine voll-ständige Abschaffung eher erschwert
wurde. Gegen die Todesstrafe - man habe bereits einen Premierminister
der Türkei unschuldig aufgehängt - sprachen sich Abgeordnete
der Partei des Ministerpräsidenten Ecevit aus, ebenso wie die gerade
erst gegründete AKP (Islamisten), die diese Strafe für "unmenschlich"
halten.
Im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen hatte der Vorsitzende des
Kassationsgerichts-hofes, Sami Selcuk, geraten, man solle anstelle vieler
Änderungen besser gleich eine neue Verfassung angehen, die jetzige
ähnele doch eher einer "Polizeisatzung".
Für
den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan hat sich die Situation nicht
geändert; ihm droht weiter die Hinrichtung. Außer ihm warten
einhundertsechzehn weitere Delinquenten darauf, dass das türkische
Parlament ihrer Hinrichtung zustimmt.
Die Türkei bleibt mithin das einzige Land des Europarates, in dem
noch immer die Todesstra-fe gilt.
Inzwischen
hat das Europäische Parlament in Straßburg am 25. Oktober
die Türkei im Hin-blick auf den angestrebten EU-Beitritt des Landes
in einer Resolution zur vollständigen Ab-schaffung der Todesstrafe
aufgefordert.
B. Meinungs- und Pressefreiheit
Die
türkische Verfassung enthält keinerlei Schutzbestimmungen,
wegen "Gefährdung der Einheit des Staates" straffällig
zu werden, was nach einer Vielzahl von Gesetzen und Vor-schriften möglich
ist. Die jüngsten Änderungen stellen hier nun nicht mehr "Gedanken
und Meinungen" sondern "Aktivitäten" gegen die Einheit
des Staates unter Strafe.
Die Verfassung schützt nicht die Freiheit der Rede sondern vielmehr
explizit die "Einheit und Unteilbarkeit des Staates und seines
Volkes", "das Türkentum und seine moralischen Werte"
und die "Prinzipien Atatürks" und stellt fest, dass alle
wie auch immer dagegen gerichteten Aktivitäten keinerlei Schutz
genießen.
C. Minderheitenrechte
Minderheitenrechte
für die kurdische Bevölkerung wurden nicht in die Verfassung
noch in andere Gesetze aufgenommen. Auch der kurdische Schulunterricht
bleibt untersagt. Die Tür-kei erkennt die zwölf Millionen
im Land lebenden Kurden nicht als Minderheit an. Das Par-teiengesetz
bestimmt auch weiterhin: "Die Behauptung, es gebe in der Türkei
kulturelle, reli-giöse, ethnische oder sprachliche Minderheiten
ist verboten."
Es wurden lediglich einige der Bestimmungen modifiziert, die den öffentlichen
Gebrauch der kurdischen Sprache regeln. Einer der zentralen Artikel
hinsichtlich der Sprache wurde unver-ändert beibehalten: "In
Erziehungs- und Unterrichtsanstalten für türkische Bürger
darf als Muttersprache keine andere Sprache als Türkisch gelehrt
oder im Unterricht verwendet wer-den.
Ebenso gilt weiterhin das Rundfunk- und Fernsehgesetz: "Es ist
verboten, Sendungen in ande-ren als der türkischen Sprache auszustrahlen.
Ausgenommen sind Sprachen, die einen Beitrag zur Entstehung von universellen
Werten in Kultur und Wissenschaft geleistet haben."
Die Verwendung von Kurdisch auf Kongressen, Versammlungen, politischen
Veranstaltun-gen und Publikationen politischer Parteien in jeder Form
bleibt unter Strafe. Auch Aktivitäten von Parteien, die der Verbreitung
anderer als der türkischen Sprache dienen bleiben verboten.
Aufgehoben wurde hingegen der Verfassungsartikel 28: "In Veröffentlichungen
darf keine Sprache verwendet werden, die per Gesetz verboten ist."
Der Streichung dieses Artikels entnehmen die meisten Kommentatoren,
dass nun Bücher, Ra-dio- oder Fernsehsendungen in kurdischer Sprache
erlaubt seien, insoweit sie denn keine po-litischen Inhalte transportieren
oder in anderer Form die Einheit des Staates bedrohen.
Unter verbotenen Sprachen sind hier diejenigen Sprachen zu verstehen,
in denen kein Unter-richt erlaubt ist oder die für politische Dinge
nicht verwendet werden dürfen. Hierzu gibt es eine Positivliste;
Sprachen, die dort nicht aufgeführt werden, sind verboten.
D. Gleichstellung von Mann und Frau
Neufassung
des Verfassungsartikels 41. In dem Artikel war bisher lediglich von
der Familie als Fundament der türkischen Gesellschaft die Rede;
in türkischen Gesetzen wurde der Mann bisher ausdrücklich
als Familienoberhaupt genannt. Dies gilt nun nicht mehr. Dennoch: Frau-en
werden um vieles schlechter bezahlt als Männer, genießen
keinen Mutterschutz, sind
politisch kaum vertreten (im Parlament sind von 550 Abgeordneten nur
22 Frauen) und sind zu 39 Prozent arbeitslos. Von denjenigen, die einen
Beruf ausüben, sind die wenigsten auch sozialversichert: zwölf
Prozent.
E. Rolle des Militärs in der Verfassung
Die
neue Verfassung stärkt die Rolle der Zivilisten im Nationalen Sicherheitsrat,
ihre Zahl steigt von fünf auf neun; dem Gremium gehören aber
weiterhin fünf Generäle an. Beschlüsse des bisher von
den Militärs beherrschten Sicherheitsrates sollen künftig
keinen bindenden Charakter mehr haben.
F.
Folter
Gesetze
und Vorschriften, in denen Praktiken geregelt werden, die der Folter
Vorschub lei-sten, sie ermöglichen oder verdecken, wurden mit dem
Änderungspaket nicht angegangen.
Noch immer können Verhaftete bis zu vier Tagen ohne Rechtsbeistand
(incommunicado) im Polizeigewahrsam bleiben, in den kurdischen Ausnahmegebieten
im Südosten sogar bis zu zehn Tagen. In diesen Zeiten treten die
meisten Folterungen auf.
G. Verschiedenes
Einführung
eines allgemeinen Rechtes auf die Gründung von Vereinen; das Recht,
sich ohne Waffen zu versammeln und zu demonstrieren. Hausdurchsuchungen
bedürfen künftig eines Gerichtsbeschlusses.
Zugleich wird die Stellung des Staatspräsidenten gestärkt,
dem in bestimmten Fällen ein Ve-torecht eingeräumt wird. Gesetze,
die in der Zeit der Militärherrschaft nach dem Putsch vom 21. September
1981 erlassen wurden, können künftig vor Gericht angefochten
werden.
E.
Stellungnahme des Europaparlamentes
Die
legislativen Bemühungen und die Versuche einer Reform der Verfassung
werden zur Kenntnis genommen und positiv gewertet. Die Türkei wird
jedoch aufgefordert, diesen Pro-zess fortzusetzen und eine moderne Verfassung
zu schaffen, die den demokratische Rechts-staat und die Achtung individueller
und kollektiver Rechte und Freiheiten sichert.
Die
Türkei wird aufgefordert, die internationalen Verträge und
Übereinkommen hinsichtlich
Bürgerrechten, sozialen und kulturellen Rechten, die sie bereits
unterzeichnet hat, jetzt end-lich zu ratifizieren und in eigene Gesetze
zu übernehmen.
Auf
dem Gebiet der Menschenrechte sind auch künftig noch weitreichende
Anstrengungen notwendig, um ein für alle mal die Praktiken und
Strukturen zu beseitigen, die seit langem das Ansehen der Türkei
in der internationalen Gemeinschaft schädigen.
Die
türkischen Behörden werden aufgefordert die Grundrechtscharta
der EU zu respektieren.
Die
Türkei wird aufgefordert, einen präzisen Zeitplan vorzulegen
in Bezug auf eine schnellstmögliche Erfüllung der politischen
Kriterien von Kopenhagen.
Quellen:
"Türkei spielt ein bisschen Europa" (TAZ), "Hauptfach
Demokratie: Die Türkei sitzt nach" (Basler Zeitung), "Ver-fassungsreformen
mit Seitenblick auf die EU" (Berliner Zeitung), "Türkei
sieht ihre Stellung in Europa gestärkt" (Neue Ruhr Zeitung),
"Türkei nähert sich EU weiter an", (Frankfurter
Rundschau), "Türkei macht sich schön für Europa"
(dpa), "Verfas-sungsänderungen am Fliessband" (Aargauer
Zeitung), "Die türkischen Bürger werden die wahren Verlierer
sein" (Human Rights Watch)