Interview mit dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan in zwei Teilen aus der Özgür Pölitika vom 10. und 11. November 2001 Özgür Politika, 10.11.2001 Widerstehen mit revolutionärem GewissenDrei erdrückende Jahre auf Imrali. Drei lange Jahre unter ständiger Kontrolle, abgeschnitten vom Leben, auf einer mit Sondergesetzen geführten Gefängnisinsel. Zweck dieser Behandlung ist es, den in Gefangenschaft lebenden PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vom Leben zu isolieren. Aber den Gefallen tut er den Anwendern dieser Verfahrensweise nicht. Trotz allem bleibt er dem Leben verhaftet; mit seinen eigenen Worten: er schützt das Kind in seinem Inneren mit grosser Liebe und Sorgfalt. Der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan hat für seinen Prozess vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eine umfassende Eingabe vorbereitet. Er hat diesen Text "Manifest der demokratischen Zivilisation" genannt. Darin erzählt von Anatolien, Mesopotamien und der Entwicklung der Zivilisation und gibt Anhaltspunkte darauf, wie ein Leben in Frieden sein sollte. Wir veröffentlichen heute Fotos, die während eines Treffens Öcalans mit einer europäischen Abordnung auf Imrali aufgenommen worden sind. Diese über die Mesopotamische Nachrichtenagentur (MHA) verbreiteten Fotos zeigen die Bedingungen, unter denen der PKK-Vorsitzende lebt. Es sind die ersten Bilder Öcalans in Gefangenschaft. Desweiteren präsentieren wir unseren LeserInnen die Antworten Öcalans auf Fragen nach seinem Leben auf Imrali und den Eingaben an den EuMRGh, die ihm über seine AnwältInnen gestellt worden sind. (...) Herr Vorsitzender, Sie leben auf Imrali unter schweren Bedingungen. Wie ist Ihre körperliche und psychische Verfassung? Wie lange werden diese Bedingungen noch weiterbestehen? Die Bedingungen hier sind problematisch für die Gesundheit, aber ich mache kein Drama daraus. Ich spreche da nicht weiter drüber, um dem Volk Kummer zu ersparen. Ich bewahre mir meine Kaltblütigkeit. Das ist das, was ich die "Haltung Sokrates'" genannt habe, und die ich mir bis zum letzten Atemzug bewahren werde. Auch wenn ich fünf Minuten vor meiner Hinrichtung stehe, werde ich kaltblütig, wie Sokrates, bleiben. Wie ist Ihr Gesundheitszustand? Ich bemühe mich, mich selbst zu schützen. Ich bewahre mir mein Gedächtnis. Was für mich wichtig ist, ist die seelische und ideologische Dimension des Lebens. Für mich bedeutet Widerstand, die Achtung und die Kraft der Bedeutung nicht aufzugeben und zu bewahren. Nicht für einen Moment habe ich mich hier dem Verfall in den Wahnsinn hingegeben; der grösste Verlust, die grösste Niederlage ist es, die Sinneskraft zu verlieren. Aber ich bewahre mir das. Wenn jedoch der Körper Bankrott anmeldet, was soll ich dann tun. Ich weiss auch nicht, wie weit das gehen wird. Es ist schwer, die Bedingungen auf Imrali zu ertragen. Die Nebenhöhlen sind problematisch. Das ist mein grösstes Gesundheitsproblem. (...) Schon früher hatte ich das, jetzt ist es schlimmer geworden. (...) Im Allgemeinen haben die Bedingungen hier aber keinen allzu grossen Einfluss auf mich, ich kann vier bis fünf Stunden schlafen. Der Sommer war hart, das wird jetzt vielleicht besser werden. Körperlich habe ich keine weiteren ernsten Probleme. Wenn ihr Rifat Ilgaz lest, er sagt, die Bedingungen auf Imrali sind hart. Imrali ähnelt keinem anderen Ort, hier ein paar Jahre auszuhalten, ist schwer. Wahrscheinlich kommt das vom Klima. Ich nehme an, er hat hier auch eine Zeit verbracht. Ihre AnwältInnen haben mitgeteilt, dass Sie hunderte von Briefen bekommen haben. Und insbesondere die von Kindern und Frauen erregen Aufmerksamkeit. Wie haben Sie das gefunden, was möchten Sie Ihnen sagen? Die Briefe sind wichtig und bedeutungsvoll. Viele sind in Form kurzer Botschaften. Die Briefe von den Frauen aus den Gefängnissen finde ich sehr bedeutsam, sie haben mich verstanden, das ist mir wichtig. Sie haben sehr vielsagende Sachen geschrieben, es sind sehr inhaltsreiche Briefe dabei. Ich kann nicht alle einzeln beantworten, aber einige Antworten habe ich geschrieben. Für die Frauen habe ich ein Projekt entwickelt. Eigentlich hätte ich das auch gerne für die Kinder gemacht. Ich bin eigentlich immer noch ein Kind. Und wenn ich die Sechzig erreiche, werde ich ein Kind sein. Daran ist nichts merkwürdiges. Ich übermittele diesen Kindern meine grosse Liebe. Herr Vorsitzender, Sie haben eine umfassende Eingabe für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof vorbereitet. Sie wurde in Buchform gedruckt und die Zeitungen veröffentlichen Auszüge daraus. Allgemein gesagt, wie bewerten Sie diese Eingabe? Vor allem nenne ich sie eine farbenfrohe Eingabe. Sie beinhaltet grosse Dinge, die den Weg zu einer grossen mentalen Revolution öffnen können. Mir hat es schon immer gefallen, zu grossen Ergebnissen zu kommen. Ich habe das Wesen des Staates getroffen. Das Phänomen der Klassenbildung, die Realität der Böden Mesopotamiens, die Loslösung der Frau von ihrer Kultur, Analyse und Lösung von Istar, von den Religionen, der Ibrahim-Tradition und der kurdischen Geschichte. Ich bin wissenschaftlich vorgegangen. Der Weg historischen Bewusstseins hat sich geöffnet. Wer es liest, dem wird sich der Weg öffnen. Fünf Monate habe ich in intensiver Form dafür gegeben, dass sich der Weg für eine mentale Veränderung, für ernsthafte Diskussionen öffnet. Die letzten Zeilen, die letzten zehn Seiten habe ich geschrieben wie ein Gedicht. Am 15. August war ich fertig, habe einen Endspurt hingelegt. Es hat mir sehr gefallen, war wie eine geistige Explosion. Möglicherweise wird es auch die Geister in der Türkei erschüttern. Eine stabile Geschwisterlichkeit kann möglich werden. Deshalb ist es von Bedeutung, dass die Eingabe als Buch erscheint. Es kann sein, dass ich einige Wörter vergessen habe, aber meine Sätze sind kraftvoll, in der Gesamtheit ist der Sinn eindeutig. Es handelt sich nicht nur um meine Verteidigung, sondern um die des Mittleren Ostens, und das war auch nötig. Unter anderem haben Sie Ihre Eingabe auch die "dritte Geburt" genannt. Warum dritte Geburt? Die alte Mentalität, die alten Leute, der alte Krieg, die alte Ideologie, Liebe, Achtung; ich sage das für euch alle, es war eine bankrotte soziale Ethik, ein zwanzigjähriges Profitmachen, eine Falle, ein schmutziges Leben, was in der Türkei stattfand. Wenn ihr Zeitung lest, könnt ihr sehen, dass die gesellschaftliche Ethik zusammengebrochen ist. Meiner Meinung nach wird das überwunden werden. Ich sage das für die gesamte Türkei und die Kurden: es ist die Möglichkeit zur Befreiung aufgetreten. In meiner Eingabe habe ich das ausführlich behandelt. Sie gibt Anhaltspunkte für die Entwicklung der Menschheit. Aus diesem Grund nenne ich mein Buch Die Dritte Geburt. Ich sage Neugeburt der Renaissance dazu. Was für eine Veränderung wird Ihre Eingabe hervorrufen, bzw. was für eine Veränderung erwarten Sie? Meine Eingabe ist in diesem Thema lehrreich; sie erklärt die Fakten. Sie gibt allem von neuem die Chance auf Leben und Freiheit. Sie ist von der Qualität, die jüngsten Ereignisse in den USA zu analysieren und zu lösen. Meine Eingabe ist eine historische, psychologische, mentale, ethische und politische Antwort. Es besteht die Notwendigkeit der Veränderung in allen Bereichen. Meine Eingabe kann jedem in grossem Ausmasse einen Weg aufzeigen. Mit ihr wird die ökonomische, politische, ethische Befreiung möglich. Dabei ist sie aussagekräftig und gerade rechtzeitig fertig geworden. In diesem Sinne haben die Kurden grosses Glück. Denn sie haben grossen Schmerz erlebt. Diesen Schmerzen müssen Blumen gegeben werden. Solche Perioden sind wichtig in der Menschheitsgeschichte. Auch die Tempel erlebten Schmerzen, so bildete sich Religion. Moses ging auf den Berg, erlitt Schmerzen und es entstand eine Religion. Jesus wurde ans Kreuz genagelt, er erlitt Schmerzen, es entstand eine Religion. Mohammed wanderte aus, erlitt Schmerzen, ging auf den Berg Hira und es entstand eine Religion. Auch heutzutage wird es so sein, Transformation, Veränderung sind schmerzvoll. Was stattfindet, ist der Geburtsschmerz. In gesellschaftlichen Veränderungen werden Schmerzen erlebt. Das ist es, was in der Türkei stattfindet. Wer nicht an die Veränderung glaubt, ist verdammt und niveaulos und hat keine Chance auf Würde. Achtungslos. Wir müssen die Vorhut der Transformation stellen. Die vom kurdischen Volk erlebten Schmerzen sind gross. Wer sehr grossen Schmerz erlebt hat, ist bereit zur Transformation. Und dafür verantwortlich.
Özgür Politika, 11.11.2001 Meine Hoffnung ist grossDer PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan betrachtet den Kampf für Demokratie als den Dreh- und Angelpunkt der aktuellen politischen Prozesse. In seiner Theorie des Dritten Sektors fordert er die Organisierung und Einbindung aller Gesellschaftsgruppen in die Politik, weil der Staat nur durch die Zivilgesellschaft zu verändern sei. Ausserdem äussert Öcalan sich im heutigen zweiten Teil seines Interviews zum Thema Selbstverteidigung. Frage: Sie haben dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EuMRGh) eine sehr umfassende Eingabe überreicht. Ihre Arbeit wird auch als Manifest der Demokratischen Zivilisation bezeichnet. Wie bewerten Sie es selbst? Abdullah Öcalan: Die meisten Menschen sind auf der Suche nach Glück, ökonomischem Auskommen und einem ruhigen, bequemen Leben. Mit den Schönheiten der Welt allein werdet ihr keine Ruhe finden, denn schmutzige Geister leben nicht in Ruhe. Sie profitieren von den Möglichkeiten des Zeitalters, aber sie finden keine Ruhe. Es fehlt der Geist, der Ruhe aufnehmen könnte. Denn sie haben ihre Gewissensfragen nicht gelöst. Wer sehr anspruchsvoll ist, kann vielleicht einige Anhaltspunkte erwischen. Allein darüber könnte ich ein, zwei Bücher schreiben. Aber mit diesem Buch habe ich die Frage ansatzweise gelöst. Ich beschuldige nicht den Staat. Ich habe die Sache gut gelöst, damit auch der Staat sich demokratisiert. Ein Staat versucht, seine eigenen Gesetze herrschen zu lassen. Dagegen habt ihr keine Chance. Dem Staat muss erklärt werden, dass er vor der so gefürchteten kurdischen Frage keine Angst zu haben braucht. Es gibt viele dunkle, schuldbeladene Personen und Persönlichkeiten, aber innerhalb des Staates existieren auch Menschen, die gute Patrioten sind. Den Staat zu demokratisieren, ist eine sehr edle Aufgabe. Einen Beitrag zum demokratischen Staat zu leisten, gehört auch zum Prinzip des Leninismus. Frage: Momentan beschäftigen Sie sich am stärksten mit der Theorie des Dritten Sektors. Dieses Thema wird sogar ein bisschen mit Ihnen identifiziert... Abdullah Öcalan: Meiner Meinung nach ist der Dritte Sektor der beste Weg, um nicht mit dem Staat aufeinanderzuprallen, oder besser gesagt, um ihn zu überwinden. Beim Dritten Sektor handelt es sich um demokratische Politik, die wirtschaftlichen Bereiche der Gesellschaft, um Handelskammern, Vereine, demokratische Kooperativen, Sportbünde, Kunstvereinigungen, Geschichts- und Kulturschutzorganisationen, Stiftungen, Jugend- und Frauenbewegungen. Mit ihnen wird die Organisierung der Gesellschaft betrieben. Und das bedeutet auch Revolution. Revolution kann nicht durch pseudolinke Politik erreicht werden. In der Theorie des Dritten Bereiches ist nicht vorgesehen, dass ein Ergebnis erzielt wird, indem der Staat zerstört, das Volk in den Aufstand getrieben oder ein langfristiger Guerillakrieg durchgeführt wird. Auch der Staat kann mit klassischer Diktatur nichts erreichen. Die Linie des Dritten Sektors setzt auf Verständigung. Die Institutionalisierung des Dritten Sektors zwingt den Staat, die Gesellschaft, die Menschen zur Demokratie. In meinem Buch habe ich weder eine klassische Gesellschaftsanalyse noch eine klassische Staatsanalyse vorgenommen. Theorie und Praxis des Dritten Sektors, Zivilgesellschaft und Zivilgesellschaftsorganisationen - das nenne ich die Theorie des Dritten Sektors. Zivilgesellschaft oder Lösung durch den Dritten Sektor sind unausweichlich. Aus diesem Grund ist es unbedingt notwendig, dass alle und jeder in Theorie und Praxis aktiv werden. Ich hoffe, dass mein Buch dabei von Nutzen sein wird. Wenn keine Rechte anerkannt werden, wird die Selbstverteidigung endlos weitergehen. Kommt es zur Anerkennung von Rechten, sind auch die Waffen nicht mehr notwendig. Meine darauf ausgerichtete Arbeit habe ich vervollständigt. Diese grundlegende Analyse hat mich ein wenig erleichtert. Und eigentlich ist sich auch der EuMRGh dessen bewusst. Ich werde mir meine Gesundheit, mein Leben und meinen gesunden Menschenverstand bewahren. Die Selbstverteidigung wende ich an, um Frieden zu schaffen. Vor mir liegen Hindernisse, aber das kann ich aushalten. Frage: Wie werden Ihre Aussagen Individuum und Staat beeinflussen? Abdullah Öcalan: Es gibt ernste Probleme in Mentalität und seelisch-geistiger Welt. Es herrscht Bedarf nach einer grossen Revolution in den Bereichen Gewissen, Ethik und Kultur. Um die Schmerzen und die Liebe richtig zu verstehen, braucht es eine Revolution des Gewissens. Wie kann in dieser Gegend der Welt von der Blutkultur zur Kultur der Liebe übergegangen werden? Wie kann Seperatismus überwunden werden, wie die Gewissensprobleme, die durch die Lust am Stammesdasein und Nationalismus hervorgerufen werden? Das ist auch das, was in Palästina stattfindet, und was wir mit dem Begriff der Renaissance des Mittleren Ostens zu erläutern versucht haben. In der Kultur Mesopotamiens ist das möglich. (...) Ohne eine Revolution des Gewissens und des Herzens kann nichts Starkes entstehen. Ohne eine Gewissensrevolution könnt ihr gar nichts machen. Wie hält Öcalan bloss diese Bedingungen aus? Das Geheimnis dessen liegt in einer grossen Gewissensrevolution. Der Mensch zerbricht hier, wenn er keine grosse Gedanken, keine Sensibilität entwickelt. In der Geschichte gibt es dafür viele Beispiele. Als Yildirim Beyazit in Gefangenschaft geriet, hielt er es nicht aus, er zerbrach. Ich habe weder geweint noch gejammert, geflucht, gefleht oder plumpen Widerstand geleistet. Eine ruhige, sokratische Haltung habe ich das genannt. Was bedeutet eine sokratische Haltung im 21. Jahrhundert? Das muss gelöst werden. Frage: Ein weiterer hervorstechender Punkt in Ihren Ausführungen sind Ihre Definitionen zum Thema Selbstverteidigung. Wie soll Selbstverteidigung verstanden werden, wie muss sie reflektiert werden? Abdullah Öcalan: Die Selbstverteidigungskräfte müssen unbedingt von der Qualität und Quantität sein, innerhalb der vier Nachbarstaaten eine auf Frieden und demokratischer Einheit basierende Lösung gewährleisten zu können. Selbst der ausgeglichenste Frieden erfordert eine stabile und starke Selbstverteidigungskraft. Welcher Staat oder welche Staaten auch immer angreifen mögen, gegen alles muss ein ausgereifter Plan, eine gute Vorbereitung und Basis in ganzer Länge und Breite bestehen. Die Chance auf Frieden und demokratische Lösung besteht nur, wenn dahinter eine Selbstverteidigungsordnung steht, die jeder Art von Angriff standhalten kann. Ich wiederhole: das gilt für alle vier Staaten. In diesem Sinne besteht Bedarf an der Arbeit der Zivilgesellschaft, an einer politischen Arbeit, die sich auf ein Bündnis der demokratischen Lösungskräfte stützt. Frieden und demokratische Lösung werden in erster Linie durch die Arbeit der Zivilgesellschaft und demokratische Bündniskräfte erreicht werden. Nur in dem Ausmass, indem Ausland und Selbstverteidigungskräfte diese Arbeit und Bündnisse stärken, können die Entwicklung positiv und schnell verlaufen. Frage: Sie sagen, dass Ihre jüngsten Analysen den Grad des Marxismus überschreiten... Abdullah Öcalan: Ja, das denke ich. Manche mögen das kritisieren, das ist nicht wichtig. Es kann auch eine gute Diskussion entstehen. Ich setze auf menschliche, rechtliche und politische Wissenschaft, mache das verständlich. Ihr werdet damit Religion, Mythologie und Literatur lösen können. Es wird ein richtig gutes historisches Bewusstsein entstehen. Selbst um den Geschmack von Brot zu erfassen, braucht es ein richtiges Geschichtsbewusstsein. Ihr müsst euch Wissen über Geschichte und Soziologie aneignen. Wenn ihr euch in Geschichte und Soziologie nicht auskennt, können Brot, Freundschaft, soziale Beziehungen, rein gar nichts einen Geschmack haben, auch das Leben nicht. Ich habe das erlebt und in der Praxis analysiert und gelöst. Ich hoffe, das wird verstanden werden. Frage: Ist die von Ihnen hervorgebrachte Friedenslinie ausreichend verstanden worden? Insbesondere in der Türkei wird der Begriff Frieden anders verstanden. Abdullah Öcalan: Ich habe keinen Zweifel daran, dass Frieden nicht Schwäche, sondern Stärke bedeutet. Demagogische Aussagen im Namen von 'dem heiligen Vaterland, der Fahne, dem Staat', die Gefangenschaft in nationalistischen Dogmen, bewerte ich als faschistoide Lügen. Ich glaube daran, dass der konsequenteste Patriotismus über die Achtung aller kulturellen Existenzen ausgedrückt wird. Und ich bin sicher, dass man seiner Nation den grössten Nutzen erweist, indem man den Kulturen aller Völker ebensoviel Achtung entgegenbringt wie der eigenen. Die KurdInnen werden ZeugInnen des Friedens werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Kurden und Türken gemeinsam gegen die imperialistischen Machenschaften für nationale Befreiung gekämpft. Was aus welchem Grund auch immer unvollständig geblieben ist, ein demokratisches System und eine freie Gemeinsamkeit, konnten nicht einhergehend mit der Republik verwirklicht werden. Die Aufgabe, die vor ihnen liegt, wartet jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf ihre erfolgreiche Bewältigung. Und dieser Erfolg wird auch die Führungsrolle der Türkei im Mittleren Osten, dem Kaukasus, dem Balkan und Mittelasien verstärken können. Frage: Was können Sie über Ihre eigene Situation sagen, was sind Ihre Erwartungen? Abdullah Öcalan: Wie hart die Bedingungen auch sein werden, ich werde auszuhalten versuchen. Für mich wird es in meinem Leben auf Imrali nicht schwer sein, Geduld, Sinn und Mut herzustellen. Die physischen Probleme liegen ausserhalb meines Willens. Positiv ist, dass ich mit meiner auf Imrali bestehenden Gefühls- und Gedankenkraft sowohl die allgemeine Geschichte als auch die der Befreiungsbewegung wiederholt auswerten werde. Ich plane auch einige literarische Arbeiten. Folgendes kann ich noch sagen: Meine Kraft im Fühlen und Denken als Imrali-Periode zu begreifen, führt zu aussergewöhnlicher Bedeutung und Kraft. Historischer Wachstum und historische Grösse hängen ganz stark davon ab, dass meine Realität auf Imrali geteilt und vertreten wird. Die Unerbittlichkeit und Intensität von Geschichte und aktuellem Zeitgeschehen, in einer Struktur wie der meinen diese zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen, ist für Menschen mit Selbstvertrauen eine ebenso grosse Kraftquelle wie eine sehr grosse Aufgabe. Ich glaube daran, dass diese Art der Verteidigung [die Eingaben an den EuMRGh] einen Einfluss hervorrufen wird, der Horizonte öffnen und Gedanken und Gefühle bereichern kann, und dass sie in grossem Ausmass eine Antwort geben kann auf die bestehenden Bedürfnisse. Wenn ein würdevoller Frieden und ein freies Leben gewollt werden, muss jeder Anstrengungen dazu beitragen, die den Bedingungen einer aussergewöhnlichen Zeit entsprechen. Nach wie vor übernehme ich 90 Prozent der Last des Staates, der PKK und des Volkes. Das ist eine Ehre für mich, das weiss ich. Aber wer keine Last übernehmen kann, hat auch wenig Aussicht auf Erhebung und Wachstum. Deshalb besteht Bedarf an der Fähigkeit, Lasten in selbstloser, mutiger und erfolgreicher Art und Weise zu übernehmen. Zeitphasen wie diese sind von dem Gewicht, ein bis zwei Jahrhunderte festlegen zu können. Eine solche Auswertung (...) ermöglicht die Existenz und Perönlichkeitswerdung von edlen Kräften und Zeitphasen, die der Geschichte gerecht werden. Wenn diese Chance vertan wird, dann tut es mir nicht um mich selbst leid, sondern um alle und jeden. Diese Böden, auf denen das Paradies errichtet werden könnte, dürften nicht in einem solchen primitiven, schrottreifen Zustand bleiben. Meine Hoffnung ist grösser als je zuvor. |