Reisebericht einer Teilnehmerin der Münchner Wahlbeobachtungsdelegation in die Türkei This
is what democracy looks like Das
erste, was wir im Landeanflug von Diyarbakir sehen, ist der militärische
Teil des Flughafens, wo die Apache-Hubschrauber und F 16-Kampfflugzeuge
stehen, die werktags im Tiefflug über der Stadt kreisen, um an die
eigentliche Macht im Lande zu erinnern. Wir
sprechen nur flüsternd über regionale Politik, während
wir am Flughafen von Diyarbakir auf unsere DEHAP-Kontaktleute warten und
nehmen an, dass sie hier inkognito erscheinen werden - obwohl ihre Partei
die Stadt mit absoluter Mehrheit regiert. Im letzten Jahr musste hier
jedenfalls noch mit Verhaftung rechnen, wer mit einer Fahne der Partei
erwischt wurde, die den Bürgermeister stellt. Davon haben mehrere
Delegationen berichtet. Zu unserer Überraschung holt uns eine auffällige
kleine Kolonne von drei PKWs ab, alle mit DEHAP-Fahnen geschmückt,
und fährt uns zu einem Hotel in der Innenstadt, wo - ganz unkonspirativ
- der überwiegende Teil der ausländischen Wahlbeobachter einquartiert
wurde. Wir können also vorerst ganz entspannt sein. Wenn überhaupt
kann es für uns erst nach der Wahl gefährlich werden: wenn die
Ergebnisse der DEHAP sehr, sehr gut - oder sehr, sehr schlecht sind. Letzteres
halte ich bald für ausgeschlossen. Auf dem Weg zum Hotel Demir winken
und hupen uns immer wieder Menschen jeden Alters zustimmend an, sitzen
lachend zu zweit oder zu dritt auf Motorrädern, stehen am Straßenrand
und formen die Finger beider Hände zum Victory-Zeichen und sind allgemein
„gut drauf“. Die DEHAP verdient also den Namen einer Volkspartei.
Dass wir nicht verhaftet werden und die Menschen ihre Zustimmung unter
den Augen der Militärs offen zeigen, ist Ausdruck eines gewissen
Durchbruchs, der wohl im letzten Jahr mit dem kurdischen Neujahrsfest
Newroz am 21. März begonnen hat, das in Diyarbakir von 600.000 Menschen
öffentlich gefeiert wurde. Freundinnen und Freunde, die wir in den
nächsten Tagen besuchen werden, erzählen uns, dass die Verhältnisse
in dieser Stadt seit dem von 1999 von kurdischen Bewegung einseitig begonnenen
Friedensprozess langsam, aber sicher besser werden. Die kurdische Identität
ist in dieser Stadt durchgesetzt, und die zivile Macht in den Händen
einer kurdischen Partei. Im Umland sieht es allerdings anders aus - davon
werden wir uns bald überzeugen können. Am Wahlsonntag sind wir mit Heiko Kösel, einem Mitglied des sächsichen Landtages, sowie der Münchner PDS-Stadträtin Brigitte Wolf in Cinar, einem an Diyarbakir grenzenden Landkreis von 96 kleinen Dörfern mit insgesamt etwa 100.000 Einwohnern unterwegs. Unser Dolmetscher, ein junger Anglistikstudent aus Van, stellt uns als Mitglieder des Europa-Parlaments vor, wenn wir die allesamt mit deutschen G3-Gewehren von Heckler & Koch bewaffneten Militärposten vor den Wahllokalen passieren wollen. Es ist uns nicht ganz klar, ob er uns zu diesem Zweck bewusst „befördert“ hat, oder ob hier der Wunsch der Vater des Gedanken ist. Wir haben während dieser Reise oft den Eindruck, dass die Menschen in diesem Land uns aus Wunschdenken für wichtiger halten, als wir in Wirklichkeit sind. Nicht, dass sie uns weniger achten, wenn wir ihnen unsere tatsächlichen Verhältnisse erklären - sie wollen einfach nicht wahrhaben, dass die wirklich wichtigen Leute in unserem Lande die sind, die den Panzerlieferungen in die Türkei zustimmen. Wir einigen uns jedenfalls auf „Parlamentarier aus Europa“ - was für zwei von uns nicht direkt gelogen ist, falls zufällig doch einer der Soldaten eine Ahnung haben sollte. In acht von zehn Dörfern funktioniert es allerdings; wir dürfen uns die Wahllokale von innen ansehen. Was wir sehen sind Wahlurnen, die als Requisiten in einem Wildwestfilm - über Korruption und Banditen, die ein unschuldiges Städtchen erpressen - nicht weiter auffallen würden. Es sind handgezimmerte Holzkisten mit offensichtlich schon mehrfach grob misshandelten Siegeln; das angefangene Siegelwachs liegt zumeist direkt daneben auf dem Tisch. Auf die Frage, ob es im Vorfeld der Wahl Repression gegeben hat, antworten die meisten Menschen in den Dörfern mit nein, was zweierlei bedeuten kann: zum Einen sind sie hier Manches gewohnt und halten diese Wahl vielleicht tatsächlich für demokratisch, weil dieses Mal noch keine Kandidaten verschleppt oder erschossen wurden - zum Anderen klingt ihre wiederholte Versicherung, dass es keinerlei Druck auf die Wahlberechtigten gegeben hat, manchmal fast panisch. Sobald wir etwas abseits stehen, werden solche Aussagen oft auch zurückgenommen: wir hören von Drohanrufen und ungebeten Besuchen der Militärs, die zum Teil offen angekündigt haben, die Dörfer zu räumen, falls es zu viele Stimmen für die DEHAP geben sollte. Schon mehrfach wurde uns berichtet, dass die Militärs - zum Teil erfolgreich - versucht haben, die Bevölkerung zur offenen Wahl zu zwingen. Nichtwählen ist strafbar - wenn man seine Wahlunterlagen bekommen hat. Meine Versuche, auch mit den Frauen in den Dörfern zu reden, scheitern oft daran, dass mein Kurdisch nicht ausreicht und sie kein Türkisch verstehen. Die Schulausbildung muss hier immer noch auf türkisch absolviert werden - eine der wichtigsten Forderungen der kurdischen Befreiungsbewegung ist das Recht auf Ausbildung in ihrer Muttersprache - aber die meisten der älteren Frauen in den Dörfern sind ohnehin nie zur Schule gegangen. Drei junge Mädchen, die ich anspreche, können zwar Türkisch, aber wir befinden uns in Hörweite eines wichtigtuenden türkischen Offiziers, und sie sind - natürlich - kurz angebunden. Die
meiste Zeit - etwa sieben Stunden lang - folgen uns in einem Kleinbus
zwei Angehörige des JITEM (Geheimdienst der Militärpolizei).
Einer von ihnen lächelt unentwegt mit einem Blick, der irgendwie
wahnsinnig wirkt - als hätte er ein „Vietnam-Syndrom“.
Tatsächlich sind diese Männer in der Bevölkerung der kurdischen
Gebiete als Kriegsverbrecher verhasst und gefürchtet; auch die einfachen
Soldaten der türkischen Armee haben mitunter Angst vor ihnen. Das
jedenfalls stellen wir fest, als ein junger Wehrpflichtiger aus Bodrum
mit uns spricht. Ercan ist achtzehn oder neunzehn Jahre alt und froh,
die Hälfte seines Militärdienstes hinter sich zu haben und in
sechs Monaten wieder Zivilist zu sein. Er hat uns von einem kleinen Jungen
ausrichten lassen, dass wir zu ihm herüber kommen sollen, bricht
aber die Unterhaltung sofort ab, als ihm einer der JITEM-Leute einen Blick
zuwirft. Ein weiteres Problem sind die „Dorfschützer“
- bewaffnete Kollaborateure. Sie tragen zumeist schlammbraune, uniformähnliche
Zivilkleidung und AK-47-Sturmgewehre. Einer von von ihnen betritt sogar
ein Wahllokal mit dieser Ausrüstung. In manchen Dörfern wurden
sie mehr oder weniger zwangsrekrutiert, in anderen - zumeist sehr rückständigen
mit ausgeprägten Clan-Strukturen - sind die Dorfschützer stark
repräsentiert und Überzeugungstäter, die uns spüren
lassen, dass wir unerwünscht sind. In einem solchen Dorf wird uns
eine wirklich groteske Wahlkabine gezeigt, in der es kein funktionierendes
Licht, dafür aber jede Menge Unrat auf dem Boden gibt. Falls in diesem
Raum heute überhaupt gewählt wurde, musste dies entweder im
Dunkeln oder bei offenem Fenster unter den Augen der patroullierenden
Dorfschützer geschehen. Der türkische Staat wird nun von zwei Parteien regiert, deren einziger Verdienst es ist, dass sie weder in der letzten Regierung vertreten waren, noch mit Repressalien überzogen wurden. Die liberalen Islamisten der AKP kamen auf 34,1 und die kemalistische „Republikanische Volkspartei“ CHP auf 19,3 Prozent. Die DEHAP hat es nicht ins Parlament geschafft, aber sie hat hoch verloren: knapp zwei Millionen Menschen (insgesamt 6,1 Prozent) haben sie trotz der Repression gewählt; sie hat in ihnen echte Unterstützerinnen und Unterstützer. Sie gehören zum fortschrittlichsten Teil der 46,6 Prozent der Wahlberechtigten, die nicht im neuen türkischen Parlament repräsentiert sind. Claudia Wangerin
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