13.
März 2003
INTERNATIONAL
INITIATIVE BRIEFINGS:
Ein Schritt nach vorn, zwei Schritt zurück - europäisches
Recht und die kurdische Frage
Nach dreijähriger Verhandlungsdauer hat der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Öcalan sein Urteil
gefällt. Abdullah Öcalan habe kein faires Verfahren vor
einem unabhängigen Gericht erfahren, sein Recht auf Verteidigung
sei eingeschränkt gewesen und er habe inhumane Behandlung durch
die Verhängung der Todesstrafe erlitten. In einer ersten Stellungsnahme
bewerteten die Rechtsanwälte Öcalans das Urteil positiv,
wenn auch als ungenügend. Denn in einem zentralen Beschwerdepunkt,
den rechtswidrigen Umständen bei der Entführung Abdullah
Öcalans, hat der Gerichtshof nicht der Beschwerde entsprochen.
Dies war jedoch für die Beschwerdeführung von herausragender
Bedeutung. Denn erst ein multinationales Bündnis von Geheimdiensten
hatte die Auslieferung Abdullah Öcalans an die Türkei
ermöglicht, was wiederum zu dem Schauprozess auf der türkischen
Gefängnisinsel Imrali führte. Noch immer streiten renommierte
Völkerrechtler über die damit verbundenen Umstände
und einhergegangenen Rechtsbrüche. Nach Meinung der Beschwerdeführung,
wurde bei der Urteilsfindung der gesamtgesellschaftliche Rahmen
nicht ausreichend berücksichtigt, der dem Verfahren gegen Öcalan
zu Grunde lag. Zwar ist eine Beschwerde vor dem Europäischen
Gerichtshof nur als Individualbeschwerde zulässig, eine völlige
Außerachtlassung des gesellschaftlichen Hintergrundes ist
aber zu mindest rechtlich umstritten. Zweifelsohne ist Abdullah
Öcalan ein Individuum, gleichzeitig aber ist er auch das Produkt
eines Konfliktes, für den er im Imraliverfahren einseitig persönlich
verantwortlich gemacht wurde.
Indes haben die Anwälte Öcalans Berufung gegen das Urteil
angekündigt. Aber auch die Türkei ist unzufrieden. Auch
sie hat umgehend ihre Berufung angekündigt. Ist doch mit der
Feststellung, das Verfahren gegen den Kurdenführer sei unfair
gewesen, der Status seiner Person deutlich geworden. Abdullah Öcalan
ist ein politischer Gefangener, der auf Grund eines ungelösten
Konfliktes in Gefangenschaft geraten ist. Deutlich wird aber auch,
dass Recht die Politik nicht ersetzen kann. Dies wiederum schließt
die Verrechtlichung von Politik nicht aus. Die Diskussion bzw. der
Konflikt über internationale rechtliche Gremien wie den Internationalen
Gerichtshof in Den Haag zeigt, dass diesbezügliche Auffassungen
zur Disposition stehen. Gerade deshalb hätte man vom Europäischen
Gerichtshof erwarten können, dass er zu mindest die politische
Dimension des Fall Öcalan in seiner Urteilsfindung berücksichtigt.
Das jetzt ergangene Urteil mag auf den ersten Blick salomonisch
erscheinen, in dem oben genannten Punkt jedoch ist es unbefriedigend.
Indes harrt die kurdische Frage immer noch ihrer Lösung. Von
der anfänglich hoffnungsvollen Aufbruchstimmung, die mit der
einseitigen Beendigung des Krieges durch die PKK und den Rückzug
ihrer bewaffneten Kräfte auf Territorien außerhalb der
Türkei entstand, ist wenig geblieben. Im Gegenteil. Alles deutet
auf eine erneute Konfrontation in der kurdischen Frage hin. Die
Menschenrechtslage in der Türkei ist weiterhin katastrophal.
Immer noch sind Folter und staatliche Willkür an der Tagesordnung.
Das heute ergangene Verbot der Demokratischen Partei des Volkes
(HADEP) und der gleichzeitige Verbotsantrag gegen die DEHAP zeigen,
wie weit die Türkei noch von einer EU-Kompatibilität entfernt
ist. Gleichzeitig ist es eine weitere Bestätigung der Annahme,
dass die Türkei im Windschatten einer amerikanischen Intervention
im Irak glaubt, in klassischer Manier mit der kurdischen Frage verfahren
zu können. Die Verschärfung der Isolationshaftbedingungen
von Abdullah Öcalan ist nur ein Kristallisationspunkt, an dem
diese systematische Zermürbungspolitik deutlich wird. Dies
lässt zwangsläufig nur den Schluss zu, dass die Türkei
an keiner friedlichen Lösung der kurdischen Frage interessiert
ist. Schon die massive Zunahme von staatlicher Repression gegen
Mitglieder und Sympathisanten der pro-kurdischen DEHAP sowie die
konzentrierten Militäraktionen gegen kurdische Selbstverteidigungskräfte
in den letzten Monaten haben dies angedeutet.
Abdullah Öcalan warnte unterdessen vor einer Ausweitung des
Konfliktes, sollte die Türkei den Süden Kurdistans (Nord-Irak)
militärisch besetzen. Im ersten Gespräch mit seinen Anwälten
nach viermonatiger Besuchssperre äußerte er sich besorgt
darüber, dass eine Ethnisierung des Konfliktes möglich
sei, wenn Chauvinismus und Nationalismus in den Vordergrund träten.
Dies gelte gleichermaßen für die Türkei und die
Kurdenführer Talabani und Barzani. Nach wie vor ist eine demokratische
Lösung der kurdischen Frage möglich. Es sei nun an der
Türkei einen Schritt in die richtige Richtung zu tun. Die Regierung
Erdogan müsse den Boden für eine friedliche Lösung
bereiten. Grundvoraussetzung hierfür wäre den Dialog mit
den Kurden zu suchen. Weiterhin arbeite man an einer demokratischen
Lösung innerhalb der politischen Grenzen der Türkei. Erst
eine vollständige Demokratisierung der Türkei und die
Schaffung der rechtlichen Grundlage für die Rückkehr in
das Zivilleben, würden die Auflösung der eigenen bewaffneten
Kräfte möglich machen.
Diese Haltung kommt auch in den jüngsten Stellungsnahmen des
Freiheits- und Demokratie Kongresses Kurdistans zum Tragen. Zwar
habe man den Verteidigungskrieg erklärt, dennoch hoffe man
auf eine Veränderung in der momentanen Kurdenpolitik der Türkei,
die derzeit auf einen erneuten Krieg gegen die Kurden hinauslaufe.
Eine wirkliche Veränderung dieser Haltung könne diesen
Verteidigungszustand auch wieder beenden. Ein erneuter Krieg werde
die kurdische Frage nicht lösen und sei auch nicht im Interesse
der Türkei.
Die kurdische Karte ist wieder einmal im Spiel um eine mögliche
Umgestaltung des Mittleren Ostens. Allzu oft haben die Kurden dieses
Spiel verloren, weil sie so zum Spielball fremder Mächte wurden.
Eine Wiederholung dieses Vorgangs wäre fatal. So überrascht
nicht, dass auch das Urteil vom europäischen Gerichtshof in
Straßburg zum Bestandteil derartiger Bestrebungen zu werden
droht. Die internationalen Reaktionen, aber auch diejenigen in der
Türkei lassen derartiges befürchten. Zwar ist ein erneutes
Verfahren gegen Abdullah Öcalan nicht ganz unrealistisch. Dies
wird aber nur dann fruchtbare Ergebnisse erzielen, wenn es den Hintergrund
des türkisch-kurdischen Konfliktes mit einbezieht. In keinem
Konflikt ist nur eine Seite beteiligt. Das gilt insbesondere auch
für die Türkei. Erst wenn der Wille zu einer Lösung
besteht, kann auch das Recht eine positive Rolle spielen. So auch
im Fall des Europäischen Gerichtshofes. Nur wenn die europäische
Staatengemeinschaft ihr Nicht-verhalten in der kurdischen Frage
aufgibt, um konstruktiv zu einer Lösung beizutragen, kann das
europäische Recht eine konstruktive Dynamik bei einer Lösung
entwickeln.
Mit seinem Urteil hat der Gerichtshof einen positiven Schritt getan.
Indem er jedoch den politischen Hintergrund weitgehend ignoriert,
leistet er keinen Beitrag zur Lösung.
Diese wird allerdings ohne den Vorsitzenden des KADEK nur schwerlich
möglich sein. Die Forderung nach seiner Freilassung mag zur
Zeit unrealistisch erscheinen. Die Aufrechterhaltung dieser Forderung
gebietet jedoch die politische Vernunft.
Schluss mit der Isolationshaft - Freiheit für Abdullah Öcalan
- Frieden in Kurdistan und der Türkei
(Quellen: Pressemeldungen der Nachrichtenagenturen AFP, AP und MHA
vom 12. und 13. März 2003; Medya-TV; Pressemitteilung der Öcalananwälte
vom 13. März 2003)