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Kein Waffenstillstand kann auf Dauer einseitig bleiben In der Türkei ist vergangene Woche der Inhalt des geplanten Reuegesetzes veröffentlicht worden. Auch der neue Name („Gesetz zur Integration in die Gesellschaft“) kann nicht darüber hinweg täuschen, dass es in seiner Logik den im Laufe der Jahre erlassenen sechs Reuegesetzen entspricht und damit in keiner Weise zu gesellschaftlichem Frieden beitragen kann. Nach dem nun im Kabinett vorliegendem Entwurf trifft das Gesetz ausschließlich auf Guerilla-Kräfte zu, die mit dem Staat zusammenarbeiten und nicht an bewaffneten Aktionen beteiligt gewesen sind. Diejenigen, die bewaffnet gekämpft haben, können nach Angaben von Innenminister Aksu mit Strafminderung rechnen, wenn sie sich selbst, ihren Kampf und ihre MitkämpferInnen verraten und »Informationen preisgeben«. Die Unfähigkeit des türkischen Staates, zu einer Lösung der kurdischen Frage beizutragen, lässt gefährliche Entwicklungen vermuten. Seit knapp fünf Jahren hält die kurdische Seite einen einseitigen Waffenstillstand ein. Vor vier Jahren wurden auf Aufruf von Abdullah Öcalan die bewaffneten Einheiten aus dem Staatsgebiet der Türkei abgezogen und damit der Krieg gestoppt. Innerhalb dieser vier Jahre ist es zu einigen Fortschritten gekommen. Niemals zuvor wurden so viele zivilgesellschaftliche Institutionen und Initiativen ins Leben gerufen. Der konsequent demokratische Kampf der kurdischen Bevölkerung und der zivilgesellschaftlichen Kräfte in der Türkei hat zu Diskussionen in Medien und Öffentlichkeit geführt, die zuvor undenkbar gewesen wären. Aber trotz einiger kosmetischer Veränderungen im Rahmen der EU-Anpassungsgesetze haben die Angriffe des türkischen Staates auf allen Ebenen niemals aufgehört. Nach wie vor folgt der Staat der Logik von Vernichtung und Verleugnung kurdischer Identität. Die Angriffe richten sich gegen die demokratischen Forderungen der Bevölkerung und hierbei insbesondere der Frauen, sowie gegen die Guerilla, die sich in Verteidigungsposition befindet. Der Fall von Gülbahar Gündüz, die Mitte Juni von vier Zivilpolizisten in Istanbul entführt und vergewaltigt wurde, ist nur ein Beispiel, das weltweit bekannt wurde (siehe Anhang). Ein Waffenstillstand ist einseitig auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten. Die kurdische Seite hat mehrmals betont, dass sie sogar bereit ist, die Waffen niederzulegen, wenn eine Partizipation am politischen Prozess über demokratische Reformen ermöglich wird. Im Verlauf der Beratungen um ein Amnestie-Gesetz hätte der Staat die Möglichkeit nutzen können, zu einem dauerhaften Frieden beizutragen. Stattdessen beharrt er auf der Illusion, die kurdische Frage könne mit einer Fortsetzung der seit Jahrzehnten erfolglosen betriebenen Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gelöst werden. Es wird versucht, den Widerstand zu beseitigen, anstatt die Ursachen für den Widerstand. Der türkische Staat scheint seine historische Chance vertan zu haben. Der jetzt veröffentlichte Gesetzesentwurf und die Angriffe auf die Kampagne für gesellschaftlichen Frieden und demokratische Partizipation machen dies deutlich. Als Kurdisches Frauenbüro für Frieden sind wir der Überzeugung, dass eine Demokratisierung und Frieden zum Wohle aller in der Türkei lebenden Menschen sind und darüber hinaus einen positiven Einfluss auf die gesamte, sich in einem Veränderungsprozess befindliche Region haben können. Aber solange der türkische Staat nicht seine patriarchal geprägte Denkweise ändert, gemäß der ein Frieden nur über Vernichtung einer Seite entstehen kann, solange gestehen wir allen, die vernichtet werden sollen, das Recht auf Selbstverteidigung zu. Vom Kurdistan-Kongress für Freiheit und Demokratie (KADEK) ist angekündigt worden, der Türkei eine letzte Frist bis zum 1. September 2003 zu gewähren. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass eine Lösung nur über einen Dialog möglich ist. Als Vermittler zwischen Staat und KADEK hat sich die Demokratische Volkspartei (DEHAP) angeboten. Daraufhin haben die Demokratieplattform Diyarbakir, ein Bündnis von Dutzenden zivilgesellschaftlichen Organisationen, sowie die Initiative „Mütter für den Frieden“ ebenfalls ihre Bereitschaft erklärt, als Vermittler zur Verfügung zu stehen. Wir rufen den türkischen Staat dazu auf, diese vorläufig letzte Möglichkeit, einen erneuten Ausbruch von Krieg und Gewalt zu verhindern, unter allen Umständen zu nutzen.
---------------------------------------------------------------------- Wir dokumentieren eine Presseerklärung des KADEK-Präsidialrats zum geplanten Reuegesetz der türkischen Regierung: Presseerklärung Die
Regierung hat angekündigt, dass das zuvor als ‘Reuegesetz’
bezeichnete Gesetz unter dem Namen ‘Gesetz zur Integration in die
Gesellschaft’ verabschiedet werden wird. Als Ziel des Gesetzes wird
eine Entwaffnung und damit die Beendigung des ‘Terrors’ genannt.
Der genaue Inhalt des Gesetzesentwurfs ist zwar noch nicht vollständig
veröffentlicht, aber an die Medien wurde lanciert, dass außer
der Führungsebene Organisationsmitglieder von einem Strafnachlass
profitieren können. Diese demokratischen Reformen, die wir auch Gesetze für gesellschaftlichen Frieden nennen können, müssen folgendes beinhalten: 1-
Die Verleugnung kurdischer Identität muss aus der Verfassung und
Gesetzgebung verschwinden. Die kurdische Identität muss gesetzlich
anerkannt und respektiert werden. Wenn
diese rationalen und bescheidenen Forderungen unseres Volkes, dem alle
Rechte genommen worden sind, erfüllt werden, wird in der Türkei
ein bleibender Frieden und Ruhe einkehren. Als strategische Partner werden
zwei untrennbare Völker die Türkei zu einem der stärksten
Länder im Mittleren Osten und der Welt machen.
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Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. Düsseldorf, 1. Juni 2003 Pressemitteilung Frauendelegation in Istanbul unter ständiger Beobachtung
Anlass für die Delegationsreise war die Verschleppung, Folter und Vergewaltigung von Gülbahar Gündüz am 14. Juni 2003 durch vier Männer, die sich als Zivilpolizisten zu erkennen gaben. Die Frauendelegation war von den Frauen der Demokratischen Volkspartei (DEHAP) eingeladen worden. An Gülbahar Gündüz wurde ein Dossier mit Grußbotschaften aus aller Welt überreicht. Ein Interview mit Gülbahar befindet sich im Anhang. In Gesprächen wurde deutlich, dass der staatliche Angriff gegen Gülbahar kein Einzelfall ist. So erfuhr die Delegation, dass am 21. Juni 2003, als in Sarachane als dem Ort der Verschleppung Gülbahars eine große Protestkundgebung von der Polizei unter dem Motto “Schlagt zuerst die Frauen” brutal aufgelöst wurde, versucht wurde, die Vorsitzende der DEHAP-Frauenkommission von Istanbul-Gaziosmanpasa zu entführen. Ihr wurde gedroht, sie in einen entlegenen Wald zu bringen und zu vergewaltigen. Nur durch einen glücklichen Zufall konnte sie entkommen. Ihre Arme sind voller Blutergüsse. Als Gülbahar Gündüz Anzeige stellen wollte, sollten möglichst viele Frauen sie begleiten. Einer DEHAP-Aktivistin, die zu diesem Zweck unterwegs war, um andere Frauen zu mobilisieren, wurde auf der Straße damit gedroht, dass ihr dasselbe passieren würde wie Gülbahar, wenn sie ihre Aktivitäten nicht einstelle. Einen Tag vor Gülbahars Entführung fand der erste Prozesstag gegen vier Polizisten der Antiterrorabteilung von Istanbul-Vatan statt. Sie sind angeklagt, die beiden DEHAP-Mitglieder Sunay Yesildag und Naciye Cokaltin, die kurz vor den Wahlen im November letzten Jahres Stadtteilarbeit geleistet haben, festgenommen und sexuell misshandelt zu haben. Die Angeklagten sind offiziell nicht zum Gerichtstermin erschienen, zwei von ihnen haben sich aber getraut, zivil auf dem Korridor des Gerichtes aufzutauchen. Die Frauen haben sie wiedererkannt. Wie der Delegation mitgeteilt wurde, sind in den vergangenen vier Monaten sieben Menschen entführt und misshandelt worden. Die fünf Frauen darunter wurden auch sexuell gefoltert. Neben Gesprächen bei der DEHAP, dem Menschenrechtsverein IHD, der Initiative „Mütter für den Frieden“, den Frauenprojekten Amargi, Katagi und Gökkusagi u.a. führten die Delegationsteilnehmerinnen Gespräche im deutschen und holländischen Konsulat, bei denen sie über den Fall Gülbahar Gündüz informierten und eine Beachtung der Menschenrechtssituation in Lageberichten forderten. Außerdem informierten sie europäische Politikerinnen und Politiker per Fax über die Situation in Istanbul. Die Delegation stand während ihres Aufenthaltes unter ständiger Beobachtung der Polizei, die sich sogar selbst am ersten Tag bei den Teilnehmerinnen vorstellte. Die Delegationsteilnehmerinnen werden über den Verlauf der Reise einen Bericht schreiben, der in Kürze veröffentlicht werden wird. Dieser und weitere Informationen zu den Angriffen auf Frauen in der Türkei sowie zur aktuellen Kampagne für gesellschaftlichen Frieden und politische Partizipation können bei uns im Büro angefragt werden.
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Interview: Marifet Kaya/Susanne Rössling, Istanbul
Die Kurdin Gülbahar Gündüz ist Mitglied des Istanbuler Frauenvorstands der Demokratischen Volkspartei (DEHAP). Dort ist sie derzeit aktiv für eine »Generalamnestie« für politische Gefangene, Exilanten und die ehemalige Guerilla. Die 30jährige Textilarbeiterin ist alleinerziehende Mutter einer 10jährigen Tochter. F: Sie wurden am 14.Juni verschleppt und misshandelt (siehe jW vom 18.Juni). Wie geht es Ihnen heute? Inzwischen geht es mir wieder besser, vor allem, weil ich sehr viel Unterstützung bekommen habe. Sicher haben die Täter gedacht, dass ich in der DEHAP von dem Angriff berichten würde, und sie also die Parteifrauen einschüchtern könnten. Sie haben nicht damit gerechnet, dass der Angriff so konkret, schnell und weltweit öffentlich wird. Ich habe ihnen ihre eigene Dummheit gezeigt. Das bedeutet für mich einen Sieg. F: Wer waren die Täter? Es waren vier Personen. Als ein unbeteiligter Mann gegen meine Entführung eingreifen wollte und rief, sie sollten mich loslassen, antwortete einer der Entführer, er solle still sein, sie seien Polizisten. F: Es ist schwer und folglich ungewöhnlich für eine Frau, die vergewaltigt wurde, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Was hat Sie zu diesem mutigen Schritt bewogen? Ich hatte zwei Möglichkeiten: Entweder zu schweigen und jahrelang mit schweren psychischen Folgen zu leben – und das war auch das Ziel der Täter. Oder ich musste sprechen. Außerdem habe ich diesen Angriff nicht als gegen mich persönlich gerichtet begriffen, sondern als einen Angriff auf die Kampagne für eine Generalamnestie. Nachdem ich die Tat öffentlich gemacht habe, haben einige Frauen nach Jahren zum ersten Mal erzählt, dass auch sie vergewaltigt wurden. Erst jetzt konnten sie darüber reden. F: Was, denken Sie, waren die Motive des Überfalls? Das Motiv war einzig und allein, die Frauen einzuschüchtern und die Kampagne zu stoppen. Es gibt Foltermethoden, die hinterlassen keine Spuren. Neben medikamentöser gehört dazu auch sexuelle Folter, die schwer nachzuweisen und nicht sichtbar ist und natürlich die Betroffenen zum Schweigen bringen soll. Bei mir haben sie ganz bewusst sichtbare Spuren hinterlassen, angefangen mit dem Ausdrücken von Zigaretten in meinem Gesicht. Ich habe die Arme und Beine voller Blutergüsse sowie große Schürfwunden auf dem Rücken. Die Täter wollten die Frauen einschüchtern und die Kampagne stoppen. F: Wie haben Ihre Eltern, Verwandte und Freundinnen reagiert? Ich erhielt von allen Freunden und Freundinnen aus der Partei viel Unterstützung. Auch Menschen aus anderen Organisationen der Bewegung standen mir bei, »Friedensmütter«, die Frauenvereine »Amargi« und »Gökkusagi«, die Frauenplattform von Istanbul und vielen andere – auch viele aus dem Ausland. In Indien sind Frauen vor das türkische Konsulat gegangen, um zu protestieren. Zu meinen Eltern habe ich schon lange keinen engen Kontakt mehr. Andere Verwandten haben gesagt: »Was hast du uns angetan?« Das war die erste Frage. Dann habe ich gleich den Hörer aufgelegt. Meine Schwester, die nicht politisch aktiv ist und wo ich mir nicht sicher war, wie sie reagiert, war sehr solidarisch. Zu meiner Überraschung interessiert sie sich jetzt für die politische Arbeit. F: Sind weitere Proteste geplant? Gehen Sie juristisch gegen die Täter vor? Ich habe Anzeige erstattet. Ich werde den juristischen Weg bis zum Ende gehen – wenn es sein muss, bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Und wir werden verstärkt gegen die sexuelle Folter kämpfen. Es gab nach meinem Fall zwei weitere Entführungsversuche und Bedrohungen. Und es gab Kundgebungen dagegen, und es wird Demonstrationen für eine Generalamnestie geben. Unsere Kampagne läuft noch bis zum 15. Juli. Der Protest gegen diese Art von Folter ist ein Teil davon. Wir fordern außerdem demokratische Partizipation. Und Frieden natürlich. |
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