In
Gesprächen mit seinen AnwältInnen konkretisierte Abdullah
Öcalan erneut seine Vorschläge für einen Friedensprozess
in der Türkei und dem Mittleren Osten. Hier eine zusammengefasste
Mitschrift der Anwälte der letzten beiden Besuche Anfang Juli 2003.
In seiner Erklärung weist Öcalan nochmals darauf hin, dass das Ziel des Kongresses für Freiheit und Demokratie in Kurdistan nicht die Errichtung eines Bundesstaates sein könne. Insbesondere unter Bezugnahme auf die Ambitionen der vorherrschenden Parteien in Südkurdistan sagte er: „Ich stelle mich nicht gegen ihre Versuche, einen Staat zu gründen. Sollten sie dies tun, würden auch wir eine Reihe von Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen. Allerdings würde eine Staatsgründung kaum segensreiche Entwicklungen mit sich bringen, so dass wir statt dessen einen Volkskongress Kurdistans bevorzugen würden, und zwar nicht als Notlösung, sondern aufgrund philosophisch-ideologischer Erfahrungswerte. Ich bin ebenso wenig Etatist, wie ich Anarchist bin. Unser Ziel ist nicht die pauschale Abschaffung des Staates; doch meine politische Arbeit hält eine klare Distanz zu Staat und etatistischen Auffassungen von Fortschritt. So wünsche ich mir die Einrichtung eines Kongresses, der als oberstes Organ des kurdischen Volkes fungieren kann, ohne aber ein Staatsorgan zu sein. Weder soll er wie der bestehende Nationalkongress Kurdistans (KNK), noch wie der Kongress für Freiheit und Demokratie in Kurdistan (KADEK) aufgebaut sein. Dennoch braucht diese Struktur ein gewisses Profil bzw. eine politische Identität. Sie muss sich deutlich von den in unserer Region so verbreiteten staatsähnlichen Parteistrukturen unterscheiden. Es geht darum, eine Kultur des demokratischen Kompromisses zu entwickeln, indem weder direkte Konfrontationen mit Staaten eingegangen werden, noch von Rechtsansprüchen abgesehen wird. Damit kann eine Alternative zu den traditionell hierarchisch strukturierten Gesellschaften, zu Klassentrennung und Sklaverei geschaffen werden, wie sie den Kurdinnen und Kurden derzeit aufgezwungen werden. Solch ein Kongress ist eine angemessene, weil realistische und reichhaltige Lösungsstrategie, die den Kurdinnen und Kurden einen Maximalgewinn an Freiheit bieten kann anstelle von Versklavung. Wir brauchen keinen Staat, dessen Gründung sich dieser oder jener Fremdmacht verdanken würde. Freiheit kann durch einen Volkskongress erkämpft und verteidigt werden.“ Öcalan betonte, er werde aus seiner Haft heraus die Realisierung seiner Vorschläge verfolgen, da es ihm darum gehe, weitere Katastrophen und Blutvergießen zu verhindern, die der Bevölkerung im Falle fehlschlagender Entwicklungen drohten. Auch seine eigene Partei, den KADEK, würde er kritisieren, wenn dieser sich einer anderweitigen Politik verschreibe: „In meiner Vorstellung von Sozialismus gibt es keinen Platz für starre bürokratische Apparate und klassische linke Dogmen“. Öcalan wies ferner darauf hin, dass der Kampf der Kurdinnen und Kurden um Freiheit auch die Türkei aus dem Sumpf der wiederholten Krisen zu ziehen vermöge. Seine Botschaft: „Die Türkei vor der Spaltung zu retten beinhaltet auch und gerade, dass die Kurdinnen und Kurden sich ihrer Rechte und Freiheiten aktiv annehmen. Wirkliche türkische Patrioten und Demokraten dürfen sich nicht daran festbeißen, eine Lösung des Konfliktes zu verhindern und somit zum Erstarken von Nationalismen auf beiden Seiten beitragen.“ Der inhaftierte kurdische Politiker rief in Erinnerung, dass die Türkei noch immer keine klare Entscheidung zugunsten der Demokratie getroffen hätte. Sollte diese nicht erfolgen, wäre die unausweichliche Folge ein neuer Krieg. Den jüngsten bewaffneten Zusammenstössen und der Vergewaltigung der kurdischen Frauenrechtlerin Gülbahar Gündüz durch Istanbuler Polizeibeamte entnehme er, dass es innerhalb des türkischen Staates schwere Grabenkämpfe gebe: „Ein nicht zu unterschätzender und weiterhin an Stärke gewinnender Teil will der Demokratie den Weg bereiten, sowohl nach innen als auch mit der Perspektive eines EU-Beitrittes. Dies heißt jedoch nicht, dass es nicht auch eine antidemokratische, rassistisch-chauvinistische Fraktion innerhalb des Staates gibt. Sowohl innerhalb der Gesellschaft selbst als auch im Staat haben sich diese letzteren Kräfte eingenistet. Und diese Auseinandersetzung ist kein bloßer Schaukampf oder ein simples Tauziehen. Vielmehr gibt es bereits seit der Republikgründung eine Tradition des Bandenwesens innerhalb des Staates. So organisierten bereits zu Lebzeiten Mustafa Kemals Militärs wie Topal Osman ihre eigenen Machtstrukturen. In den 90er Jahren führten sie bis hin zu einer Erschütterung des Staates in seinen Grundfesten: Staatspräsident Özal wurde 1993 Opfer eines Anschlages und starb später unter dubiosen Umständen, ähnlich wie der ranghohe Militär Esref Bitlis, der sich für die Disziplinierung der Streitkräfte im Rahmen geltenden Rechts ausgesprochen hatte. Sowohl das Bombenattentat gegen meine Person in Damaskus 1996 wie das tödliche Attentat auf den liberalen, antifundamentalistischen Journalisten Ugur Mumcu und der inszenierte Feuertod von über 30 alevitischen, regimekritischen Intellektuellen in Sivas, die durch einen islamistischen Mob bedrängt waren, sind Folgeerscheinungen der Mafiotisierung im Inneren des Staatsapparates.“. Öcalan betonte, die Vergewaltigung von Gülbahar Gündüz sei ein finsterer Angriff, der sich genau in diesem Fahrwasser vollzogen habe: „Bei den Tätern handelt es sich um eine Gruppe mit genügend Macht, um aus dem Inneren des Staates heraus dem Staat Paroli zu bieten. In den Jahren des bewaffneten Konfliktes entführten und ermordeten sie Bürgerrechtsaktivistinnen und -aktivisten. Jetzt lassen sie das Vergewaltigungsopfer bewusst am Leben, um ein abschreckendes Beispiel für die Frauenbewegung zu schaffen. Diese Gruppe ist nach wie vor gefährlich, sie benutzt den Staat um durch Morde, Vergewaltigungen etc. Stoff für neue Konflikte zu schaffen. Dies sind provokative Handlungen mit sehr schwerwiegenden Folgen. Denn die Vergewaltigung einer Frau kommt der Vergewaltigung von Millionen von Frauen gleich. Gündüz ist DEHAP-Aktivistin, und der Angriff auf sie galt allen DEHAP-Mitgliedern. Ich hoffe nur, dass das Schreckgespenst der paramilitärischen Gewalt nicht noch einmal aus seiner Gruft aufsteht. Um eben dies zu verhindern, rufe ich den Staat dazu auf, diese Handlungen effektiv zu unterbinden. Denn schon ein oder zwei weitere Vorfälle dieser Art führen unweigerlich in den Bürgerkrieg. Sowohl die Regierung als auch die zivilgesellschaftlichen Organisation müssen diesen Fall zur Sprache bringen, ernst nehmen und aus ihm lernen, um einer weiteren Eskalation vorzubeugen. Eine Politisierung mit dem Ziel der Demokratisierung des Staates ist die wichtigste Gegenmaßnahme.“ „Seit fünf Jahren diskutieren wir, ob unsere Zukunft Frieden oder Krieg bringen wird. Wir haben uns in Geduld geübt. Ich habe über meine Verurteilung zum Tode hinwegzusehen versucht. Noch zu Zeiten meines Aufenthaltes in Syrien habe ich versucht, von unserer Seite aus Vorkehrungen zu treffen, damit Türken und Kurden nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Sowohl während meines Europaaufenthaltes als auch über meine Haftzeit hinweg habe ich aus eigener Initiative heraus einen Prozess einzuleiten versucht, der solche Manipulationsbestrebungen durchkreuzt.“ Der weiterhin inhaftierte KADEK-Vorsitzende hat nach eigenen Angaben einen Brief an die türkische Regierung verfasst, in dem er darauf hinweist, dass die aktuellen Diskussionen über einen Gesetzesentwurf zur Wiedereingliederung der KADEK-Aktivistinnen und Aktivisten in die Gesellschaft zu kurz greifen. Insbesondere sei es trügerisch, die Kommandoebene der Bewegung von der Möglichkeit der Wiedereingliederung auszusparen und von allen restlichen AktivistInnen eine regelrechte Kapitulation zu erwarten. Diese Logik laufe darauf hinaus, die führenden Kader in den Bergen zu isolieren und den Rumpf der Bewegung zu zerschlagen. Dieser Ansatz sei faschistoid und somit nicht an der Möglichkeit einer Lösung orientiert, sondern fordere geradezu kriegerische Auseinandersetzungen heraus. Insbesondere in Verbindung mit der häufigen Verweigerung von Verteidigergesprächen seitens der Behörden ergebe sich durch diese Trennung der KADEK-Führung vom Rest der kurdischen Bewegung das Bild der Umzingelung mit dem Ziel der Liquidierung. „Dabei hoffen wir doch auf das
Gegenteil“, so Öcalan weiter: „Es wird sich allerdings
innerhalb weniger Wochen herausstellen, ob von Isolation und Umzingelung
abgelassen wird, oder ob eine weitere Einschränkung auch meines
Aktionsradius als schleichender Tod zur Zermürbung unserer Freiheitsbestrebungen
betrieben wird. Insbesondere wenn die Repressionen gegen die Bevölkerung
und die militärischen Operationen gegen die Guerilla andauern
sollten, so ist dies eine Kriegserklärung. Die Bevölkerung
wird sich sicher ihre eigene Meinung bilden. Unsere Erwartung jedenfalls
besteht nicht in einem Amnestiegesetz, sondern in einem neuen Fahrplan
zur Lösung der kurdischen Frage.“
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