Ein
politischer Projektbericht zu Irakisch-Kurdistan: |
Von
Mehmet Sahin |
Unterschiedliche
Geschichtsschreibungen und Interessen
Die Glücklichen und Unglücklichen des Krieges und des „Friedens“
im Irak
Die Geschichtsschreibung ist so alt wie die Menschheit und wurde immer
aus unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln geschrieben. Auch
heute, im Jahre 2003 werden im Irak zwei voneinander abweichende Geschichten
geschrieben.
Millionen von Menschen z.B. sind mit dem Sturz von Saddam Hussein überglücklich,
weil sie von einem Regime befreit sind,
- dass
Gefangene mit Handgranaten und TNT in die Luft sprengte,
-
dass die Menschen zwang, ihre verhafteten Angehörigen eigenhändig
zu töten,
-
dass die Bevölkerung einer ganzen Stadt samt ihrer Tiere qualvoll
vergaste und vernichtete,
-
dass Leib und Leben sowie Hab und Gut von Hunderttausenden von Menschen
durch die „Anfal-Offensive“ in die Hände seiner Soldateska
übergab, mit der Folge, dass Hunderttausende Menschen verschleppt,
aus ihren Siedlungen vertrieben und hingerichtet wurden.
Andererseits betrachtet eine Vielzahl von Menschen den Sturz der Saddamdiktatur
als Unglücksfall,
-
weil sie Angst haben ihre Privilegien, die auf Leid und Unheil Anderer
basieren, zu verlieren,
-
weil sie Angst haben durch den Untergang eines Regimes, dem sie selbst
angehörten und dadurch in vielerlei Hinsicht profitierten, selbst
mit unterzugehen,
-
weil sie Angst haben die Felder und Häuser, die sie seit Jahrzehnten
besetzt hielten, ihren ursprünglichen Eigentümern zurückzugeben.
Die
Liste der Glücklichen und Unglücklichen läßt sich
jedoch noch erweitern.
So hatte auch die Haltung zum Krieg gegen das Saddamregime zwei entgegengesetzte,
180 Grad voneinander abweichende Seiten.
Sowohl das Lager der Kriegstreiber um „Bush & Co.“, als
auch jenes der Antikriegsallianz, der Troika wurde von ihren egoistischen
nationalstaatlichen Eigeninteressen bewegt. Es ging dabei keineswegs um
Menschen, die vor, während oder nach dem Krieg ihr Leben verloren
haben oder verlieren würden. Es ging lediglich und hauptsächlich
um Wirtschaftsinteressen, um die grünen Dollars oder pastellgefärbten
Euroscheine.
Auch ich war, wie viele andere Menschen, bei der Frage nach Krieg oder
„Frieden“ gespalten, weil ich wusste, dass in der Zeit, die
als „Friedenszeit“ deklariert wurde, tagtäglich Hunderte
von Menschen starben, Tausende, ja Zehntausende Menschen Folterseancen
unterzogen und einem langsamen und qualvollen Tod ausgesetzt waren. Die
Anzahl der Menschen, die in jenen 12 Jahren der sogenannten „Friedenszeit“
starben, wird von internationalen Menschenrechtsorganisationen auf etwa
eine halbe Million Menschen geschätzt. Hinzu kommen die Vertriebenen,
die Gefolterten und Verjagten deren Anzahl um ein vielfaches höher
liegen dürfte.
Ich war trotzdem mit einem Teil meines Herzen bei den Montagsdemonstrationen
in Köln, habe versucht nach Kräften mitzuhelfen, weil das Blut
der Kriege á la Bush and Blair oder der Troika andere vergossen
haben und ihre Opfer immer aus der Schicht der Untersten stammen, ob Zivil
oder in olivgrüner Uniform.
Wie etliche Menschen, war auch ich froh, dass der Krieg mit „wenigen“
Opfern schnell zu Ende ging und die zunächst befürchteten Opferzahlen
ausblieben.
Humanitäre
Nothilfe in Irakisch-Kurdistan
Gleich nach Kriegsausbruch hat Pro Humanitate – Internationaler
Verein für Frieden und Gerechtigkeit - beschlossen in Irakisch-Kurdistan
humanitäre Hilfe zu organisieren. Um aber dorthin zu gelangen, musste
das Team 6 Wochen warten, da fast alle Nachbarstaaten ihre Grenzen sowohl
für den Waren- als auch den Personenverkehr geschlossen hatten. So
gelang das Team von Pro Humanitate am 17. Mai nach Irakisch-Kurdistan,
um als einer der ersten humanitären Organisationen vor Ort den Menschen
zu helfen.
Dank der finanziellen Unterstützung der Missionszentrale der Franziskaner
(MZF) und ihren engagierten MitarbeiterInnen konnten wir 45.000 Menschen
mit Hilfsgütern in Wert von 181.000 €, Grundnahrungsmitteln
und Babynahrung, mit Medikamenten und sauberem Trinkwasser sowie mit Kinderbekleidung
und Schulmaterial versorgen.
In den Regionen Qarec, Machmur, Qarakosh, Koy und Taqtaq wurden an 5.600
Familien Grundnahrungsmittel und Babynahrung sowie Hygieneartikel verteilt
(100 t Mehl, 15 t Reis, 15 t Speiseöl, 8 t Tomatenmark, 10 t Nudeln,
10 t Linsen, 4 t Milchpulver, 4 t Butterkekse, 2 t Seife und 4,5 t Waschpulver).
In 42 Dörfern in den Regionen Qarec/Machmur/Mossul und Shwon/Tschemtschemal/Kirkuk,
wo die Menschen nach 1987-1988 aus ihren Häusern und Dörfern
mit Giftgas und brutaler Gewalt der Saddam-Diktatur vertrieben wurden,
konnten wir Rückkehrerfamilien, die weder Häuser, noch Strom
und Trinkwasser haben, mit 45 Wassertanks á 2000 l, und 3100 Wasserkanistern
á 20 l beim Neuanfang helfen. Außerdem wurden in 5 Dörfern
Wasserbrunnen gebohrt und Wasserpumpen mit Generatoren installiert.
Des weiteren hat Pro Humanitate e.V.
-
in Koy und Taqtaq über 1000 Flüchtlingskindern mit Kinderbekleidung
geholfen,
-
im Flüchtlingscamp in Machmur 3085 SchülerInnen mit Schulmaterial
für ein Schuljahr unterstützt,
-
und die Krankenhäuser in Koy, Dokan und Piremegrun, die die medizinische
Versorgung für 100.000 Menschen sicherstellen, mit Medikamenten
versorgt.
Diese
Hilfsaktion wäre nicht möglich gewesen, hätte die Missionszentrale
der Franziskaner das Vorhaben nicht politisch, als auch finanziell unterstützt.
Stellvertretend im Namen Zehntausender Menschen möchten wir uns bei
der Missionszentrale der Franziskaner für diese großartige
Hilfsbereitschaft herzlich bedanken.
Wenngleich sich die Situation in Irakisch-Kurdistan deutlich vom Rest
des Iraks unterscheidet, kurdische PolitikerInnen zu recht auf ihre Aufbauleistungen
in den vergangenen Jahren verweisen und die Spuren der Unterdrückung
allmählich verschwinden, darf nicht vergessen werden, dass vor allem
in den Flüchtlingscamps noch immer eine Vielzahl von Menschen einer
ungewissen Zukunft entgegenblickt und die Wasserversorgung insbesondere
in den zum großen Teil zerstörten Dörfern der Rückkehrer
nicht gesichert ist.
Deshalb
muss die Unterstützung für diese Menschen fortgesetzt werden
-
Die Kinder im Flüchtlingscamp Machmur brauchen Kinderbekleidung
und Schuhe.
-
In Hewlêr (Erbil) brauchen Waisen- und Straßenkinder, Menschen
mit Behinderung und alte Menschen dringend Hilfe für ein menschenwürdiges
Leben.
- Die
Rückkehrer in den Dörfern um Shwon/Tschemtschemal/Kirkuk benötigen
Aufbauhilfe für die Trinkwasserversorgung.
Die Zukunft der Kurden, ihre neuen Nachbarn und die Rolle der Türkei
Nach Jahrzehntelanger Unterdrückung und unter das Joch der Fremdmächte
konnten die irakischen Kurden nach Ende des 2. Golfkrieges im Jahre 1991
einen etwa 40.000 qkm umfassenden Teil ihres Landes unter ihrer Kontrolle
bringen und seit dem selbst verwalten.
In den letzten 12 Jahren haben sie sich eine in vieler Hinsicht funktionierende
Selbstverwaltung aufgebaut, de facto einen nicht deklarierten Staat mit
einem gewählten Parlament und einer Regierung, mit einem Sicherheits-
und Justizapparat, und einem intakten Gesundheits- und Bildungssystem.
Unter dem Wirtschaftsembargo Saddam Husseins, unter den Einschränkungen
der UN und dem wirtschaftlichen Druck der Nachbarstaaten Türkei,
Iran und Syrien, haben die irakischen Kurden auch dank des UN-Programms
„Öl für Nahrungsmittel“ einen wirtschaftlich starken
Landesteil geschaffen, das sich als überlebensfähig erwiesen
hat.
Jetzt, nach dem Sturz der Saddamdiktatur, nach der Befreiung der übrigen
Teile des kurdischen Gebiets im Irak, wie Kirkuk und Musul, Xaneqin und
Mendeli bestehen neue Chancen und Perspektive für Kurden und ihre
Zukunft.
Die
neuen Nachbarn der Kurden: Die Amerikaner
Seit 4 Jahrhunderten, seit der Teilung Kurdistans im Jahre 1639 durch
den Qasr-i Shirin Pakt zwischen Osmanen und Persern, haben Kurden endlich
einen ihnen gegenüber nicht feindlich eingestellten Nachbarn, nämlich
die Amerikaner.
Bis Mitte April 2003 waren Kurden und Kurdistan von fremden Unterdrückern
umgeben. Weder über die Türkei und den Iran, noch über
den Irak und Syrien hatten die Kurden ein Fenster, eine Millimeter breite
Öffnung zur Außenwelt. Alle Wege führten auch ohne es
zu wollen, entweder nach Ankara und Teheran, oder Bagdad und Damaskus.
Auch aus dieser Notsituation heraus waren die Kurden immer wieder darauf
angewiesen mit den Unterdrückern ihrer Geschwister jenseits der Grenze
zu verhandeln, oftmals zum Nachteil der kurdischen Interessen insgesamt.
Jetzt, wo die Kurden einen neuen und ihnen gegenüber nicht feindlich
eingestellten Nachbarn haben - die Amerikaner im Irak-, offenbart sich
ihnen eine einmalige Chance. Sie sind nun nicht mehr darauf angewiesen
mit ihren Unterdrückern zu „kooperieren“, egal ob sie
in Ankara, Teheran, Bagdad oder Damaskus sitzen. In der Regel stand diese
„Kooperation“ unter dem Diktat der Unterdrücker und geriet
den Kurden insgesamt zum Nachteil. Diese „Kooperation“, manchmal
auch Kollaboration, beeinflusste und bestimmte auch die Politik der kurdischen
Parteien und verursachte blutige innerkurdische Auseinandersetzungen.
Mit den neuen Veränderungen im Nahen Osten geht diese Ära zu
Ende. Kurdische Parteien können ihre Politik jetzt frei gestalten
und ihre Kontakte untereinander auch öffentlich intensivieren, ja
sogar eine über die Grenzen hinweg gesamtkurdische Politik entwickeln.
Abnahme
der strategischen Rolle der Türkei
Mit den neuen Veränderungen im Irak und im Nahen Osten hat die Türkei
ihre strategische Wichtigkeit, die sie seit Jahrzehnten als Druck- und
Drohmittel anwendete, um vom Westen privilegiert behandelt zu werden,
verloren. Neue Impulse und Signale der Veränderungen gehen aus vom
Irak und Irakisch-Kurdistan. Die Amerikaner, die Syrien und Iran im Schach
halten, werden auch gegenüber der Türkei nicht untätig
bleiben.
Schon jetzt beschweren sich viele Verantwortliche in Zivil und in Uniform
in Ankara über das Verhalten der großen Waffenbrüder und
jahrzehnten Partner. Die Inhaftierung eines Teams der türkischen
Elitetruppen in Sulaimania und gute Zusammenarbeit mit den kurdischen
Kräften in Irakisch-Kurdistan sowie Ignorierung der türkischen
Vorbehalte gehören zum Arsenal der Unstimmigkeiten zwischen der Türkei
und den USA.
Die neuen Herren im Irak, die mit einer als Terrororganisation eingestuften
und auf die schwarze Liste gesetzten iranischen Volksmudschaheddin an
einem Tisch saßen, werden nicht zögern, das gleiche mit der
PKK/KADEK zu tun.
Die kurdischen Parteien im Irak, an erster Stelle die Demokratische Partei
Kurdistan (KDP) signalisieren ihre Bereitschaft für eine Normalisierung
der Beziehungen zur PKK/KADEK und deren legalen Status in Irakisch-Kurdistan,
wenn diese sich bereit erklärt, die Gesetze und Regeln der kurdischen
Regierung zu achten.
Die KDP-Funktionäre, amerikanische Kommandeure und türkische
Gesandte besuchten gemeinsam das Flüchtlingscamp der Kurden aus der
Türkei in Machmur/Musul, die seit über 10 Jahren dort leben,
und wollten wissen, welche Vorbedingungen erfüllt werden müssen,
damit sie eine freie Rückkehr nach Türkisch-Kurdistan unternehmen.
Die
„roten Linien“ der Türkei
Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Amerikaner jene Landkarten auf
den Tisch legen, auf denen nach dem ersten Weltkrieg die Grenzen der Türkei,
des Irak und Syrien festgelegt wurden. Einige Teile des damaligen Irak
blieben jenseits der Grenzen der Türkei und Syrien und eine Korrektur
sowohl von der Türkei als auch von Syrien wird erwartet werden. Die
Diskussion um die Korrektur der Grenzen muss aber nicht unbedingt dort
enden, wo sie angefangen hat.
Um die Beziehungen mit den Amerikanern zu normalisieren, hat die türkische
Regierung kürzlich einen hohen Beamten ins Außenministerium
nach Washington gesandt. Die „roten Linien“ der Türkei
in deren Rahmen es als Kriegserklärung galt, sollte es zu einer kurdischen
Unabhängigkeit bzw. Föderation kommen, bzw. die Gleichstellung
der Turkmenen nicht berücksichtigt werden oder die Eingliederung
der Provinzen Kirkuk und Musul in die Autonomiegebiete der Kurden umgesetzt
werden, waren in den Gesprächen kein Thema mehr. Die Türkei,
die Anfang März die Durchfahrt und Stationierung der US-Militärs
in der Türkei nicht gestattete, revidierte Ende Juni 2003 ihre Entscheidung
mit einem Regierungserlass. Ob dies die Teil- oder Vollverlegung des US-Stützpunks
Incirlik nach Irakisch-Kurdistan verhindern wird, werden die nächsten
Tage zeigen. Sicher ist aber, dass die Türkei einen Teil ihrer Brückenrolle
und ihrer strategischen Wichtigkeit verloren hat und in Kürze ihre
völkerrechtswidrig stationierten Truppen aus Irakisch-Kurdistan abziehen
muss.
Die Türkei hat die Ernstheftigkeit der Lage verstanden und versucht
daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, sei es mit den verabschiedeten
„Reformpaketen“ in Richtung EU, oder durch das neue „Reuegesetz“.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Türkei einige Rechte der
Kurden, die sie seit einiger Zeit auf dem Papier anerkannte, in die Praxis
umsetzt.
Die
Kurden zu verstehen
Die Kurden im Irak haben für ihre Freiheit und für die Befreiung
ihres Landes Kurdistan unter dem Joch der irakischen Herrscher einen sehr
hohen Preis gezahlt. Sie werden sich nicht bereit erklären, dass
man sie abermals ihrer Freiheit beraubt und wieder in die Dunkelheit der
Unterdrückung versperrt. Sie sind bereit einen neuen demokratischen,
pluralistischen und föderativen Irak mitzugestalten. All ihre Möglichkeiten
bieten sie zur Erfüllung dieses Zwecks an.
Mesud Barzani, Vorsitzender der Demokratischen Partei Kurdistan, unterstrich
anlässlich des 11 jährigen Bestehens des Parlaments in Kurdistan
am 9. Juni 2003 dieses Ziel und sagte, „wenn die neue Verfassung
den Kurden gestatte, dass sie föderal regiert werden und dass gegen
Kurdistan keine Feindseligkeiten auftreten, werden Kurden mit ihrer freien
Einwilligung mit den Arabern zusammenleben. Wenn aber die neue Verfassung
gegenüber den Kurden nicht gerecht wird, wird Kurdistan kein Teil
des vereinten Iraks bilden und die kurdischen Peshmergas nicht der irakischen
Armee angehören.“
Entsprechend den jüngsten Veränderungen im Nahen Osten sollten
die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union ihre Politik
bezüglich der Kurden neu definieren und gestalten. Deutschland und
die EU, die auf dem Balkan und Ex-Jugoslawien die Autonomiebestrebungen,
föderative Lösungen, ja sogar Gründung neuer unabhängigen
Nationalstaaten unterstützten, dürfen sich gegenüber den
Kurden nicht wie bisher verhalten und auf der Beibehaltung des Status
Quo beharren.
„Der beste Weg, um im Irak eine politische Kultur zu fördern,
die von weniger Repression gekennzeichnet ist, beginnt mit der Anerkennung
des Selbstbestimmungsrechts der Kurden im Norden. Ebenso wie die Palästinenser
das Recht haben nicht unter israelischer Herrschaft zu leben, haben die
Kurden im Nordirak das Recht nicht unter arabischer Herrschaft zu leben
- wenn sie das nicht wollen“, sagte Professor für Politikwissenschaft
an der Hebräischen Universität Jerusalem Shlomo Aviner am 8.7.03
in FAZ.
Eben darum geht es.
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