Nun
ist es amtlich. Die Europäische Kommission hat ihren Fortschrittsbericht
der Beitrittsländer veröffentlicht. Darunter auch den
zur Türkei. So habe diese zwar Fortschritte auf dem Weg der
Umsetzung der Kopenhagener Kriterien gemacht, jene würden sich
jedoch im Alltag der Türkei nur wenig bemerkbar machen. Daran
anschließend wird die Türkei aufgefordert, den verabschiedeten
Reformen auch Taten folgen zu lassen. Hier aber zeigt sich das Ausmaß
des türkischen Dilemmas. Zwar wurden in Windeseile Gesetzesänderungen
vorgenommen, die u.a. auch den Kurden mehr kulturelle Freiheiten
zugestehen, bei der praktischen Umsetzung aber kommt der Reformeifer
schnell zum Erliegen. Sowohl die allmächtigen Militärs
als auch die traditionell kemalistisch eingestellte Bürokratie
des Landes, stehen weitgehenden Reformen skeptisch gegenüber.
Dies hat zur Folge, dass die Reformen zur Zeit nur auf dem Papier
existieren. Immer noch ist die Menschenrechtssituation katastrophal.
Nach wie vor werden einfachste demokratische Forderungen der Opposition
repressiv unterdrückt. Von einem Umdenken ist nur wenig zu
spüren.
Die EU aber beschränkt sich auf ihre Beobachterposition. Der
alleinige Glaube an die evolutionär wirkenden Dynamiken, die
von den Kopenhagener Kriterien ausgehen, als Allheilmittel für
die Probleme eines Beitrittslandes, geht im Fall der Türkei
an der Wirklichkeit vorbei. So ist die kurdische Frage nicht ein
Problem unter vielen. Vielmehr stellt sie für die Türkei
das Hauptproblem dar. Weiterhin schwelt ein Konflikt, der bisher
über 40.000 Menschen das Leben kostete und Leid über Millionen
brachte. Eine Lösung steht immer noch aus. Die Lösung
eines Problems ist aber nur dann möglich, wenn es erkannt und
explizit benannt wird. Dies gilt sowohl für die Konfliktparteien
als auch für die Erweiterungsstrategen der EU. Davor ist die
EU-Kommission in ihrem aktuellen Bericht erneut zurückgeschreckt.
Ihre Rolle bleibt wenig konstruktiv. Die Wahrung von Sicherheit
und Stabilität an den derzeitigen Außengrenzen der EU
ist nicht die alleinige Aufgabe der Beitrittskandidaten. Eine aktivere
Rolle der EU ist durchaus geboten. Insbesondere dann, wenn der türkisch-kurdische
Konflikt erneut auf eine Eskalation zusteuert.
Die Haftsituation des Kurdenführers Öcalan sorgt indes
für weitere Spannungen innerhalb der kurdischen Bevölkerung
der Türkei. Häufig kommt es bei Protestaktionen zu Zusammenstößen
mit den türkischen Sicherheitskräften. Erst am vergangen
Wochenende versammelten sich in der ost-türkischen Stadt Van
15.000 Kurden, um gegen die Isolationshaft Abdullah Öcalans
zu protestieren. Seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung
am 15. Februar 2003 wird Abdullah Öcalan unter erschwerten
Bedingungen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali gefangen
gehalten. Seine Gesundheit ist durch die Isolationshaft stark angegriffen.
Die zunehmenden Zusammenstöße zwischen kurdischen Rebellen
und türkischem Militär zeigen, dass die bisherige Waffenruhe
äußerst fragil ist. Diese steht derzeit zur Disposition,
da am 1. Dezember 2003 ein einseitig verkündeter Waffenstillstand
der kurdischen Seite definitiv endet. Sollte der türkische
Staat auch weiterhin keine wirklichen Schritte zur Lösung der
kurdischen Frage unternehmen, wird ein erneuter Krieg immer wahrscheinlicher.
Ob sich dieser mit dem alleinigen Vertrauen in die Kopenhagener
Kriterien verhindern lässt, ist mehr als fraglich.