Nach langer Zeit konnten Sie ihren Mandanten zum ersten Male
wieder besuchen. Welchen Eindruck hatten Sie von Abdullah Öcalan?
Haben Sie einen Unterschied zu Ihrem letzten Besuch festgestellt?
Mark Müller: Nach anderthalb Jahren konnten wir zum ersten
Mal wieder mit unserem Mandanten zusammentreffen. Der jetzige Besuch
kam zu einer Zeit, die sowohl für die Türkei und Herrn
Öcalan als auch für Europa kritisch ist. Wir trafen einen
Menschen an, der voller Leben ist, obwohl er seit langem auf der
Gefängnisinsel Imrali gefangen gehalten wird. Während
seine Verwandten sich um seinen Gesundheitszustand sorgen, kämpft
er gegen die außerordentlich schweren Haftbedingungen an.
Bei unserem Besuch haben wir über das weiterhin vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte anhängige Verfahren und
über die aktuelle politische Entwicklung gesprochen. Die Haftbedingungen
und der schlechte Gesundheitszustand unseres Mandanten waren weitere
Gesprächsthemen.
Welchen Unterschied sehen Sie zwischen den Haftbedingungen Öcalans
und den europäischen Standards im allgemeinen Strafvollzug?
Welche Anstrengungen haben Sie zu einer Verbesserung der Haftbedingungen
unternommen? Was sind Ihre diesbezüglichen Forderungen?
Mark Müller: Vor allem gilt der Gleichheitsgrundsatz. Die gegen
Öcalan angewandte Isolationshaft steht im eklatanten Widerspruch
zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch bei den Haftbedingungen
gibt es Mindeststandards, die von den Vereinten Nationen und von
der Europäischen Menschenrechtskonvention definiert wurden.
Öcalan fordert von der Türkei nur die Einhaltung dieser
Standards. Die Menschenrechtskonvention gesteht einem Gefangenen
das Recht auf Familienbesuch, Zugang zu den Medien, auf einen angemessenen
Freigang und anwaltliche Betreuung zu. Deshalb fordern wir, dass
Öcalan dieselben Grundrechte wahrnehmen kann, die auch anderen
Gefangenen zugestanden werden.
Mittlerweile hat der Europäische Gerichtshof am 12. März
2003 ein Urteil gefällt. In dem Gerichtsbeschluss wird zu einigen
Punkten der Haftbedingungen Stellung genommen. Darauf hin haben
wir erneut eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof eingereicht,
die eine Verbesserung der Haftbedingungen zum Ziel hat. Des Weiteren
fordern wir von den Verantwortlichen der EU die politische Rolle
Abdullah Öcalans zur Kenntnis zu nehmen und dies auch von der
Türkei zu verlangen.
Tim Otty: Ich gehöre ebenfalls zu den Anwälten, die Öcalan
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vertreten.
Wie Sie wissen, haben wir beim Gerichtshof Widerspruch gegen das
am 12. März 2003 ergangene Urteil eingelegt. Mit aller Wahrscheinlichkeit
werden wir gegen Ende dieses Jahres eine Antwort erhalten. Unsere
Eingaben im Gerichtsverfahren konzentrieren sich auf die Umstände
der Entführung Öcalans in Nairobi und seine Verbringung
in die Türkei.
Hat Ihnen Öcalan eine spezielle Botschaft mitgegeben?
Mark Müller: In den letzten fünf Jahren gab Abdullah Öcalan
ausschließlich ausgewogene Statements ab. Sie bezogen sich
allesamt auf den Frieden, auf eine Einigung und auf eine demokratische
Lösung. Mir sagte er, dass Europa die kulturellen Grundrechte
der Kurden anerkennen muss. Abgesehen davon gab es im Verfahren
des letzten Jahres einige Unstimmigkeiten, die so nicht hingenommen
werden können. Deshalb fordert Abdullah eine gerechtere Vorgehensweise
des Gerichtes und die Möglichkeit einer persönlichen Darlegung
der an den Kurden begangenen systematischen Menschenrechtsverletzungen.
Im Rahmen dieser Forderung hat die Türkei nichts von Öcalan
zu befürchten.
Was erwartet Abdullah Öcalan von Ihrer Tätigkeit?
Mark Müller: Er erwartet, dass wir seine Rechte als Mensch
ebenso wie die Menschenrechte im Allgemeinen innerhalb der vom Recht
bestimmten Grenzen verteidigen. Dies tun wir bereits. Im europäischen
Kontext muss man das Öcalanverfahren genauso wie das Verfahren
von Leyla Zana betrachten. Für die europäischen Verantwortlichen
gilt das Verfahren von Leyla Zana als ein Test für die Türkei
in Fragen der Menschenrechte, Gefangenenrechte und bürgerlichen
Freiheiten. Gleichzeitig ist dies auch ein Test für die Europäische
Union. An diesem Verfahren lässt sich erkennen, ob die Türkei
schon den Stand für eine Aufnahme in die EU erreicht hat. Wir
unsererseits wollen aber auch, dass sich die Türkei an ihre
eigenen Gesetze hält und die beschlossenen Reformen tatsächlich
umgesetzt werden. In diesem Zusammenhang fordern wir die Verlegung
Abdullah Öcalans in ein anderes Gefängnis, wo er mit anderen
Gefangenen kommunizieren kann. Ich glaube, dass dies innerhalb der
nächsten zwei Jahre möglich sein wird. In dieser Frage
bin ich optimistisch.
Können Sie etwas über die Schwierigkeiten sagen, die
mit der Überfahrt auf die Insel verbunden waren?
Mark Müller: Wir waren mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert.
So gab es immer wieder Probleme mit der zeitlichen Abstimmung unserer
Anreise. Eine angemessene Betreuung unseres Mandanten wurde uns
weitgehend erschwert. Nun sind wir jedoch erst ein mal froh, mit
unserem Mandanten zusammengetroffen zu sein.
Tim Otty: Es wurden außerordentliche Sicherheitsmaßnahmen
ergriffen. Die Überfahrt hat zwei bis drei Stunden gedauert.
Wir konnten allerdings feststellen, dass die Insel zu jeder Zeit
mit dem Helikopter erreicht werden kann.
Quelle: DIHA, 16. Januar 2004; Übersetzung: Internationale
Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden
in Kurdistan"