Dialogkreis
Die
Wende in der seit zwei Jahrhunderten blutenden kurdischen Wunde
Von Mehmet Sahin
In den letzten 15 Jahren verzeichneten die Kalender in kurzer Zeit mindestens
drei wichtige Ereignisse, die aufgrund ihrer Ergebnisse miteinander eng
verbunden waren.
Mit dem Fall der Berliner Mauer ging ein ganzes System zu Ende. Mit ihm
verschwand auch der Kalte Krieg und die bis dahin aus zwei Polen bestehender
Weltordnung. Somit wurde das Gleichgewicht der Welt gestört und eine
Epoche der Hegemonialmacht der USA in einer monopolaren Welt begonnen,
dessen Ende noch offen ist.
Mit dem Anschlag auf die Zwillingstürme in New York begann der Kampf
gegen den islamischen Terror, der sein Nährboden im Sumpf der korrupten
Gewaltherrschaften in vielen islamischen Ländern gefunden hat und
während des Kalten Krieges von den westlichen Ländern gegen
das sozialistische System mit allen erdenklichen Mitteln großgezogen
wurde, um die sozialistischen Staaten mit einem sogenannten „Grünen
Gürtel“ einzukreisen.
Nach dem die islamistischen Terroristen wie z.B. in Afghanistan –
die unehelichen Kinder einer Kooperation zwischen den totalitären
und undemokratischen Regimes in den islamischen Ländern und den westlichen
Welt, an erster Stelle die USA - ihre Aufgabe erledigt haben, wurden sie
wie nutzlose Werkzeuge in eine Ecke geworfen. Da sie sich mit dieser neuen
Rolle nicht abgefunden haben, begannen sie, wie verwöhnte Kinder
überall, wo sie können, sich zu rächen.
Aufgrund seiner Grundeinstellung her kennt der politische Islam keine
Toleranz, duldet keine Verschiedenheit und in seinem Vokabular sucht man
vergeblich nach Bedeutung der Wörter „Versöhnung“
und „Frieden“. Der politische Islam agiert seit langem mit
brutaler Gewalt. „Alles andere muss sich den Regeln des Islams anpassen!“,
ist die Devise der islamischen Kleriker verschiedener Couleurs über
alle Grenzen hinweg.
Während andere Religionen sich der neuen Zeit anpassen und Fortschritte
erzielen, verzeichnet man im Islam in vieler Hinsicht eine Rückwanderung
in die alten Zeiten. Nie wurde der Islam fast in allen islamischen Ländern
so heftig politisch manipuliert und missbraucht, wie es zur Zeit geschieht.
Während das 20. Jahrhundert von den sozialen und nationalen Befreiungsbewegungen
gekennzeichnet war, wird das neu begonnene 21. Jahrhundert in den ersten
Jahren von Asien bis Amerika, von Europa bis nach Afrika vom islamischen
Terror erschüttert.
Und schließlich mit dem Sturz der Saddamdiktatur – eine Altlast
des Kalten Krieges - geht eine Ära der Regimes zu Ende, die von den
Konflikten und Widersprüchen der beiden Systeme profitiert haben.
Ob nach dem Sturz der Saddamdiktatur und der wirtschaftlichen Beweggründen
für die Irak-Offensive tatsächlich auch der angekündigte
Wendepunkt in der „globalen demokratischen Revolution“ sich
vollziehen wird, wird die Zeit zeigen. Die Zeit wird auch zeigen, ob in
Zukunft die Stabilität nicht mehr auf Kosten der Freiheit erkauft
wird. (US-Präsident Bush „Vorwärtsstrategie der Freiheit“,
FR, 8.11.03)
Schon jetzt ist aber sicher, dass der alte Nahe Osten nicht so, wie bis
jetzt bleiben kann. Dessen Vorwehen sind in einigen Ländern der Region
zu verzeichnen. In den nächsten 5-10 Jahren wird sich das Gesicht
des Nahen Ostens ändern. Es wird nicht mehr lange dauern bis ein
besserer, menschenrechtlicherer und demokratischer Nahe Osten sich entwickelt.
Weder die schiitischen Ayatollahs im Iran und die Petrodollarscheichs
in den Golfstaaten, noch doppelzüngige Politiker wie z.B. in der
„laizistischen“ Türkei, in der etwa 80.000 Moscheen,
über 10.000 Koran-Schulen und 200.000 Imame mit den Steuergeldern
auch der nicht muslimischen Bevölkerungsteilen finanziert werden,
sowie in deren Schulen der sunnitische Islam als Pflichtfach gezwungen
wird, können das Rad der Geschichte rückwärts drehen und
den Vormarsch der Werte der Menschlichkeit – Demokratisierung, Partizipation
und Vielfältigkeit - stoppen.
Neue
Chancen und Perspektive für Kurden und ihre Zukunft
Die Kurden im Irak haben sich nach Ende des 2. Golfkrieges im Jahre 1991
eine in vieler Hinsicht funktionierende Selbstverwaltung aufgebaut, de
facto einen nicht deklarierten Staat mit einem gewählten Parlament
und einer Regierung, mit einem Sicherheits- und Justizapparat, und einem
intakten Gesundheits- und Bildungssystem.
Jetzt, nach dem Sturz der Saddam-Diktatur, nach der Befreiung der übrigen
Teile des kurdischen Gebiets im Irak, wie Kirkuk und Mosul, Xaneqin und
Mendeli, bestehen neue Chancen und Perspektiven für Kurden und ihre
Zukunft.
Bis Mitte April 2003 waren Kurden und Kurdistan nur noch von fremden Unterdrückern
umgeben. Weder über die Türkei und den Iran, noch über
den Irak und Syrien hatten die Kurden ein Fenster, eine Millimeter breite
Öffnung zur Außenwelt. Alle Wege führten, auch ohne es
zu wollen, über die Hauptstädte der auf die Kurden Gewalt anwendenden
Staaten. Auch aus dieser Notsituation heraus waren die Kurden immer wieder
darauf angewiesen mit den Unterdrückern ihrer Geschwister jenseits
der Grenze zu kooperieren, oftmals zum Nachteil der kurdischen Interessen
insgesamt. Diese „Kooperation“, manchmal auch Kollaboration,
beeinflusste und bestimmte auch die Politik der kurdischen Parteien und
verursachte blutige innerkurdische Auseinandersetzungen.
Mit den neuen Veränderungen im Nahen Osten geht auch diese Ära
zu Ende. Kurdische Parteien können ihre Politik jetzt frei gestalten
und ihre Kontakte untereinander auch öffentlich intensivieren.
Die Kurden im Irak haben für ihre Freiheit und für die Befreiung
ihres Landes Kurdistan unter dem Joch der irakischen Herrscher einen sehr
hohen Preis gezahlt. Sie werden sich nicht bereit erklären, dass
man sie abermals ihrer Freiheit beraubt und wieder in die Dunkelheit der
Unterdrückung versperrt. Sie sind bereit einen neuen demokratischen,
pluralistischen und föderativen Irak mitzugestalten. All ihre Möglichkeiten
bieten sie zur Erfüllung dieses Zwecks an.
Ob die de facto aus drei Teilen – schiitischer Teil im Süden,
sunnitisches Dreieck in der Mitte und kurdischer Teil im Norden - und
mindestens aus gleich vielen Interessen bestehende Irak zusammenhält,
hängt von der Befriedung, Toleranz und der gegenseitigen Akzeptanz
dieser Gruppen, die in vielen Punkten entgegengesetzte Interessen verfolgen.
Mesud Barzani, Vorsitzender der Demokratischen Partei Kurdistan, unterstrich
anlässlich des 11-jährigen Bestehens des Parlaments in Kurdistan
am 9. Juni 2003 dieses Ziel und sagte, „wenn die neue Verfassung
den Kurden gestatte, dass sie föderal regiert werden und dass gegen
Kurdistan keine Feindseligkeiten auftreten, werden Kurden mit ihrer freien
Einwilligung mit den Arabern zusammenleben. Wenn aber die neue Verfassung
den Kurden nicht gerecht wird, wird Kurdistan kein Teil des vereinten
Iraks bilden und die kurdischen Peshmergas nicht der irakischen Armee
angehören.“
Übersetzt kann man sagen, dass die Kurden im Irak sich zwei gleichgestellte
Bundesstaaten, ähnlich wie in Kanada, Bosnien-Herzegowina oder Belgien
vorstellen. Wenn dieser Wunsch aber nicht erfüllt wird, lassen sie
sich die Option eines unabhängigen Kurdenstaates offen.
Entweder ist man bereit, in einer neuen demokratischen und pluralistischen
Staatsform zusammenzuleben, oder man nimmt die Teilung des Iraks in Kauf,
ist die logische Schlussfolgerung.
Eines steht aber schon jetzt fest: Es wird den alten Irak nicht mehr geben.
Weder Schiiten, noch die Kurden werden sich mit der alten zentralistischen
Herrschaftsform einer sunnitischen Minderheit einverstanden erklären.
Endlich und entsprechend den jüngsten Veränderungen im Nahen
Osten sollten die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische
Union ihre Politik bezüglich der Kurden neu definieren und gestalten.
Deutschland und die EU, die auf dem Balkan und Ex-Jugoslawien die Autonomiebestrebungen,
föderative Lösungen, ja sogar Gründung neuer unabhängigen
Nationalstaaten unterstützten, dürfen sich gegenüber den
Kurden nicht wie bisher verhalten und auf die Beibehaltung des Status
Quo beharren.
Zu Recht sagte Shlomo Aviner, Professor für Politikwissenschaft an
der Hebräischen Universität Jerusalem, am 8.7.03 in FAZ folgendes:
„Der beste Weg, um im Irak eine politische Kultur zu fördern,
die von weniger Repression gekennzeichnet ist, beginnt mit der Anerkennung
des Selbstbestimmungsrechts der Kurden im Norden. Ebenso wie die Palästinenser
das Recht haben, nicht unter israelischer Herrschaft zu leben, haben die
Kurden im Nordirak das Recht, nicht unter arabischer Herrschaft zu leben
- wenn sie das nicht wollen“.
Eben, die Kurden wollen nicht mehr unter der fremden Herrschaft leben.
Mit den neuen Veränderungen im Irak und im Nahen Osten nimmt die
strategische Wichtigkeit der Türkei, die sie seit Jahrzehnten als
Druck- und Drohmittel anwendete, um vom Westen privilegiert behandelt
zu werden, ab.
Dank der klugen und erfolgreichen Politik der kurdischen Führer musste
die Türkei viele ihrer „Vorbehalte“ und Wünsche
bezüglich Irakisch-Kurdistan zurückstecken.
Die „roten Linien“ der Türkei in deren Rahmen es als
Kriegserklärung galt, sollte es zu einer kurdischen Unabhängigkeit
bzw. Föderation kommen, bzw. die Gleichstellung der Turkmenen nicht
berücksichtigt werden oder die Eingliederung der Provinzen Kirkuk
und Mosul in die Autonomiegebiete der Kurden umgesetzt werden, können
nicht mehr so hochgespielt werden wie früher.
Seit Monaten beschweren sich viele Verantwortliche in Zivil und in Uniform
in Ankara über das Verhalten der großen Waffenbrüder und
Partner, die Amerikaner. Die Inhaftierung eines Teams der türkischen
Elitetruppen in Sulaimania und die gute Zusammenarbeit mit den kurdischen
Kräften in Irakisch-Kurdistan sowie Ignorierung der türkischen
Vorbehalte gegenüber Irakisch-Kurdistans und Ausladung der Entsendung
der türkischen Truppen gehören zum Arsenal der Unstimmigkeiten
zwischen der Türkei und den USA.
Die Zusammenarbeit der Kurden mit den Amerikanern basiert auf gegenseitiges
Interesse, nicht auf die einseitige „Große Liebe“, wie
Viele hier in Europa behaupten oder ernsthaft daran glauben. Denn die
Kurden wissen sehr genau, wie die Amerikaner sie im Jahre 1975 im Stich
gelassen haben und wie Lämmer den Wölfen – Iran und Irak
- überlassen wurden. Außerdem haben die Kurden noch in Erinnerung,
wie sie vor Augen der Amerikaner und der Weltöffentlichkeit von der
Soldetaska der Saddamdiktatur im Frühjahr 1991 massakriert und zur
millionenfachen Flucht gezwungen wurden.
In der Türkei wird es auch nicht lange dauern, bis die im Zuge des
EU-Prozesses auf dem Papier eingeleiteten Reformschritte in die Tat umgesetzt
werden. Deswegen kann man sagen, dass die Türkei sich nach den neuen
Veränderungen im Irak und im Nahen Osten von der Lösung der
Kurdenfrage nicht mehr entziehen kann. Sowohl die positiven als auch die
negativen Entwicklungen im Irak und Irakisch-Kurdistan werden sich auch
auf die Türkei auswirken.
Daher ist es höchste Zeit, dass die demokratische Öffentlichkeit
und die Friedens- und Menschenrechtsbewegung sich für die gemeinsamen
Werte der Menschheit auch in dieser Ecke der Welt engagieren und stark
machen. Solange die grenzüberschreitende Kurdenfrage in den Staaten
– Türkei, Iran, Irak und Syrien - ungelöst bleibt, werden
auch diese Staaten instabil bleiben und ein Konfliktpotenzial beherbergen.
Januar
2004
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