Dialog-Kreis:
"Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt
zwischen Türken und Kurden"
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Die
EU-Kandidatin Türkei und die Kurden im Jahre 2004
Von Mehmet Sahin
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Während man in der Türkei den türkisch besiedelten Westen
wirtschaftlich, politisch, sozial und kulturell förderte, hat man
den sogenannten Osten, sprich Türkisch-Kurdistan in allen Bereichen
bewusst vernachlässigt.
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Während man in den ersten Jahren der Republikgründung die
Feudalstrukturen im Westen zu Gunsten einer zu schaffenden Bourgeoisie
beseitigte, hat man in Kurdistan diese Strukturen mit allen Mittel beibehalten
und gefördert. So wollte man die kurdische Gesellschaft auch durch
diese unzeitmäßige und traditionelle Machtstruktur unter
Kontrolle halten.
- Während
man im Westen türkische Schulen nach und nach förderte und
die türkische Sprache als Amtssprache anwendete; Institute, Universitäten
eröffnete, hat man die Sprache und Kultur der Kurden verboten.
Ihre Kultur und Geschichte, kurz gesagt, alles was mit den Kurden zu
tun hatte, wurde negiert und die bis zur Republikgründung existierenden
Schulen in Kurdistan in die Illegalität getrieben. Mit der Republikgründung
musste alles türkisch und türkisiert werden.
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In der nach Westen orientierten Türkei wurden selbst die Wörter
"Kurde" und "Kurdistan" durch neue Begriffe, wie
z.B. "Bergtürken", "Ost- bzw. Südostanatolien",
ersetzt.
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Die geschichtlichen, traditionellen Namen, Namen von Ortschaften,
Bergen, Flüssen, sogar von Hügeln wurden geändert und
türkisiert.
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Feste, wie das kurdische Neujahrfest Newroz, wurden bis vor kurzem
verboten. Das Tragen der kurdischen Trachten wurde untersagt.
Die Kemalisten wollten einen unitaristischen Staat mit einer Einheitsnation,
Einheitssprache, Einheitsfahne und Einheitsreligion schaffen: der türkische
Staat, die türkische Nation, die türkische Sprache, die türkische
Fahne und der türkisierte und somit missbrauchte Islam sunnitischer
Richtung sollten die Grundelemente der Türkischen Republik bilden,
die heute als "türkisch-islamische Synthese" bezeichnet
werden.
Alle Angehörigen anderer Ethnien sollten sich den neuen Bedingungen
anpassen und sich assimilieren. Andernfalls drohte ihnen Unterdrückung
oder gar die physische Vernichtung.
Solche Aussagen, wie "Der Türke ist der einzige Herr, der einzige
Meister dieses Landes. Diejenigen, welche nicht reinen türkischen
Ursprungs sind, haben nur ein Recht in diesem Lande: Das Recht Knecht
zu sein, das Recht Sklave zu sein" (Mahmut Esat Bozkurt, damaliger
Justizminister, 'Milliyet' vom 19.9.1930), wurden in die Praxis umgesetzt.
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Während der türkisch besiedelte Westen in den letzten Jahrzehnten
in vieler Hinsicht sich nach Europa nähert, hat man in Kurdistan
eine Politik der Verbrannten Erde betrieben, infolge dessen über
50.000 Menschen umkamen, über 3600 Dörfer zerstört und
über 3 Millionen KurdInnen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben
wurden.
Laut einem offiziellen Bericht einer Untersuchungskommission des türkischen
Parlamentes wurden im Laufe des Krieges in Türkisch-Kurdistan bis
1997 insgesamt 3.428 Siedlungen in den vom Ausnahmezustand betroffenen
11 Provinzen aus "Sicherheitsgründen" zerstört,
ihre Bewohner vertrieben und von ihren Lebensgrundlagen beraubt und
in Hilflosigkeit und bittere Armut gestürzt.
- Während
in manchen Gebieten im Westen das Pro-Kopf-Einkommen bei 7.000 Dollar
liegt, haben über 10 Millionen Menschen, überwiegend Kurden
nicht einmal einen Dollar pro Tag zur Verfügung.
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Während zu Beginn der 90er Jahre höchste verantwortliche und
einflussreiche Kreise des Landes das Problem noch beim Namen genannt
hatten und auch gesagt wurde: "wir erkennen die kurdische Realität
an", gibt es heute nach offizieller Lesart kein "Kurdenproblem".
Nach den gängigen Definitionen von türkischen Machthabern
ist das Problem eine Frage des "Terrors" und des "Terrorismus"
(Türkischer Premier Erdogan, am 3. September 2003 in Berlin).
- Während
man im türkischen Westen die Bildung und Erziehung sowie Gesundheit
fördert und versucht sie auf das Niveau Europas zu bringen, wurden
in Kurdistan infolge des Krieges gegen das kurdische Volk von 5.330
Schulen 2.202 geschlossen, von insgesamt 1.218 Gesundheitseinrichtungen
löste man 830 auf.
- Während
in Istanbul, Ankara oder Izmir die Kinder der Eliten in die englischen,
deutschen oder französischen Schulen gehen und in diesen Sprachen
unterrichtet werden, dürfen Kinder der 15-20 Millionen Kurden ihre
eigene Muttersprache auch im Jahre 2004 nicht lernen.
- Während
die Rundfunk- und Fernsehanstalt der Türkei (TRT) jeden Tag etwa
in 25 Sprachen sendet und während andere Rundfunk- und Fernsehsender
in Istanbul, Izmir, Antalya und Ankara in englischer, französischer
oder deutscher Sprache Nachrichten und Musik senden;
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während im Westen englische, französische, deutsche oder
chinesische Sprachkurse ohne Einschränkungen angeboten werden,
dürfen diese Angebote in kurdischer Sprache entweder überhaupt
nicht oder unter strengen Auflagen erfolgen.
- Während
in der Türkei z.B. ein TV-Sender Namens „Show-TV“ seit
über 10 Jahren sendet,
- während an fast jeder Toiletten Tür „WC“ Schild
gehängt ist, an den bunten Vitrinen „Boutique XY“,
an Schaufenstern „Café Broadway“ steht;
- während viele Menschen mit dicken Portmonee eine „Worldcard“
besitzen,
- während in türkischen Kinos der Action-Film „Matrix“
mit Originaltitel läuft,
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und während auf jeder türkischen Schreibmaschine und PC-Tastatur
die Buchstaben „W, Q, X“ vorhanden sind und die Herrschaften
in der Türkei mit „www“ ins Internet gehen und surfen,
werden die Anwendung dieser Buchstaben den Kurden vorenthalten und
kurdische Namen mit „W, Q, und X“ verboten und nicht eingetragen.
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Und während man in den 90er Jahren die islamistischen Terroristen
und Gruppen gegen die Kurden anheizte und sie finanziell, logistisch
und waffenmäßig unterstützte sowie die Ermordung Tausende
von kurdischen Politikern, Intellektuellen, Menschenrechtlern und Geschäftsleuten
im Auftrag gab;
- während von diesen mit türkischen Pässen ausgestatteten
Killern 1050 ungestört und wohlwissend der Machthaber in Ankara
nach Tschetschenien, Afghanistan oder Kosovo und Bosnien als Dschihadkämpfer
gingen,
hat man anscheinend nicht gerechnet, dass diese Waffe eines Tages
gegen sie selbst gerichtet wird.
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Während die Türkei für 150.000 Türken einen großen
Teil von Zypern besetzt hält und einen Satellitenstaat ausgerufen
hat und sich eine Lösung in Form von Konföderation, also zwei
gleichberechtigte Republiken vorstellt, werden den 15-20 Millionen KurdInnen
in der Türkei die elementaren Grundrechte vorenthalten.
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Während man in Europa bis vor einigen Jahren offen und laut von
der ungelösten Kurdenfrage sprach und die Lösung der Kurdenfrage
forderte, redet man heute von diesen „unbequemen“ Themen
nicht mehr und legt die Akte der Kurden nach der einseitigen Einstellung
des bewaffneten Kampfes durch die PKK auf die staubigen Regale.
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Während die EU im Regelmäßigen Bericht zur Türkei
im Jahre 1998 in der Kurdenfrage unbedingt eine zivile und nichtmilitärische
Lösung vorschlug und bescheinigte, dass ein großer Teil der
in der Türkei festgestellten Verletzungen der Bürgerrechte
und der politischen Rechte direkt oder indirekt mit dieser Situation
zusammenhingen, wird im neuen Bericht vom 5. November 2003 nicht einmal
auf die Gefahren der Eskalation von Gewalt in diesem Zusammenhang hingewiesen.
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Während Schröder und Fischer am 28. November 1998 in Bonn
öffentlich ankündigten, für die Lösung der Kurdenfrage
eine europäische Initiative zu starten, sind diese beiden Politiker
heute die besten und effektivsten Lobbyisten der Türkei geworden.
- Während
das Europäische Parlament am 3. Dezember 1998 sich für die
Einberufung einer internationalen Kurdistan-Konferenz stark machte,
erlebt man heute von diesen Gremien fast keine Reaktionen mehr.
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Während breite Teile der Grünen und der SPD bis September
1998 gemeinsam mit den demokratischen Kräften in der Türkei
und mit den Kurden sich gegen die Auslieferung der abgelehnten kurdischen
Flüchtlingen, gegen Waffenlieferungen und für die Unterstützung
der Menschenrechtler und Demokratisierung des Landes einsetzten, wird
heute eine entgegengesetzte Politik betrieben.
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Während die EU und die Bundesrepublik Deutschland das Status Quo
in Ex-Jugoslawien durchlöcherten und Gründung neuer Nationalstaaten
förderten;
- Während die EU und die Bundesrepublik Deutschland sich für
die Gründung eines palästinensischen Staates stark machen,
setzen sie sich am Beispiel der Kurden für die Beibehaltung des
Status Quo nicht nur in Türkisch-Kurdistan, sondern auch in Irakisch-Kurdistan
hartnäckig ein.
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Und während die Kurden bis vor einigen Jahren eine gute und effektive
Öffentlichkeitsarbeit leisteten und breite Teile der deutschen
Öffentlichkeit hinter sich bringen konnten, erlebt man heute eine
Windesstille.
Viele der kurdischen Vereine und Verbände haben sich in der Zwischenzeit
entweder aufgelöst, oder sie sind in die Bedeutungslosigkeit gestürzt.
Die noch aktiven Teile der kurdischen Bewegung in Deutschland beschäftigen
sich mit sich selbst.
Nach dem die PKK den bewaffneten Widerstand einseitig eingestellt und
ihre Kämpfer aus Türkisch-Kurdistan nach Irakisch-Kurdistan
zurückzog, hat man auf dem EU-Gipfel in Helsinki im Dezember 1999,
die Türkei als EU-Kandidatin gekürt. Im Laufe des EU-Annäherungsprozesses
hat die Türkei auf der gesetzlichen Ebene Fortschritte erzielt. Gesetze
wurden geändert. Die kemalistischen Dogmen in den Köpfen der
Politiker und Bürokraten hat man jedoch ungerührt gelassen,
vielleicht auch konnte man oder wollte sie nicht ändern.
Zusammengefasst kann man sagen, dass die Türkei in dem türkischen
Teil, im Westen tatsächlich Fortschritte gemacht hat. Aber der andere
kurdisch besiedelte Teil, also Türkisch-Kurdistan ist weit entfernt
von einer Normalität.
Zwar wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, aber die Paramilitärs,
die Spezialteams, die Todesschwadronen und die schweren Kriegsgeräte
sind noch in Kurdistan. Die Machenschaften der über 200.000 Soldaten
und 58.000 Dorfschützer kennzeichnen das Bild in Kurdistan und beeinträchtigen
den Alltag der Kurden. Nach wie vor sind weder die Anwendung der kurdischen
Sprache in Rundfunk und Fernsehen sowie Eintragung der kurdische Namen,
noch Erlernen der kurdischen Sprache in der Türkei erlaubt.
Welchen Teil Schröder und Fischer in die EU aufnehmen wollen, ist
ungewiss. Eines ist aber sicher: Solange die Kurdenfrage nicht gelöst
wird, wird die Türkei dazu verurteilt sein, instabil zu bleiben.
Deswegen ist es notwendig, dass die EU und Deutschland endlich Klartext
sprechen, Probleme beim Namen nennen und sich für die Demokratisierung
der Türkei und Lösung der Kurdenfrage einsetzen.
Mit den im August 1999 eingeleiteten einseitigen Schritten der PKK waren
eigentlich alle Grundbedingungen der Akteure in Ankara und politisch Verantwortlichen
in Europa für politische Konzessionen erfüllt worden: die Einstellung
des bewaffneten Kampfes, der Rückzug der Kämpfer und die Bereitschaft,
die Kurdenfrage friedlich und im Rahmen der Türkei zu lösen.
Doch die auf Frieden ausgerichtete Grundhaltung der Kurden wird von vielen
noch immer ignoriert und als Schwäche empfunden. Nach wie vor unternimmt
die türkische Armee sogenannte "Säuberungsaktionen".
Weder gab es eine umfassende Amnestie für politische Gefangene noch
gibt es Rückkehrmöglichkeiten für Millionen vertriebene
Menschen.
Die den Kurden im Zuge des EU-Annäherungsprozesses durch das türkische
Parlament verabschiedeten Reformpaketen zugestandenen kulturellen Rechte
berechtigen zu vorsichtigem Optimismus. Es besteht allerdings auch kein
Anlass zu übersteigerter Euphorie, da sich die nun beschlossenen
Gesetzesänderungen in der Praxis zunächst noch beweisen müssen.
Wenn nicht, dann hätten auf absehbare Zeit wohl alle türkischen
Ambitionen auf einen EU-Beitritt keine Aussicht mehr auf Erfolg. Und auch
die Chancen für eine politische Lösung der Kurdenfrage, die
letztlich eine Grundvoraussetzung für eine wirkliche Demokratisierung
des Landes ist, wären ein weiteres Mal vertan.
Die "Verdammten der Welt" werden auch in Zukunft "Nein"
sagen zu einem von Repression bestimmten Leben, in dem ihre Identität
nicht anerkannt wird.
Die 15-20 Millionen Kurden in der Türkei fordern nur das, was die
internationale Gemeinschaft, die UN und die EU als Lösung für
Zypern vorschlagen und worauf man auch im ehemaligen Jugoslawien, in Bosnien-Herzegowina
und in Kosovo gedrängt hat: nämlich eine föderative Lösung
innerhalb eines demokratischen Staates.
Im EU-Erweiterungsprozess kann man sagen, dass es ohne die Erfüllung
der Kopenhagener Kriterien keinen Beitritt der Türkei zur EU geben
wird. Um aber die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, muss die Türkei
insbesondere die Kurdenfrage lösen. Das heißt im Endeffekt:
Ohne die Lösung der Kurdenfrage wird es keinen EU-Beitritt geben.
Außerdem kann sich die Türkei nach der veränderten Lage
im Irak und Irakisch-Kurdistan von der Lösung der Kurdenfrage nicht
mehr entziehen.
Die Position der Kurden, entweder ein föderaler und demokratischer
Irak oder ein unabhängiger Kurdenstaat –Kurdistan- wird in
der Zwischenzeit auch von vielen Meinungsmachern in der Türkei als
reale Schlussfolgerung der veränderten Lage im Irak verstanden und
zur Sprache gebracht.
Januar
2004
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