Köln,
04. Mai 2004
INTERNATIONAL INITIATIVE BRIEFINGS:
Die kurdische Frage und europäisches Recht - Letzter Akt
im Öcalanverfahren
Am 9. Juni 2004 beginnt das Revisionsverfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte
Nach dreijähriger Verhandlungsdauer fällte der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte am 13. März 2003 sein Urteil
im Beschwerdeverfahren Abdullah Öcalan versus Türkei.
Demnach habe der Kurdenführer kein faires Verfahren vor einem
unabhängigen Gericht erfahren, sein Recht auf Verteidigung
sei eingeschränkt gewesen und er habe inhumane Behandlung durch
die Verhängung der Todesstrafe erlitten. Diese Feststellung
des Gerichtshofes werteten die Rechtsanwälte von Abdullah Öcalan
durchaus positiv, wenn auch als ausgesprochen ungenügend. Umgehend
legten sie Revision ein. Aber auch die Türkei war unzufrieden,
weshalb sie sich diesem Schritt anschloss.
Was sind die Gründe für den Widerspruch der Beschwerdeführung?
Nach Meinung der Öcalan-Anwälte sei ein zentraler Verstoß
gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom
Gericht nicht zur Kenntnis genommen worden. Diesen sehen sie in
der rechtswidrigen Entführung Abdullah Öcalans am 15.
Februar 1999 aus Nairobi (Kenia). Nach Ansicht der Anwälte
hätte sich das Gericht auch mit den Umständen der Verschleppung
beschäftigen müssen, die aber vom Gericht völlig
außer Acht gelassen worden seien. Eine Verweigerung einer
Untersuchung würde jedoch dem allgemeinen Rechtsempfinden widersprechen.
Ein weiterer Punkt sei die Todesstrafe. Zwar sei diese mittlerweile
aufgehoben; Abdullah Öcalan unterliege jedoch seit seiner Verbringung
auf die türkische Gefängnisinsel Imrali einem Haftregime
der Totalisolation, welches auch ein Verstoß gegen das Folterverbot
darstelle, wie dieser vom Gericht bei der Verhängung der Todesstrafe
und der Ungewissheit über ihre Vollstreckung festgestellt wurde.
Hierbei habe die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshof
keine eindeutige Stellung bezogen. Die Türkei hingegen wehrt
sich gegen die Feststellung des Gerichtes, dass das Verfahren gegen
Abdullah Öcalan nicht rechtstaatlich gewesen sei; denn mit
dieser Feststellung ist auch der Status der Person Öcalans
deutlich geworden: Er ist ein politischer Gefangener, der aufgrund
eines immer noch ungelösten Konfliktes in Gefangenschaft geraten
ist. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation möchte
die Türkei jedoch unbedingt vermeiden.
Nun soll neu verhandelt werden. Am 9. Juni 2004 beginnt das Revisionsverfahren
vor der großen Kammer des Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg. 19 Richter werden über die
obenstehenden Beschwerdepunkte zu entscheiden haben. Was sind die
Erwartungen der Öcalan-Anwälte? In einer Stellungsnahme
gegenüber dem Koordinationsbüro der Internationalen Initiative
machten sie deutlich, dass es für sie oberste Priorität
habe, dass die Verschleppung als ungesetzlich festgestellt werde.
Dabei soll auch Abdullah Öcalan persönlich angehört
werden. Ob dies auf Imrali oder per Videokonferenz geschieht, macht
für sie keinen Unterschied. Des weiteren erwarten die Anwälte
eine nochmalige Bestätigung, dass das Verfahren gegen Öcalan
nicht fair gewesen sei, eine Aufforderung zur Aufhebung der Isolationshaft
und deren Verurteilung als Verstoß gegen die Europäische
Menschenrechtskonversion, sowie die Zurückweisung aller diskriminierenden
Maßnahmen gegen Abdullah Öcalan. Die Öcalan-Anwälte
wünschen sich auch, dass das Gericht mehr als bisher den politischen
Hintergrund des Verfahrens einbeziehen möge, da zwar Abdullah
Öcalan zweifellos ein Individuum aber trotzdem auch ein Produkt
eines Konfliktes sei, den er nicht allein zu verantworten habe.
Im Rahmen der Suche einer einvernehmlichen Lösung zwischen
den Verfahrensparteien müsse auch die kurdische Frage und eine
demokratische Lösung zur Sprache kommen. Andernfalls sehe man
sich nicht zu einer gütlichen Einigung im Stande.
Am 9. Juni 2004 wird sich zeigen, inwieweit europäisches Recht
zu einer Lösung der kurdischen Frage beitragen kann. Tausende
gegen die Türkei gerichteter Verfahren, in denen die Türkei
mehrheitlich für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen
verurteilt wurde, zeigen, dass hier kein Problem vorliegt, was sich
individualisieren ließe. Zwar kann auch der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte seinen gegeben Rahmen nicht
verlassen. Er schützt die Rechte Einzelner im Bereich des Europarates.
Wenn auch innerstaatliche Konflikte letztendlich individuelle Komponenten
haben, lässt sich daraus kein ursächlicher Zusammenhang
herstellen. Hinsichtlich der ungelösten kurdischen Frage darf
man vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zumindest
erwarten, dass er dieser Realität Rechnung trägt. Andernfalls
wird er seiner Mission nicht gerecht, europäisches Recht zu
wahren. Fest steht doch schon jetzt, dass die Türkei noch einen
langen Weg zu einer wirklichen Demokratie zurückzulegen hat.
Daran werden auch die an den eigenen wirtschaftlichen Interessen
orientierten Lobeshymnen einiger EU-Strategen gegenüber den
Reformen in der Türkei nichts ändern. Denn ohne eine Lösung
der kurdischen Frage wird es keine demokratische Türkei geben.
Und eine undemokratische Türkei als Mitglied der EU muss ausgeschlossen
sein.