An
mein Volk und die demokratische Öffentlichkeit!
Seit
dem 7. Mai bin ich offiziell im Hungerstreik, um gegen das Urteil des
Niederländischen Obersten Gerichtshofs, das meine Auslieferung in
die Türkei ermöglicht, zu protestieren. Damit will ich weiteres
Unrecht verhindern, meine Parole lautet: “Frei leben oder überhaupt
nicht leben!”
Ich will kurz erläutern, wie ich zu dieser Entscheidung gelangt bin:
Am 25. September 2001 kam ich in die Niederlande und beantragte Asyl.
Mein Antrag wurde abgelehnt, und bis heute führt man im Namen eines
Gesetzes, dessen Zweck es ist, mich außer Landes zu bekommen, einen
Kampf. Nach 15monatiger Gefangenschaft wurde ich durch ein Urteil eine
Amsterdamer Gerichts auf freien Fuß gesetzt.
Das Gericht wies das Auslieferungsersuchen der Türkei zurück,
da es ihre Behauptungen als unzutreffend einstufte. Aber durch einen Revisionsantrag
beim Obersten Gericht durch das Asylministeriums und die Staatsanwälte
ließ man das ganze von vorne beginnen. Aufgrund dessen wurde ich
am 5. März 2004 durch einen Beschluss des Obersten Gerichtshofs in
Den Haag wieder verhaftet.
Es ist klar, dass diesem Beschluss jede juristische Dimension fehlt. Dieses
Urteil, das durch und durch politisch ist, ist nichts anderes als die
immer gleiche Ignoranz gegenüber dem legitimen Kampf des kurdischen
Volkes. 15 Jahre bewaffneten Kampfs werden genauso ignoriert wie der seit
fünf Jahren einseitig eingeleitete Prozess von Frieden, Demokratie
und einer Lösung der kurdischen Frage. Mit diesem Urteil billigt
man die Repression des türkischen Staates gegen unser Volk in dieser
Zeit, die Massaker und die Zerrüttungspolitik. Mehr als 4000 Dörfer
wurden entvölkert und zerstört, Millionen von Menschen wurden
mit Gewalt vertrieben, zehntausende revolutionär und demokratisch
gesinnter Menschen sowie Intellektuelle wurden inhaftiert, und vor allem
ist der Vorsitzende Apo, dem das kurdische Volk bis ins letzte loyal ist,
seit fünf Jahren in einer Einzelzelle isoliert. Den beharrlichen
Bemühungen für Frieden und Demokratie gegenüber, die der
Vorsitzende Abdullah Öcalan trotz dieser verschärften Isolationsbedingungen
fortsetzt, verhält sich die Weltöffentlichkeit wie die drei
Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Es gibt keinerlei
Intervention gegen den Terror und die illegalen Praktiken, die gegen das
kurdische Volk angewandt werden. Die Friedensinitiativen Abdullah Öcalans
werden ignoriert.
Für all trägt die Europäische Union Verantwortung. Am besten
zeigte sie dies, indem sie den Vorsitzenden Apo nicht akzeptierte, als
er 1998 nach Europa kam, um eine Lösung für die kurdische Frage
zu schaffen, sondern ihn nach Afrika trieb. Anstatt ihren Fehler zu korrigieren,
beging sie vor kurzem den größten Fehler in ihrer Geschichte,
als sie Kongra-Gel auf die Liste der terroristischen Organisationen setzte.
Mit dem Urteil gegen meine Person werden die Bemühungen beschleunigt,
Mitglieder von Kongra-Gel, der demokratischen Organisation des kurdischen
Volkes, an die Türkei auszuliefern. Ich sehe dieses Urteil als ein
Urteil gegen das kurdische Volk in meiner Person an.
Erst vor wenigen Tagen haben niederländische und andere europäische
Abgeordnete des Europäischen Parlaments erklärt, das Gerichtsverfahren
gegen Leyla Zana, Hatip Dicle und ihre Freunde sei nicht gerecht gewesen.
Heute jedoch wird meine Auslieferung aufgrund einer Garantie beschlossen,
die die Türkei angeblich geben wird. Was sie Garantie nennen, ist
wahrscheinlich eine staatliche Auftragsvergabe. Es sind wirtschaftliche
Interessen, die gegenwärtige AKP-Regierung ist zu jeglichem Zugeständnis
bereit. Sie verkaufen die Türkei. Als Gegenleistung für die
Liquidierung des kurdischen Befreiungskampfs findet ein Ausverkauf der
Türkei statt. Die gegenwärtige AKP-Regierung spielt ein sehr
gefährliches Spiel. Leider spielen einige europäische Länder
dieses Spiel mit.
Ich appelliere an die niederländische Öffentlichkeit. Lasst
keinen Schatten auf die Reputation der Niederlande für Gerechtigkeit,
Demokratie und Menschenrechte fallen. Versucht zu verstehen, was der türkische
Staat dem kurdischen Volk angetan hat und entscheidet selbst, ob ich als
Individuum schuldig bin oder nicht.
In der letzten Zeit habe ich viel darüber nachgedacht, was mein Vergehen
ist. Ich kann Ihnen meine Vergehen in ein paar Punkten aufzählen:
1. Als Mensch geboren zu sein und für ein menschliches Leben zu kämpfen.
2. Als Kurdin geboren zu sein und mich am Kampf dafür beteiligt zu
haben, dass das kurdische Volk sein Schicksal selbst bestimmen kann. Wenn
das ein Verbrechen ist, ja, dann bin ich schuldig!
3. Wenn es ein Verbrechen ist, als Frau dafür zu kämpfen, dass
Frauen frei und gleichberechtigt leben können, ja, dann bin ich schuldig.
4. Wenn es ein Verbrechen ist, dass ich wegen meiner Religionszugehörigkeit
gegen jede Art von Diskriminierung eingetreten bin, dann bin ich schuldig.
5. Wenn es ein Verbrechen ist, dass ich es nicht bereue, einen legitimen,
demokratischen Kampf dafür zu führen, dass mein Volk unter anderen
Menschen menschlich leben kann, dann bin ich eine Verbrecherin.
Es ist klar, das Urteil ist eines, das über die Frage, ob ich schuldig
bin oder nicht, hinausgeht. Dieses Urteil ist eine absolut politische
Entscheidung und stützt sich auf verschiedenen wirtschaftliche Vorteile,
die man von der Türkei erwartet. Ich erkläre noch einmal: Ich
wünsche es dem niederländischen Staat und seiner Regierung,
dass sie sich nicht dazu herablassen. Ich fordere die Verantwortlichen,
die bis heute so oft den schmutzigen Charakter des türkischen Staats
betont haben, auf, hinter ihren Worten zu stehen.
Mein weiteres Verhalten hängt von der jeweiligen Entscheidung ab.
Solange es keine Fortschritte oder positiven Entwicklungen gibt, werde
ich meinen Hungerstreik unbefristet fortsetzen. Ich erkläre einmal
mehr vor der gesamten Weltöffentlichkeit meine Haltung. Ich rufe
alle fortschrittlichen, demokratischen, intellektuellen Menschen und Institutionen,
die für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Frieden kämpfen, zur
Solidarität auf.
Der menschliche Willen wird über die Gewalt siegen.
Frei leben oder überhaupt nicht leben!
Meine
Grüße und meine Hochachtung,
Nuriye
Kesbir
In einem niederländischen Gefängnis
10.05.04
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