Zum
Revisionsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
„The Court“,
ruft der Saaldiener, und alle erheben sich. 17 Gestalten in schwarzen
Roben mit weißen Rüschenlätzchen betreten den Saal, bewegen
sich im Gänsemarsch langsam auf ihre Plätze zu. Es sind die
Richterinnen und Richter der großen Kammer des Europäischen
Gerichts-hofs für Menschenrechte in Straßburg – der höchsten
gerichtlichen Instanz auf dem europäischen Kontinent. Vor dem Richter-Halbrund
sitzen die Anwälte des Klägers, in gehörigem Abstand die
des beklagten Staates, der Türkei.
Es fehlt die Hauptperson, deren Revisionssache verhandelt wird: Der Platz
des Kurdenführers Abdullah Öcalan bleibt unbesetzt. Hafturlaub
hat er nicht erhalten, um seine Sache persönlich vertreten zu können.
Und per Videoschaltung kann er sich dem Gericht auch nicht erklären.
Doch durch seine Anwälte ist er gut vertreten. Im Saal sitzen Pressevertreter
und Prozeßbeob-achter aus vielen Ländern, eingeladen von einer
Internationalen Initiative.
Auf dem juristischen Prüfstand steht das Staatsschutzverfahren gegen
den früheren Vorsitzen-den der Kurdischen Arbeiter-Partei (PKK),
das Ende der 90er Jahre vor einem Sondergericht in der Türkei stattgefunden
hat. Bereits im Beschwerdeverfahren hatte die kleine Kammer des Eu-ropäischen
Gerichtshofs in ihrem Urteil vom 13. März 2003 festgestellt, daß
Öcalan kein fairer Prozeß vor einem unabhängigen Gericht
gemacht wurde. Sein Recht auf Verteidigung sei einge-schränkt worden,
und durch die Verhängung der Todesstrafe habe er eine inhumane Behandlung
erlitten. Inzwischen wurde die Todesstrafe auf Druck des Europarates und
der EU in lebenslange Haft umgewandelt und in der Türkei per Gesetz
abgeschafft, ebenso wie die berüchtigten Staats-sicherheitsgerichte.
Der Europäische Gerichtshof hatte es allerdings unterlassen, zwei
für die menschenrechtliche Beurteilung des türkischen Strafverfahrens
wesentliche Sachverhalte zu klären und zu ahnden: Weder die dubiosen
Umstände der geheimdienstlichen Entführung Öcalans am 15.
Februar 1999 aus Kenia in die Türkei noch das Haftregime der Isolation,
dem er seit seiner Inhaftierung unter-zogen wird, waren erörtert
worden – obwohl diese Behandlung des Gefangenen Einfluß auf
das Strafverfahren hatte und es sich dabei mutmaßlich um schwere
Verstöße gegen das Völkerrecht und das Folterverbot der
Menschenrechtskonvention handelt. Nach seiner Festnahme war Öcalan
sieben Tage lang ohne jeden Kontakt zu seinen Anwälten festgehalten
worden. Weil diese Um-stände nicht aufgeklärt worden waren,
hatte die Verteidigung Öcalans – ebenso wie die Türkei
aus anderen Gründen – Revision gegen das Urteil eingelegt.
Öcalan erhofft sich nun eine ver-schärfte Verurteilung des türkischen
Staates, während dieser sich reinzuwaschen sucht.
Die englischen und kurdischen Anwälte Öcalans tragen die Begründung
für ihre Revision vor, die Anwälte der Türkei versuchen,
die aufgezeigten Menschenrechtsverletzungen als notwendige Antiterrormaßnahmen
zu rechtfertigen. Das Gericht rafft sich kaum zu kritischen Nachfragen
auf. Seine Entscheidung wird noch Monate auf sich warten lassen. Sollte
es die Türkei in we-sentlichen Punkten verurteilen, dann müßte
der Prozeß gegen Öcalan vor einem türkischen Ge-richt
neu aufgerollt und rechtsstaatlich korrekt durchgeführt werden. Die
Türkei will das natür-lich vermeiden. Und Öcalan wäre
es lieber, wenn ein neuer Prozeß außerhalb des Landes statt-fände
– nämlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Dann endlich könnte der ursächliche Part der Türkei an
dem kriegerisch ausgetragenen Kurdistan-Konflikt angemessen berücksichtigt
werden – also jene grausame Unterdrückung der Kurden, gegen
die sich die Kur-dische Arbeiterpartei, für die Öcalan verantwortlich
war, mit Gewalt zur Wehr gesetzt hat. Das würde seine Straftaten,
seine Verantwortung in einem anderen Licht erscheinen lassen.
Draußen vor dem Straßburger Gerichtsgebäude ist an diesem
heißen Junitag erheblich mehr los als im Gerichtsaal. Hier versammeln
sich bunt gekleidete Kurdinnen und Kurden, schwenken Fahnen und lassen
Abdullah Öcalan hochleben. Zehntausend Menschen demonstrieren für
seine Freiheit und für eine gerechte und demokratische Lösung
des Kurdistankonflikts.
Die Türkei ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
bereits in zahlreichen Ver-fahren für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen,
insbesondere systematische Folterun-gen, verurteilt worden, teilweise
auch zu hohen Schadensersatzleistungen an die Opfer. Trotz ei-niger Reformansätze
wird in der Türkei nach wie vor massiv gegen Menschenrechte und rechts-staatliche
Standards verstoßen. Die größten Defizite, so stellt
der letzte vertrauliche Lagebericht des Berliner Auswärtigen Amtes
fest, liegen bei den Institutionen von Justiz und Polizei. Zwar gingen
die Hinweise auf Fälle schwerer körperlicher Folter zurück,
dafür nähmen Berichte über verfeinerte Methoden zu, die
weniger bleibende Spuren hinterlassen – etwa Elektroschocks, Ab-spritzen
mit kaltem Wasser aus Hochdruckgeräten, erzwungenes Ausziehen sowie
Androhung von Vergewaltigungen.
Abdullah Öcalan wird seit nunmehr über fünf Jahren als
einziger Gefangener auf der Gefäng-nisinsel Imrali im Marmarameer
gefangen gehalten, also von der Außenwelt weitgehend isoliert, unter
menschenunwürdigen Haftbedingungen. Außer mit seinen Bewachern
kann er mit nieman-dem sprechen. Oft bleibt er monatelang ohne Besuch,
weil die türkischen Sicherheitsbehörden immer wieder den Anwälten
und Verwandten die Überfahrt durch das militärische Sperrgebiet
mit Verweis auf defekte Boote oder schlechtes Wetter verweigern. Die verschärften
Isolations-haftbedingungen bedrohen ernsthaft seine Gesundheit. Er leidet
in den feuchten Gemäuern, wie seine Anwälte berichten, unter
Atem-beschwerden. Die hygienischen Bedingungen seien mangelhaft. Eine
unabhängige Ärztekommission, so die Forderung der Anwälte
und Verwand-ten, müsse Öcalan untersuchen und geeignete medizinische
Maßnahmen ergreifen. In der Tat ist Eile geboten, sollen diese Haftbedingungen
nicht zu einer Hinrichtung auf Raten führen.
Just am Tag des Revisionsverfahrens im Fall Öcalan wird in der Türkei
die seit zehn Jahren inhaftierte kurdische Parlamentarierin Leyla Zana
zusammen mit drei weiteren ehemaligen Ab-geordneten überraschend
freigelassen – nicht gerade aus freien Stücken, sondern um
eine wichti-ge Forderung der EU zu erfüllen. Ob mit dieser Freilassung
einer weithin bekannten Symbolfi-gur des kurdischen Widerstands eine neue
Ära in der Türkei angebrochen ist, bleibt abzuwarten. Eine der
wichtigsten Voraussetzungen für Frieden im Lande und für eine
Verbesserung der Men-schenrechtslage wird die politisch gerechte Lösung
des Kurdistankonflikts sein. Dieses Problem ist nach wie vor ungelöst,
solange Kurden unterdrückt und ihnen kulturelle, soziale und politi-sche
Rechte vorenthalten werden.
Aus: „OSSIETZKY“
Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft (Hannover/Berlin)
(www.sopos.org/ossietzky.de
oder www.linksnet.de)
Dr. Rolf Gössner,
Rechtsanwalt und Publizist, ist Präsident der „Internationalen
Liga für Menschen-rechte“ (Berlin). Er hat den Öcalan-Prozess
vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg auf Einla-dung
der Internationalen Initiative „Freedom for Ocalan – Peace
in Kurdistan“ und im Auftrag der Liga beobachtet. Er ist Mitherausgeber
der Zweiwochenschrift "Ossietzky" und Autor zahlreicher Sachbücher
zu Bürgerrechtsthemen, zuletzt: „Geheime Informanten. V-Leute
des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates“ (Knaur-Verlag,
München 2003). Internet: www.rolf-goessner.de
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