Köln,
14. April 2005
INTERNATIONAL INITIATIVE BRIEFINGS:
Lex Öcalan
wird zum Bumerang oder Nichts Neues aus der Türkei
Die Türkei
hat ein Problem. Wieder einmal. Bevor überhaupt das Urteil im
Revisionsverfahren von Abdullah Öcalan vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte gesprochen ist, haben in der Türkei
schon die Diskussionen darüber begonnen, wie ein erneuter Prozess
gegen den Kurdenführer verhindert werden könnte.
Dem liegt die allgemeine Einschätzung zugrunde, dass in Kürze
die große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte das vorangegangene Urteil im Wesentlichen bestätigen
werde. Schon im ersten Beschwerdeverfahren stellten die Richter in
Straßburg fest, dass der Kurdenführer kein faires Verfahren
vor einem unabhängigen Gericht erfahren hatte, sein Recht auf
Verteidigung eingeschränkt gewesen war und er inhumane Behandlung
durch die Verhängung der Todesstrafe erlitten hatte. Sollte dies
erneut bestätigt werden, stünde die Türkei vor einem
Dilemma.
Zwar hat die Türkei im Rahmen des Annäherungsprozesses an
die Europäische Union Gesetzesreformen im Strafrecht verabschiedet,
wonach u. a. richterliche Entscheidungen aus Straßburg auch
auf nationaler Ebene umgesetzt werden müssen. Gleichzeitig wurden
diese durch anderweitige Gesetze wieder eingeschränkt, so auch
im Fall der Wiederaufnahme von Verfahren, wonach die Gesetzesreform
nicht für Verfahren gültig ist, die bis Anfang 2003 abgeschlossen
wurden. Das beanstandete Verfahren gegen Abdullah Öcalan bleibt
somit davon ausgeschlossen. Grundlage hierfür war die Befürchtung,
dass auch der „Staatsfeind“ Abdullah Öcalan davon
profitieren könnte, weshalb die türkische Presse der Gesetzesreform
auch den Namen „Lex Öcalan“ gab.
Was sind diese Befürchtungen? Warum scheiden sich an Öcalan
immer noch die Geister?
Es ist nicht so sehr die Person Öcalans, die derart für
Aufregung sorgt. Vielmehr wird seine Person mit einem Konflikt in
Verbindung gebracht, der nach wie vor nicht gelöst ist. Sobald
die kurdische Frage thematisiert wird, in welcher Form auch immer,
ruft dies bei den Machthabern in Ankara und bei den immer noch einflussreichen
Militärs reflexartige Abwehrreaktionen hervor, welche sich dem
Europäer nicht immer erschließen. Mit rationalem Handeln
hat dies nicht mehr viel zu tun. Die aktuellen Entwicklungen in der
Türkei scheinen diesen Eindruck zu bestätigen.
Derzeit bahnt sich eine nationalistische Welle den Weg. Allerorts
werden Fahnenmärsche veranstaltet und Oppositionelle jeglicher
Couleur auf der Straße angegriffen. Auslöser hierfür
war eine Stellungsnahme des Generalsstabs der türkischen Armee,
nach dem in der türkischen Hafenstadt Mersin, am Rande der diesjährigen
Newrozfeierlichkeiten, zwei kurdische Kinder eine türkische Fahne
zu Boden geworfen hatten. In dieser Stellungsnahme wurden die Kurden
insgesamt als „sogenannte Bürger“ der Türkei
bezeichnet, welche zur Räson gebracht werden müssten. Die
aufgeheizte nationalistische Stimmung richtet sich jedoch nicht nur
gegen die Kurden. Auch türkische Journalisten und Intellektuelle
sind davon betroffen. So muss der türkische Schriftsteller Orhan
Pamuk derzeit um sein Leben fürchten, nur weil er in einem Interview
freimütig über den türkisch-kurdischen Konflikt und
über die Massaker an den Armeniern von 1915 gesprochen hatte.
Karikaturisten müssen zum Teil horrende Geldstrafen zahlen, weil
deren Zeichnungen dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan
nicht genehm sind.
Derweil haben aber auch europäische Diplomaten mit Befremden
registriert, dass der Reformeifer Ankaras sichtlich erlahmt. Erst
kürzlich mahnte der europäische Erweiterungskommissar, Oliver
Rehn, eine Fortsetzung der Reformbemühungen an. Andernfalls würde
dies den Termin vom 3. Oktober 2005, an dem die Beitrittsgespräche
zwischen der Türkei und der EU beginnen sollen, in Frage stellen.
Diese Mahnung kommt nicht von ungefähr. Angekündigte Reformen
bleiben aus, verabschiedete Gesetzesänderungen werden nur teils
oder überhaupt nicht umgesetzt. Internationale Menschenrechtsorganisationen,
wie Amnesty International und Human Rights Watch, registrieren einen
rapiden Anstieg von Menschrechtsverletzungen und einen zunehmenden
Rassismus, der sich gegen die Kurden insgesamt richtet. Die Besorgnis
erregende Entwicklung bleibt jedoch nicht darauf beschränkt.
Zurzeit führt die türkische Armee in den kurdischen Gebieten
weitflächige militärische Operationen gegen kurdische Rebellen
durch. Schon mehren sich die Nachrichten über schwere Gefechte,
Tote und Verletzte. Bei einem längeren Andauern ist eine Verselbstständigung
der Zusammenstöße zu befürchten.
Wie lässt sich in diesen Zusammenhang die Option einer Neuverhandlung
des Öcalanverfahrens einordnen, die derzeit in der Türkei
für hitzige Diskussionen sorgt. Abgesehen davon, dass Öcalan
immer noch die Öffentlichkeit polarisiert – für die
Einen ist er ein Held, für die Anderen ein Staatsfeind –
dürfte allein die Tatsache eines öffentlichen Prozesses
schon bei denjenigen für Unbehagen sorgen, die die kurdische
Frage am liebsten ausblenden. Denn in einem solchen Prozess würden
wahrscheinlich auch der türkisch-kurdische Krieg und somit das
Verhalten der türkischen Armee zur Sprache kommen. Das wäre
ein Politikum, was nicht wenige verhindern möchten. Eines ist
jedoch schon jetzt gewiss: Wenn auch das Problem immer noch auf höchster
Ebene geleugnet wird, verhindert dies nicht, dass das Problem sich
an anderer Stelle seine Bahn bricht. Ein erneutes Verfahren könnte
jedoch auch eine Chance für einen Neubeginn bedeuten, an dem
beide Seiten aufeinander zugehen. Die Kurden scheinen hierfür
bereit zu sein. Es liegt somit an der Türkei, den nächsten
Schritt zu tun. Andernfalls wird es der Türkei mehr als schwer
fallen, den Ansprüchen Europas an eine Mitgliedschaft gerecht
zu werden.