24.
Juli 2005
Eine
Analyse über die jüngsten Entwicklungen in der Türkei
Terroranschläge
in der Türkei dienen als Grundlage für antikurdisches Konzept
In
einer neuen Intension sind die Kurden in der Türkei erneut auf
der Agenda internationaler und nationaler Politik. In der türkischen
und internationalen Presse werden seit Tagen terroristische Aktivitäten
wie das Bombenattentat im Urlaubsort Kusadasi oder die Ermordung des
kurdischen Politikers Hikmet Fidan auf das Konto der kurdischen demokratischen
Bewegung gebucht. Dies geschieht, obwohl sowohl der KONGRA-GEL als
auch die HPG (kurdische Guerilla) erklärt haben, dass sie mit
den Vorfällen nicht in Verbindung stehen und diese Art von Angriffen
verurteilen. In der Erklärung der Hauptkommandantur der HPG vom
17. Juli 2005 heißt es: „Staatliche Vertreter der
Türkei und ihre Medien versuchen in ihren Erklärungen die
Aktion in Kusadasi mit den HPG in Verbindung zu bringen. Diese Vorwürfe
sind völlig realitätsfern. Wir haben in keiner Weise irgendeine
Verbindung zu diesem Angriff in Kusadasi. Außerdem haben wir
auch keinerlei Verbindungen zu Organisationen wie z.B. den TAK (Freiheitsfalken
Kurdistans). Die Vorwürfe des türkischen Staates und der
Medien verfolgen die Absicht, unseren legitimen Selbstverteidigungskampf
zu diffamieren. (...) Wir haben mehrfach der Öffentlichkeit dargelegt,
dass wir das internationale Recht und die Genfer Konvention akzeptieren.
Dazu haben wir Beschlüsse gefasst und sie umgesetzt. Bislang
haben wir uns daran gehalten und werden das auch in Zukunft tun.“
Am
19. Juli 2005 hat der stellvertretende Generalstabsvorsitzende Ilker
Basbug in einer Presseerklärung das Konzept zur Bekämpfung
der PKK vorgestellt. Es sieht demnach die Festnahme von Führungskadern
der Demokratischen Befreiungsbewegung vor. Hierfür habe die Türkei
die offizielle Zusage der USA erhalten. „Wenn der Irak das
Notwendige nicht unternimmt, eröffnet sich für uns das legitime
Recht auf Selbstverteidigung, um grenzüberschreitende Operationen
durchzuführen“, so Ilker Basbug. „Einige
Institutionen, Personen und zivilgesellschaftliche Organisationen,
die eine Verbindung zur Organisation unterhalten, die diese unterstützen
und Propaganda für sie machen, müssen bekämpft werden.
(...) Von der türkischen Presse erwarten wir, keine Nachrichten
zu veröffentlichen, die die Ziele der Organisation stärken
könnten. Das Hauptziel des Kampfes sollte es sein, die Erfolgshoffnung
der Organisation zu brechen und zu vernichten.“ Weiter
forderte er die Bildung einer Art Sondereinheit gegen die PKK, angebunden
an das Ministerpräsidentenamt.
Seit
dem 19. Juli sind auch türkische Medien und Presse in die Angriffsposition
gegen die Kurden übergegangen Ilker Basbug hatte sie gebeten,
den anderen Teil des Krieges zu übernehmen: Die psychologische
Kriegsführung. So ist es nicht verwunderlich, dass seitdem täglich
Kolumnisten bekannter türkischer Tageszeitungen kurdische und
türkische Intellektuelle angreifen und diffamieren, die zuvor
in mehreren Erklärungen und Initiativen den Frieden gefordert
hatten. Alle kurdische und türkische Intellektuelle sollen sich
sowohl von Abdullah Öcalan als auch vom KONGRA GEL distanzieren
und sich gegenseitig denunzieren. Zur Einschüchterung der Intellektuellen
wird der Mord von Hikmet Fidan offen gezeigt. Die Todesumstände
des ehemaligen stellvertretenden HADEP-Vorsitzenden Hikmet Fidan sind
bislang nicht geklärt. Sowohl der Menschenrechtsverein als auch
die DEHAP sprechen von einem Tod durch unbekannte Täter. Auf
diese Weise wurden in Zeitraum 1990-93 tausende von führenden
kurdischen Intellektuellen und Politikern ermordet. Intellektuelle
sind wieder zur Zielscheibe gegenwärtiger Staatspolitik geworden.
Seit dem 1. Juni 2005 finden keine Anwaltsgespräche mit Abdullah
Öcalan mehr statt. Gegen alle verbalen Angriffe und Diffamierungen
kann sich Abdullah Öcalan nicht verteidigen. Alle seiner Verteidiger
haben Berufsverbot bekommen. Es wird versucht, im Bewusstsein der
Öffentlichkeit Öcalan die Verantwortung für die Aktionen
der letzten Tage zuzuschreiben. Ihm werden Äußerungen in
den Mund gelegt, obwohl alle wissen, dass er seit sieben Wochen gar
nicht die Möglichkeit hatte, sich zu den Entwicklungen zu äußern.
Abdullah Öcalan hatte aus Protest gegen die neue Strafrechtsreform,
die am 1. Juni in Kraft trat, beschlossen, die Anwaltsgespräche
nicht mehr wahrzunehmen. Er deutete die neue Strafreform, die Anwaltsgespräche
nur noch unter Anwesenheit dritter gestattet, als eine kontraproduktive
Antwort auf seine sieben jährigen Friedensbemühungen. Wörtlich
sagte er: „Der Staat hat geantwortet, dass er nicht am Frieden
interessiert ist“. Auch lehnte er einen erneuten Prozess in
der Türkei unter den jetzigen Umständen ab. Nach dem Beschluss
des EGfMr am 12. Mai erklärten türkische Politiker und Generäle
sich selbst zur Konfliktpartei. Außerdem erklärte der türkische
Außenminister, Öcalan würde dasselbe Strafmaß
bekommen, auch wenn er hundertmal verurteilt werden würde. Aus
diesem Anlass forderte Öcalan ein internationales und unabhängiges
Gericht, das die Verstrickungen in Menschenrechtsverletzungen beider
Seiten aufgreifen sollte.
Bestimmte Kreise in der Türkei verfolgen seit längerem auch
die Entwicklungen im Irak mit Skepsis. Durch zahlreiche Provokationen
versucht der türkische Staat immer wieder, grenzüberschreitende
Militäroperationen zu erzwingen. Mit solchen Operationen sollen
zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden, indem einerseits
die offensive Politik der Kurden in der Türkei gestoppt und zum
zweiten die positiven Entwicklungen in Irakisch Kurdistan destabilisiert
wird. Die Türkei fürchtet die Gründung eines Kurdenstaates.
Sowohl die USA als auch die EU befürworten jedoch keine militärische
Lösung der kurdischen Frage. Sie wollen mit politischen Mitteln
erreichen, dass die Kurden vom KONGRA GEL Abstand nehmen und ihre
Ansprüche aufgeben.
Trotz jahrelanger Angriffe ist es weder der Türkei noch ihren
Verbündeten gelungen, die PKK und seit 2003 den KONGRA GEL zu
eliminieren. 1999 sollte durch die Entführung von Abdullah Öcalan
die Bewegung durch Führungslosigkeit zerschlagen werden. Es gelang
nicht. Die PKK schaffte die Einheit unter den Kurden zu wahren. Als
zweiter Schritt wurde 2003 versucht, durch eine künstlich herbeigeführte
Spaltung die Bewegung schrittweise zu vernichten. Das Spaltungsprojekt
Osman Öcalan & Co scheiterte. Der KONGRA GEL konnte sich
nach zwei Jahren interner Debatten durch die Herbeiführung der
Einheit behaupten und befindet sich seit letztem Jahr in einer offensiven
Politik. Die Forderung der Kurden nach einem internationalen unabhängigen
Gerichtsverfahren für Öcalan, bei dem auch die Kriegsverbrechen
der Türkei einbezogen werden sollen, ist dabei von großer
Bedeutung. In unterschiedlichen Protestaktionen verurteilen Kurdinnen
und Kurden die Isolationsbedingungen von Öcalan und fordern seine
Freilassung. Sie verdeutlichen, dass Öcalan weiterhin ihr politischer
Vertreter ist und in den Lösungsprozess einbezogen werden muss.
Die unterschiedlichen Kampagnen wie z.B. die Unterschriftenkampagne,
mit der die Kurden Unterricht in ihrer Muttersprache fordern, sowie
Kampagnen, mit der Kurden ihre Forderung an die EU vermitteln wollen,
werden höchst gefährlich eingestuft. Auch die Demokratische
Gesellschaftsbewegung, ein Projekt von Öcalan, ist kurz davor
sich zu deklarieren. Diese Entwicklungen seitens der Kurden zeigen
erneut, dass sowohl das internationale Komplott gegen Abdullah Öcalan,
als auch die Spaltungsversuche gescheitert sind. Nun soll ein neuer
Anlauf unternommen werden, die Organisation und mit ihr die Politik
der Kurden aus der politischen Arena zurück zudrängen
Die Botschaft seitens der Türkei, aber auch westlicher Politik
heißt: Wendet euch von Öcalan ab, wendet euch vom KONGRA-GEL
ab, nur so können wir euch akzeptieren. Mit anderen Worten: Nicht
organisierte Kurden sind bevorzugte Kurden.
Das Konzept sieht ebenfalls vor, diejenigen Kräfte, die für
die EU-Mitgliedschaft der Türkei sind, gegen die PKK einzustimmen,
indem die kurdische Bewegung so dargestellt wird, als wolle sie die
EU-Mitgliedschaft verhindern.
Es wird außer Acht gelassen, dass die jüngste Entspannungsphase
auf die Bemühungen der kurdischen Bewegung und des kurdischen
Volkes zurückzuführen ist. Seit 1999 versuchen die Kurden
mit aller Macht zur Demokratisierung der Türkei und zur Lösung
der kurdischen Frage beizutragen. Entgegen all diesen Bemühungen
heißt es in der Türkei dazu, wie Ministerpräsident
Erdogan so „schön“ formulierte: „Wenn Sie nicht
daran denken, dann gibt es ein solches Problem nicht“ [gemeint
ist die kurdische Frage]. Nicht der demokratische Kampf der Kurden
steht einer EU-Mitgliedschaft der Türkei im Wege, sondern die
antidemokratische Struktur und Haltung des türkischen Staates.
Die Türkei bekennt sich nicht aufrichtig zu den Werten der EU,
sie nähert sich lediglich taktisch an.
Die totale Kriegserklärung durch den türkischen Staat erfolgt
in einer Zeit, in der die Kurden nach fast sieben Jahren einseitigen
Friedensbemühungen nun mehr intensiv eine Veränderung verlangen
und erneut in die politische Offensive gehen. Mit diesem Konzept sollen
alle demokratischen Errungenschaften zerstört werden. Die zunehmende
antimilitaristische Haltung innerhalb der Bevölkerung stellt
für diese vom Krieg profitierenden Kreise in der Türkei
eine ernste Gefahr dar. Die unterschiedlichen Friedensinitiativen
türkischer, kurdischer und arabischer Intellektueller, welche
sich in den letzten Wochen für die sofortige Beendigung der Militäroperationen
und politische Schritte zur die Lösung der kurdischen Frage öffentlich
ausgesprochen haben, sind ebenfalls ein Angriffsziel im Rahmen dieses
Konzeptes.
Es ist bestürzend zu beobachten, dass die Berichterstattung in
der europäischen, seit Tagen auch der deutschen Presse, ebenfalls
auf die Diffamierung der kurdischen Bewegung abzielt und – vielleicht
ohne es zu wollen – dem o.g. Konzept dient.
Sollte dieses Konzept wirklich umgesetzt werden, werden alle demokratischen
Kräfte, alle demokratischen Werte, die universellen Freiheiten
einen Schlag ins Gesicht erhalten. Daher ist seitens aller Beteiligten
eine verantwortungsvolle Haltung wünschenswert.