Presseerklärung
Zum Verbot kurdischer Medien in Deutschland
Heute fanden in mehreren kurdischen Einrichtungen und Privatwohnungen
in der Bundesrepublik Durchsuchungen statt. Betroffen waren die
Tageszeitung Özgür Politika und die Nachrichtenagentur
Mezopotamya (MHA) in Neu-Isenburg bei Frankfurt, der Verlag Mezopotamya
in Köln, der Musikverlag MIR in Düsseldorf sowie zahlreiche
Privatwohnungen von Özgür-Politika-MitarbeiterInnen in
verschiedenen Bundesländern.
Der Verlag E.Xani Presse-
und Verlags-GmbH, der die Zeitung seit über zehn Jahren herausgibt,
wurde verboten. Gegen die anderen betroffenen Institutionen laufen
Ermittlungsverfahren. Im Verlauf der Durchsuchungen kam es zu einigen
Festnahmen. Als Rechtsgrundlage für das Verbot musste das Vereinsgesetz
herhalten. Die Herausgabe der Zeitung Özgür Politika verstößt
nach Auffassung von Innenminister Schily gegen das 1993 in der Bundesrepublik
erlassene Betätigungsverbot gegen die PKK.
Schily erklärte
dazu: „In Anbetracht der erneuten Eskalation der Anschläge
und Kampfhandlungen in der Türkei bin ich nicht gewillt zu
tolerieren, dass trotz eines bestandskräftigen Betätigungsverbots
gegen die PKK diese Organisation ihre Propaganda in Deutschland
offen verbreiten kann. Daran ändert auch die jüngst seitens
der PKK verkündigte ‚einseitige Waffenruhe’ nichts,
da bereits erneute Kampfhandlungen in der Türkei zu verzeichnen
sind“.
Der ehemalige RAF-Anwalt
und heutige Scharfmacher Schily folgt mit dieser Argumentation der
chauvinistischen Linie des türkischen Staates, der nach wie
vor auf Vernichtung der kurdischen Bewegung setzt, anstatt die kurdische
Frage auf demokratischem Weg zu lösen. Bereits in den neunziger
Jahren hat die PKK mehrmals einseitige Waffenstände ausgerufen,
die von türkischer Seite keine Entgegnung fanden. 1999 wurden
die bewaffneten Kräfte aus dem Staatsgebiet der Türkei
abgezogen. Da der türkische Staat auf keines der Friedensangebote
einging und sich die Angriffe auf Guerilla und Zivilbevölkerung
vermehrten, sah sich die kurdische Bewegung gezwungen, aktive Selbstverteidigung
zu betreiben. Bei seit dem Frühjahr verstärkt stattfindenden
Gefechten zwischen der türkischen Armee und Guerillaeinheiten
sind bereits wieder Hunderte Menschen ums Leben gekommen.
Die kurdische Bevölkerung
will Frieden, und so wird jedes Anzeichen eines Entgegenkommens
des türkischen Staates zum Anlass genommen, unverzüglich
auf Gewaltmittel zu verzichten, um einen Raum für Verhandlungen
zu schaffen. Vor zwei Wochen verkündete die Guerilla eine einmonatige
militärische Aktionspause, nachdem Ministerpräsident Erdogan
in Diyarbakir erstmalig von einer demokratischen Lösung der
kurdischen Frage gesprochen hatte. Innerhalb dieser ersten zwei
Wochen wurden die Angriffe auf Guerilla und Zivilbevölkerung
trotz alledem gesteigert, während die Guerilla keine Aktionen
ausführte. Eine Bilanz dieser Angriffe befindet sich im Anhang.
Zur Eskalation führte
am Wochenende das Verbot einer in Gemlik geplanten Großdemonstration
gegen die Isolation Abdullah Öcalans und für eine demokratische
Lösung der kurdischen Frage. In Gemlik bei Bursa befindet sich
der Schiffsanleger für die Gefängnisinsel Imrali, auf
der Abdullah Öcalan seit sechseinhalb Jahren als einziger Gefangener
unter verschärften Isolationsbedingungen inhaftiert ist. Auf
dem Weg zur Demonstration wurden aus der ganzen Türkei kommende
Busse gestoppt und zum Umkehren gezwungen. Auf dem Rückweg
kam es an mehreren Orten zu organisierten Angriffen von türkischen
Faschisten. Ein Bus, in dem sich fünfzig Menschen befanden,
wurde angezündet. Die Sicherheitskräfte griffen spät
oder gar nicht ein. In Istanbul, wo die Busse am Losfahren gehindert
wurden, kam es in mehreren Stadtteilen zu Spontandemonstrationen.
Auch in anderen Städten finden nach wie vor Protestdemonstrationen
und Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften statt.
Erst vergangenen Samstag
brachten 100 000 Kurdinnen und Kurden aus ganz Europa ihren Wunsch
nach Frieden und einer demokratischen Lösung bei einem „Internationalen
Kulturfestival“ in Köln zum Ausdruck. Diese Massenveranstaltungen
verlaufen immer friedlich und geordnet. Ebenso friedlich hätte
die in Gemlik geplante Demonstration verlaufen können.
Die Haltung des türkischen
Staates, in die sich Schily aus wahltaktischen Gründen einordnet,
zeugt von Unlogik und Unfähigkeit. Das seit 1993 in Deutschland
bestehende PKK-Verbot ist anachronistisch und nicht auf eine Lösung
ausgerichtet. Es ist unsinnig, die PKK als Terrorproblem zu behandeln.
Der kurdische Befreiungskampf hat eine dreißigjährige
Geschichte und lässt sich nicht ungeschehen machen. Repression,
ob in der Türkei oder in Deutschland, kann aufgrund der Verankerung
der Bewegung in der kurdischen Bevölkerung nur in eine Sackgasse
führen. Eine Lösung kann nur im Dialog zwischen den betroffenen
Parteien erarbeitet werden. Europas Aufgabe dabei wäre es,
einen solchen Dialog zu unterstützen, anstatt sich der Politik
des türkischen Staates in der Kurdenfrage anzupassen.
Bilanz nach zwei Wochen
„Waffenstillstand“
Zwei Wochen nach der Verkündung einer einmonatigen Aktionspause
der kurdischen Guerilla (HPG) am 20. August ist keine positive Veränderung
zu verzeichnen. Weder die Militäroperationen sind eingestellt
worden, noch hat die Repression gegen die kurdische Bevölkerung
und kurdische Institutionen aufgehört. Der militärische
Flügel im türkischen Staat beharrt auf Gewalt und aus
dem zivilen Bereich ist keinerlei Initiative zu erkennen. Die Guerilla
hat sich an ihren Beschluss gehalten und keinerlei Aktionen durchgeführt.
Am ersten Tag der Verkündung der einmonatigen Aktionspause
hat in Besta und am Herekol eine Militäroperation unter Beteiligung
tausender Soldaten und Dorfschützer begonnen. In Gabar ist
aufgrund von Bombardierungen ein Waldbrand ausgebrochen. In Dersim-Pülümür
sind zwei HPG-Kämpfer bei einem Gefecht im Rahmen einer Militäroperation
gefallen. Auch bei der türkischen Armee gibt es laut HPG-Angaben
Verluste. In Bingöl-Genc findet ebenfalls eine Militäroperation
statt.
Am 2. Tag nach der Kongra-Gel-Erklärung kam von Justizminister
Cemil Cicek eine negative Verlautbarung. Cicek erklärte, den
Kongra-Gel-Beschluss nicht ernst zu nehmen, da es sich bei der PKK
um eine terroristische Organisation handele. Ein Staat könne
nicht auf eine Erklärung einer solchen Organisation reagieren,
teilte Cicek mit.
In Trabzon-Macka fand
eine wichtige Entwicklung statt. Drei HPG-Kämpfer erledigten
Einkäufe im Rahmen der Vorbereitungen auf einen Rückzug
aus der Region aufgrund der Kongra-Gel-Entscheidung und wurden aufgrund
einer Denunziation angegriffen. Dabei wurde Ferhat Haso aus Südwestkurdistan
hingerichtet und Sinan Gencer verletzt festgenommen. Ein weiterer
Guerillakämpfer konnte entkommen. Als Gencer zum Ort des Geschehens
gebracht wurde, wurde versucht, ihn zu lynchen.
Am 22. August fand eine
Razzia im DEHAP-Gebäude in Elbistan statt. Dabei wurden vier
Personen festgenommen. Am selben Tag bombardierten Hubschrauber
der türkischen Armee willkürlich das Gebiet Deriye Cirkcirok.
Am 23. August war der
wichtigste Punkt der Agenda die Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates
(MGK). Dabei erklärte das Militär die kurdische Frage
erneut zu einem „Terrorproblem“ und verwarnte die Regierung.
Am selben Tag erschien
die Meldung, dass die Bewohner des 1994 entvölkerten Dorfes
Dönertas bei dem Versuch der Rückkehr dazu gezwungen wurden,
als Dorfschützer tätig zu werden. Wer sich weigerte, musste
das Dorf erneut verlassen.
Gleichzeitig wurden Fabriken
in Silopi nahe der Grenze nach Südkurdistan von der türkischen
Armee beschossen, die ständig Grenzverletzungen verübt
und grenzüberschreitende Operationen androht. Die Bevölkerung
von Silopi befindet sich deshalb in Lebensgefahr.
Laut einer HPG-Erklärung
ist eine Schafherde durch von der türkischen Armee gelegte
Minen am 23. August in Hakkari vernichtet worden. Am selben Tag
wurde im Zap-Gebiet eine Operation eingeleitet. Durch einen zuvor
gelegten Hinterhalt starben bei einer Explosion zwei Soldaten der
türkischen Armee, drei weitere wurden verletzt. Nach dem Vorfall
bombardierten Hubschrauber willkürlich das Gebiet. Dabei brach
in Ertus ein Waldbrand aus.
Am 24. August wurden
der DEHAP-Vorsitzende Tuncer Bakirhan und weitere Vorstandsmitglieder
vor den Haftrichter geschickt. Anlass auf den staatsanwaltschaftlichen
Antrag auf Haftbefehl war eine Abschlusserklärung einer DEHAP-Versammlung.
Der Haftbefehl wurde vom zuständigen Richter abgelehnt, allerdings
wurde zur Auflage gemacht, dass die Beschuldigten das Land nicht
verlassen dürfen und sich einmal wöchentlich bei der Polizei
in Ankara melden müssen.
In Malatya überfiel
am gleichen Tag die Jandarma eine Hochzeit, weil angeblich eine
PKK-Fahne bei der Feier aufgehängt worden sei. Der befehlshabende
Offizier gab den Befehl, jeden zu erschießen, der sich rührt,
weil für ihn kein Unterschied bestehe zwischen den Hochzeitsgästen
und „denen in den Bergen“. In Izmir fand ein Lynchversuch
an fünf vermeintlichen PKK-Anhängern statt. In Batman
wurde eine Militäroperation eingeleitet.
Am 25. August begaben
sich kurdische Frauen als Mitglieder der Initiative „Mütter
für den Frieden“ nach Ankara. Die Mütter wollten
in Ankara mit Premierminister Erdogan und dem Generalstabschef Özkök
zusammen treffen, um ihre Forderung nach einem zweiseitigen Waffenstillstand
zum Ausdruck zu bringen. Aber entgegen seiner zuvor in Diyarbakir
gemachten Ankündigung, „jeden anzuhören, der etwas
zu sagen hat“, verweigerte Erdogan sich einem Treffen. Am
gleichen Tag genehmigte das Innenministerium ein Ermittlungsverfahren
gegen den Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, und
weitere sechs Stadtratsmitglieder, weil diese eine Ambulanz für
eine Guerilla-Beerdigung gestellt hätten.
Auch in der Behandlung
Abdullah Öcalans, als dem eigentlichen Ansprechpartner in einem
Dialog für eine Lösung der kurdischen Frage, hat sich
nichts geändert. Zwischen Öcalan und seiner Verteidigung
hat seit zwölf Wochen kein Kontakt stattgefunden.
Auch der Vorsitzende
des Menschenrechtsvereins (IHD), Yusuf Alatas, stellte fest, dass
innerhalb dieser einen Woche der Nationalismus und die Gewalt angestiegen
seien. Der stellvertretende ÖDP-Vorsitzende Hakan Taymaz, der
zu der Gruppe von Intellektuellen gehört, die mit Premierminister
Erdogan vor dessen Diyarbakir-Besuch zusammen getroffen waren, bezeichnete
die Entwicklungen als „besorgniserregend“. Der Kongra-Gel-Beschluss
sei bedeutungsvoll, aber der Staat wisse dieses nicht zu nutzen,
erklärte er.
In Batman-Besiri wurde
eine Militäroperation eingeleitet. Die Bevölkerung von
Batman marschierte ins Operationsgebiet, um die Operation zu stoppen.
Nach der Verkündung des zuständigen Gouverneurs, die Operation
sei beendet, wurde auch die Demonstration beendet. Aber bei der
Militäroperation wurden sieben GuerillakämpferInnen getötet.
Unter bisher ungeklärten Umständen kam auch ein Zivilist
ums Leben. Auch zwölf Soldaten sollen ihr Leben bei der Operation
verloren haben. Als die Bevölkerung die Leichname der getöteten
GuerillakämpferInnen aus dem Leichenschauhaus holen wollte,
setzte die Polizei Schusswaffen ein. Der 25-jährige Hasan Is
wurde dabei durch einen Kopfschuss getötet. Es kam zu zahlreichen
weiteren Verletzten, Festnahmen und Verhaftungen.
Die Militäroperation
blieb nicht auf Batman begrenzt. In Van-Baskale wurde der HPG-Kämpfer
Salih Dogan Yildirim bei einer Operation getötet. Auch bei
der türkischen Armee soll es zu Toten und Verletzten gekommen
sein. In Gabar und Besta wurden ebenfalls Operationen eingeleitet.
Das Gebiet Gabar wurde von Flugzeugen bombardiert. Wälder in
beiden Gebieten wurden in Brand gesetzt. Weitere Operationen fanden
in Silvan, Lice, Mardin und Yüksekova statt. In Siirt-Pervari
wurden bei einer Minenexplosion auf einem Weg zu einem Dorf zwei
Menschen getötet und fünf weitere verletzt. In Siirt-Kurtalan
fanden Vorbereitungen für eine Militäroperation statt.
Bei einem Gefecht im Rahmen einer Militäroperation in Eruh
wurde ein Dorfschützer verletzt.
Auch die Angriffe auf
die kurdische Zivilbevölkerung wurden in der zweiten Woche
fortgesetzt. Auf der Insel Cunda im Kreis Ayvalik wurden kurdische
Geschäfte von einer Gruppe von 500 Menschen angegriffen. Am
31. August wurden Schafherden auf einer Hochalm in Beytüsebap
von Hubschraubern aus bombardiert. In Sirnak wurde versucht, die
Bewohner zur Beteiligung an einer vom Gouverneursamt und der örtlichen
Militärkommandantur organisierten Demonstration unter dem Motto
„Nein zum Terror“ zu zwingen.
In Van-Özalp wurden
Dorfbewohner als mutmaßliche Heizöl-Schmuggler von Soldaten
beschossen. Dabei wurden zwei Kinder von Kugeln getroffen. Vier
Dorfbewohner wurden durch Schlagstockeinsatz verletzt. In Burdur-Buca
kam der kurdische Wehrdienstleistende Osman Gültekin siebzig
Tage vor seiner Entlassung ums Leben. Seine Familie zweifelt die
offizielle Selbstmordversion an.
In Yüksekova wurde
dem Bürgermeister M. Salih Yildiz der Zutritt zum offiziellen
Empfang anlässlich des türkischen Nationalfeiertages am
30. August verwehrt. Am gleichen Tag fanden Razzien in mehreren
Häusern von Guerillafamilien in Hakkari statt. Die Begründung
lautete auf „mögliche Aktionen am Nationalfeiertag“.
In Siirt wurden 29 Gräber
gefallener Guerillakämpfer auf einem Friedhof zerstört.
In Bursa protestierten 400 kurdische Geschäftsinhaber gegen
andauernde Personenkontrollen mit der vorübergehenden Schließung
ihrer Läden. In Nusaybin wurden sechs DEHAP-Mitglieder und
zwei Journalisten verhaftet, weil sie an der Trauerfeier eines in
Trabzon-Macka getöteten Guerillakämpfers teilgenommen
haben.
Gegen den Bürgermeister
von Sur und vier weitere MitarbeiterInnen wurde ein Ermittlungsverfahren
wegen einer für den in Kiziltepe von Sicherheitskräften
ermordeten zwölfjahrigen Ugur Kaymaz errichteten Gedenkstätte
eingeleitet.
Ein weiteres Ermittlungsverfahren
wurde gegen den Vorsitzenden des IHD Bingöl, Ridvan Kizgin,
eingeleitet, weil er den Ausdruck „HPG-Guerilla“ benutzt
und die Verstümmelung von Guerillaleichnamen öffentlich
gemacht hat. Die einmal monatlich erscheinenden Zeitschriften „Özgür
Halk“ und „Genc Bakis“ wurden staatsanwaltschaftlich
verboten.
Quelle: Özgür
Politika, 27.08.2005, 03.09.2005, ISKU
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