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Hamburg, 05.09.2005

Presseerklärung


Zum Verbot kurdischer Medien in Deutschland


Heute fanden in mehreren kurdischen Einrichtungen und Privatwohnungen in der Bundesrepublik Durchsuchungen statt. Betroffen waren die Tageszeitung Özgür Politika und die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MHA) in Neu-Isenburg bei Frankfurt, der Verlag Mezopotamya in Köln, der Musikverlag MIR in Düsseldorf sowie zahlreiche Privatwohnungen von Özgür-Politika-MitarbeiterInnen in verschiedenen Bundesländern.

Der Verlag E.Xani Presse- und Verlags-GmbH, der die Zeitung seit über zehn Jahren herausgibt, wurde verboten. Gegen die anderen betroffenen Institutionen laufen Ermittlungsverfahren. Im Verlauf der Durchsuchungen kam es zu einigen Festnahmen. Als Rechtsgrundlage für das Verbot musste das Vereinsgesetz herhalten. Die Herausgabe der Zeitung Özgür Politika verstößt nach Auffassung von Innenminister Schily gegen das 1993 in der Bundesrepublik erlassene Betätigungsverbot gegen die PKK.

Schily erklärte dazu: „In Anbetracht der erneuten Eskalation der Anschläge und Kampfhandlungen in der Türkei bin ich nicht gewillt zu tolerieren, dass trotz eines bestandskräftigen Betätigungsverbots gegen die PKK diese Organisation ihre Propaganda in Deutschland offen verbreiten kann. Daran ändert auch die jüngst seitens der PKK verkündigte ‚einseitige Waffenruhe’ nichts, da bereits erneute Kampfhandlungen in der Türkei zu verzeichnen sind“.

Der ehemalige RAF-Anwalt und heutige Scharfmacher Schily folgt mit dieser Argumentation der chauvinistischen Linie des türkischen Staates, der nach wie vor auf Vernichtung der kurdischen Bewegung setzt, anstatt die kurdische Frage auf demokratischem Weg zu lösen. Bereits in den neunziger Jahren hat die PKK mehrmals einseitige Waffenstände ausgerufen, die von türkischer Seite keine Entgegnung fanden. 1999 wurden die bewaffneten Kräfte aus dem Staatsgebiet der Türkei abgezogen. Da der türkische Staat auf keines der Friedensangebote einging und sich die Angriffe auf Guerilla und Zivilbevölkerung vermehrten, sah sich die kurdische Bewegung gezwungen, aktive Selbstverteidigung zu betreiben. Bei seit dem Frühjahr verstärkt stattfindenden Gefechten zwischen der türkischen Armee und Guerillaeinheiten sind bereits wieder Hunderte Menschen ums Leben gekommen.

Die kurdische Bevölkerung will Frieden, und so wird jedes Anzeichen eines Entgegenkommens des türkischen Staates zum Anlass genommen, unverzüglich auf Gewaltmittel zu verzichten, um einen Raum für Verhandlungen zu schaffen. Vor zwei Wochen verkündete die Guerilla eine einmonatige militärische Aktionspause, nachdem Ministerpräsident Erdogan in Diyarbakir erstmalig von einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage gesprochen hatte. Innerhalb dieser ersten zwei Wochen wurden die Angriffe auf Guerilla und Zivilbevölkerung trotz alledem gesteigert, während die Guerilla keine Aktionen ausführte. Eine Bilanz dieser Angriffe befindet sich im Anhang.

Zur Eskalation führte am Wochenende das Verbot einer in Gemlik geplanten Großdemonstration gegen die Isolation Abdullah Öcalans und für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage. In Gemlik bei Bursa befindet sich der Schiffsanleger für die Gefängnisinsel Imrali, auf der Abdullah Öcalan seit sechseinhalb Jahren als einziger Gefangener unter verschärften Isolationsbedingungen inhaftiert ist. Auf dem Weg zur Demonstration wurden aus der ganzen Türkei kommende Busse gestoppt und zum Umkehren gezwungen. Auf dem Rückweg kam es an mehreren Orten zu organisierten Angriffen von türkischen Faschisten. Ein Bus, in dem sich fünfzig Menschen befanden, wurde angezündet. Die Sicherheitskräfte griffen spät oder gar nicht ein. In Istanbul, wo die Busse am Losfahren gehindert wurden, kam es in mehreren Stadtteilen zu Spontandemonstrationen. Auch in anderen Städten finden nach wie vor Protestdemonstrationen und Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften statt.

Erst vergangenen Samstag brachten 100 000 Kurdinnen und Kurden aus ganz Europa ihren Wunsch nach Frieden und einer demokratischen Lösung bei einem „Internationalen Kulturfestival“ in Köln zum Ausdruck. Diese Massenveranstaltungen verlaufen immer friedlich und geordnet. Ebenso friedlich hätte die in Gemlik geplante Demonstration verlaufen können.

Die Haltung des türkischen Staates, in die sich Schily aus wahltaktischen Gründen einordnet, zeugt von Unlogik und Unfähigkeit. Das seit 1993 in Deutschland bestehende PKK-Verbot ist anachronistisch und nicht auf eine Lösung ausgerichtet. Es ist unsinnig, die PKK als Terrorproblem zu behandeln. Der kurdische Befreiungskampf hat eine dreißigjährige Geschichte und lässt sich nicht ungeschehen machen. Repression, ob in der Türkei oder in Deutschland, kann aufgrund der Verankerung der Bewegung in der kurdischen Bevölkerung nur in eine Sackgasse führen. Eine Lösung kann nur im Dialog zwischen den betroffenen Parteien erarbeitet werden. Europas Aufgabe dabei wäre es, einen solchen Dialog zu unterstützen, anstatt sich der Politik des türkischen Staates in der Kurdenfrage anzupassen.

Bilanz nach zwei Wochen „Waffenstillstand“


Zwei Wochen nach der Verkündung einer einmonatigen Aktionspause der kurdischen Guerilla (HPG) am 20. August ist keine positive Veränderung zu verzeichnen. Weder die Militäroperationen sind eingestellt worden, noch hat die Repression gegen die kurdische Bevölkerung und kurdische Institutionen aufgehört. Der militärische Flügel im türkischen Staat beharrt auf Gewalt und aus dem zivilen Bereich ist keinerlei Initiative zu erkennen. Die Guerilla hat sich an ihren Beschluss gehalten und keinerlei Aktionen durchgeführt.


Am ersten Tag der Verkündung der einmonatigen Aktionspause hat in Besta und am Herekol eine Militäroperation unter Beteiligung tausender Soldaten und Dorfschützer begonnen. In Gabar ist aufgrund von Bombardierungen ein Waldbrand ausgebrochen. In Dersim-Pülümür sind zwei HPG-Kämpfer bei einem Gefecht im Rahmen einer Militäroperation gefallen. Auch bei der türkischen Armee gibt es laut HPG-Angaben Verluste. In Bingöl-Genc findet ebenfalls eine Militäroperation statt.
Am 2. Tag nach der Kongra-Gel-Erklärung kam von Justizminister Cemil Cicek eine negative Verlautbarung. Cicek erklärte, den Kongra-Gel-Beschluss nicht ernst zu nehmen, da es sich bei der PKK um eine terroristische Organisation handele. Ein Staat könne nicht auf eine Erklärung einer solchen Organisation reagieren, teilte Cicek mit.

In Trabzon-Macka fand eine wichtige Entwicklung statt. Drei HPG-Kämpfer erledigten Einkäufe im Rahmen der Vorbereitungen auf einen Rückzug aus der Region aufgrund der Kongra-Gel-Entscheidung und wurden aufgrund einer Denunziation angegriffen. Dabei wurde Ferhat Haso aus Südwestkurdistan hingerichtet und Sinan Gencer verletzt festgenommen. Ein weiterer Guerillakämpfer konnte entkommen. Als Gencer zum Ort des Geschehens gebracht wurde, wurde versucht, ihn zu lynchen.

Am 22. August fand eine Razzia im DEHAP-Gebäude in Elbistan statt. Dabei wurden vier Personen festgenommen. Am selben Tag bombardierten Hubschrauber der türkischen Armee willkürlich das Gebiet Deriye Cirkcirok.

Am 23. August war der wichtigste Punkt der Agenda die Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates (MGK). Dabei erklärte das Militär die kurdische Frage erneut zu einem „Terrorproblem“ und verwarnte die Regierung.

Am selben Tag erschien die Meldung, dass die Bewohner des 1994 entvölkerten Dorfes Dönertas bei dem Versuch der Rückkehr dazu gezwungen wurden, als Dorfschützer tätig zu werden. Wer sich weigerte, musste das Dorf erneut verlassen.

Gleichzeitig wurden Fabriken in Silopi nahe der Grenze nach Südkurdistan von der türkischen Armee beschossen, die ständig Grenzverletzungen verübt und grenzüberschreitende Operationen androht. Die Bevölkerung von Silopi befindet sich deshalb in Lebensgefahr.

Laut einer HPG-Erklärung ist eine Schafherde durch von der türkischen Armee gelegte Minen am 23. August in Hakkari vernichtet worden. Am selben Tag wurde im Zap-Gebiet eine Operation eingeleitet. Durch einen zuvor gelegten Hinterhalt starben bei einer Explosion zwei Soldaten der türkischen Armee, drei weitere wurden verletzt. Nach dem Vorfall bombardierten Hubschrauber willkürlich das Gebiet. Dabei brach in Ertus ein Waldbrand aus.

Am 24. August wurden der DEHAP-Vorsitzende Tuncer Bakirhan und weitere Vorstandsmitglieder vor den Haftrichter geschickt. Anlass auf den staatsanwaltschaftlichen Antrag auf Haftbefehl war eine Abschlusserklärung einer DEHAP-Versammlung. Der Haftbefehl wurde vom zuständigen Richter abgelehnt, allerdings wurde zur Auflage gemacht, dass die Beschuldigten das Land nicht verlassen dürfen und sich einmal wöchentlich bei der Polizei in Ankara melden müssen.

In Malatya überfiel am gleichen Tag die Jandarma eine Hochzeit, weil angeblich eine PKK-Fahne bei der Feier aufgehängt worden sei. Der befehlshabende Offizier gab den Befehl, jeden zu erschießen, der sich rührt, weil für ihn kein Unterschied bestehe zwischen den Hochzeitsgästen und „denen in den Bergen“. In Izmir fand ein Lynchversuch an fünf vermeintlichen PKK-Anhängern statt. In Batman wurde eine Militäroperation eingeleitet.

Am 25. August begaben sich kurdische Frauen als Mitglieder der Initiative „Mütter für den Frieden“ nach Ankara. Die Mütter wollten in Ankara mit Premierminister Erdogan und dem Generalstabschef Özkök zusammen treffen, um ihre Forderung nach einem zweiseitigen Waffenstillstand zum Ausdruck zu bringen. Aber entgegen seiner zuvor in Diyarbakir gemachten Ankündigung, „jeden anzuhören, der etwas zu sagen hat“, verweigerte Erdogan sich einem Treffen. Am gleichen Tag genehmigte das Innenministerium ein Ermittlungsverfahren gegen den Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, und weitere sechs Stadtratsmitglieder, weil diese eine Ambulanz für eine Guerilla-Beerdigung gestellt hätten.

Auch in der Behandlung Abdullah Öcalans, als dem eigentlichen Ansprechpartner in einem Dialog für eine Lösung der kurdischen Frage, hat sich nichts geändert. Zwischen Öcalan und seiner Verteidigung hat seit zwölf Wochen kein Kontakt stattgefunden.

Auch der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD), Yusuf Alatas, stellte fest, dass innerhalb dieser einen Woche der Nationalismus und die Gewalt angestiegen seien. Der stellvertretende ÖDP-Vorsitzende Hakan Taymaz, der zu der Gruppe von Intellektuellen gehört, die mit Premierminister Erdogan vor dessen Diyarbakir-Besuch zusammen getroffen waren, bezeichnete die Entwicklungen als „besorgniserregend“. Der Kongra-Gel-Beschluss sei bedeutungsvoll, aber der Staat wisse dieses nicht zu nutzen, erklärte er.

In Batman-Besiri wurde eine Militäroperation eingeleitet. Die Bevölkerung von Batman marschierte ins Operationsgebiet, um die Operation zu stoppen. Nach der Verkündung des zuständigen Gouverneurs, die Operation sei beendet, wurde auch die Demonstration beendet. Aber bei der Militäroperation wurden sieben GuerillakämpferInnen getötet. Unter bisher ungeklärten Umständen kam auch ein Zivilist ums Leben. Auch zwölf Soldaten sollen ihr Leben bei der Operation verloren haben. Als die Bevölkerung die Leichname der getöteten GuerillakämpferInnen aus dem Leichenschauhaus holen wollte, setzte die Polizei Schusswaffen ein. Der 25-jährige Hasan Is wurde dabei durch einen Kopfschuss getötet. Es kam zu zahlreichen weiteren Verletzten, Festnahmen und Verhaftungen.

Die Militäroperation blieb nicht auf Batman begrenzt. In Van-Baskale wurde der HPG-Kämpfer Salih Dogan Yildirim bei einer Operation getötet. Auch bei der türkischen Armee soll es zu Toten und Verletzten gekommen sein. In Gabar und Besta wurden ebenfalls Operationen eingeleitet. Das Gebiet Gabar wurde von Flugzeugen bombardiert. Wälder in beiden Gebieten wurden in Brand gesetzt. Weitere Operationen fanden in Silvan, Lice, Mardin und Yüksekova statt. In Siirt-Pervari wurden bei einer Minenexplosion auf einem Weg zu einem Dorf zwei Menschen getötet und fünf weitere verletzt. In Siirt-Kurtalan fanden Vorbereitungen für eine Militäroperation statt. Bei einem Gefecht im Rahmen einer Militäroperation in Eruh wurde ein Dorfschützer verletzt.

Auch die Angriffe auf die kurdische Zivilbevölkerung wurden in der zweiten Woche fortgesetzt. Auf der Insel Cunda im Kreis Ayvalik wurden kurdische Geschäfte von einer Gruppe von 500 Menschen angegriffen. Am 31. August wurden Schafherden auf einer Hochalm in Beytüsebap von Hubschraubern aus bombardiert. In Sirnak wurde versucht, die Bewohner zur Beteiligung an einer vom Gouverneursamt und der örtlichen Militärkommandantur organisierten Demonstration unter dem Motto „Nein zum Terror“ zu zwingen.

In Van-Özalp wurden Dorfbewohner als mutmaßliche Heizöl-Schmuggler von Soldaten beschossen. Dabei wurden zwei Kinder von Kugeln getroffen. Vier Dorfbewohner wurden durch Schlagstockeinsatz verletzt. In Burdur-Buca kam der kurdische Wehrdienstleistende Osman Gültekin siebzig Tage vor seiner Entlassung ums Leben. Seine Familie zweifelt die offizielle Selbstmordversion an.

In Yüksekova wurde dem Bürgermeister M. Salih Yildiz der Zutritt zum offiziellen Empfang anlässlich des türkischen Nationalfeiertages am 30. August verwehrt. Am gleichen Tag fanden Razzien in mehreren Häusern von Guerillafamilien in Hakkari statt. Die Begründung lautete auf „mögliche Aktionen am Nationalfeiertag“.

In Siirt wurden 29 Gräber gefallener Guerillakämpfer auf einem Friedhof zerstört. In Bursa protestierten 400 kurdische Geschäftsinhaber gegen andauernde Personenkontrollen mit der vorübergehenden Schließung ihrer Läden. In Nusaybin wurden sechs DEHAP-Mitglieder und zwei Journalisten verhaftet, weil sie an der Trauerfeier eines in Trabzon-Macka getöteten Guerillakämpfers teilgenommen haben.

Gegen den Bürgermeister von Sur und vier weitere MitarbeiterInnen wurde ein Ermittlungsverfahren wegen einer für den in Kiziltepe von Sicherheitskräften ermordeten zwölfjahrigen Ugur Kaymaz errichteten Gedenkstätte eingeleitet.

Ein weiteres Ermittlungsverfahren wurde gegen den Vorsitzenden des IHD Bingöl, Ridvan Kizgin, eingeleitet, weil er den Ausdruck „HPG-Guerilla“ benutzt und die Verstümmelung von Guerillaleichnamen öffentlich gemacht hat. Die einmal monatlich erscheinenden Zeitschriften „Özgür Halk“ und „Genc Bakis“ wurden staatsanwaltschaftlich verboten.

Quelle: Özgür Politika, 27.08.2005, 03.09.2005, ISKU

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