Köln, 28. Oktober 2005
Lex Öcalan
– Sondergesetze im neuen türkischen Recht
Seit dem 1. Juni
2005 haben die Rechtsanwälte von Abdullah Öcalan keinen
Kontakt mehr zu ihrem Mandanten. Auch der Familie des Kurdenführers
wird der Besuch seit drei Monaten willkürlich verwehrt. Laut
den Öcalananwälten hatte sich der Gesundheitszustand Abdullah
Öcalans in der ersten Jahreshälfte verschlechtert. Aufgrund
der Totalisolation gibt es über die jetzige Situation des Kurdenführers
keine Erkenntnis.
Die Reform des türkischen Strafrechts im Zuge des EU-Anpassungsprozess
stieß international auf Anerkennung und Lob. Weniger bekannt
dürften jedoch die Sonderregelungen im Windschatten der EU-Reformen
sein, welche die vollzogenen Reformen letztlich massiv in Frage stellen.
Dies betrifft vor allem die Sondergesetzgebung für Abdullah Öcalan:
1. Im Zuge der nationalen Strafrechtsreform wurden zwar die rechtlichen
Voraussetzungen für die Umsetzung der Urteile des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof geschaffen. Hierfür wurde ein Absatz
zum Paragraphen 327 im Gesetz Nr.2006, hinzugefügt, in dem auf
deren Rechtsverbindlichkeit Bezug genommen wird. Im neuen Strafgesetzbuch,
5353, § 311, Absatz 2, wird jedoch eine Einschränkung formuliert,
wonach die Regelung nur für Fälle Gültigkeit hat, die
nach dem 4. Februar 2003 beim EMGR eingereicht wurden. Somit ist nach
dem neuen türkischen Strafgesetzbuch die Neuaufnahme des Öcalanverfahrens,
wie die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefordert
hat, nicht möglich. Außerdem sind weitere 90 Personen von
der Ausnahmeregelung betroffen, die in der türkischen Öffentlichkeit
auch als „Öcalan-Lücke“ bezeichnet wird.
2. Die Änderung der § 22 und § 151 des neuen Strafgesetzbuches
hat direkte Auswirkung auf die Berufsausübung von Rechtsanwälten.
Die genannten Paragraphen beziehen sich auf Strafverteidiger, deren
Mandanten „terroristischer Straftaten“ angeklagt oder
hierfür rechtskräftig verurteilt wurden. Demnach reicht
ein vager Verdacht der „Beihilfe“ aus, um ein Untersuchungsverfahren
gegen den betroffen Rechtsanwalt einzuleiten. Für die Dauer des
Untersuchungsverfahrens wird die Entbindung des Rechtsanwaltes von
seinem Mandat von Amtswegen verfügt. Hierfür reicht ein
einfacher Antrag des zuständigen Staatsanwalts aus. Die rechtsstaatliche
Unschuldsvermutung ist hierbei außer Kraft gesetzt. Während
der Zeit des Untersuchungsverfahrens ist es dem Rechtsanwalt nicht
gestattet, seinen Mandanten zu besuchen oder anderweitig für
ihn tätig zu werden.
Der zeitliche Zusammenhang – die oben genannten Gesetzesänderung
wurden noch vor dem Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte im Fall Öcalan in Kraft gesetzt –,
die diesbezüglichen Debatten im türkischen Parlament und
entsprechende Erklärungen von Regierungsvertretern legen den
Schluss nahe, dass der Fall Öcalan bei der Formulierung der Gesetzesänderungen
und Ausnahmeregelungen eine maßgebliche Rolle gespielt hat.
Mit dem 1. Juni 2005 traten diese in Kraft. Wenige Tage später
wurde 6 Rechtsanwälten Abdullah Öcalans das Mandat entzogen.
Mittlerweile sind jedoch 12 seinemr Rechtsanwälte de facto von
einem Berufsverbot betroffen. Bisher kam es zu keinem vergleichbaren
Fall.
3. Auch folgende Änderung der türkischen Strafvollzugsordnung
steht im Zusammenhang mit dem Fall Öcalan. So wurde mit §
5 des Strafvollzugsgesetzes 5351 vom 25.05.2005 der Grundsatz der
Vertraulichkeit des Mandantengesprächs außer Kraft gesetzt,
wonach Gespräche zwischen Rechtsanwalt und Mandat ohne Aufsicht
zu erfolgen haben und die Verteidigung betreffende Unterlagen nicht
zur Habe genommen werden dürfen. Nun reicht der vage Verdacht
der „Beihilfe“ aus, um Gespräche von Anwalt und Mandant
mittels Tonträgern unter Anwesenheit eines Vollzugsbeamten aufzuzeichnen,
Verteidigungsunterlagen zu beschlagnahmen oder zu kopieren. Die Maßnahme
soll eine angebliche Koordination von inhaftierten und sich in Freiheit
befindlichen „Terroristen“ verhindern. Auch hier reicht
ein einfacher Antrag des Staatsanwalts aus, über den der zuständige
Vollzugsrichter zu entscheiden hat. Auch über die Herausgabe
von beschlagnahmten Verteidigungsunterlagen hat dieser Richter zu
entscheiden. Bisher wurde diese Maßnahme nur gegen die Rechtsanwälte
von Abdullah Öcalan bei ihrem letzten Zusammentreffen mit ihrem
Mandanten am 1. Juni 2005 angewendet. Dabei wurde das gesamte Gespräch
von einem Justizvollzugsbeamten aufgezeichnet, sämtliche Unterlagen
wurden beschlagnahmt.
Wie sehr die türkischen Gesetzgeber bei ihren Reformbemühungen
des türkischen Rechts auf den Fall Öcalan und auf die ungelöste
kurdische Frage fixiert sind, zeigt die Rede von Ersönmez Yarbay,
Parlamentsabgeordneter der Regierungspartei AKP, während der
Debatte der Nationalversammlung zur anstehenden Strafgesetzreform.
Er schlug ein Sondergesetz für die Gefängnisinsel Imrali
und damit für Öcalan vor, anstatt ein Gesetz zu verabschieden,
das die Rechte aller Staatsbürger massiv einschränkt. Für
eine offene Lex Öcalan fand sich keine Mehrheit. Am Ende kam
sie im Gewand der Reform.