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Hamburg,
12. Januar 2006
Pressemitteilung
Feministische Soziologin und Friedensaktivistin in der Türkei
von lebenslanger Haft bedroht
Der feministischen Soziologin und Friedensaktivistin Pınar Selek droht
in der Türkei eine lebenslange Haftstrafe aufgrund einer Tat, die sie
nicht begangen hat.
Zur Person:
Pınar Selek, geboren 1971 in Istanbul, studierte in Ankara Soziologie
und absolvierte in Paris ihren Master. Ihr Vater ist ein bekannter Rechtsanwalt
in Istanbul. Sie begann früh, sich mit den bestehenden Problemen und Widersprüchen
in ihrem Land auseinander zu setzen, arbeitete als freie Soziologin mit
Straßenkindern und veröffentlichte in Buchform eine Studie über die Gewalt
an Transsexuellen und Transvestiten in Istanbul. Nebenbei übersetzte sie
ein Buch des Zapatista Marcos ins Türkische. Bei soziologischen Studien
zu den Hintergründen des in der Türkei seit langen Jahren andauernden
Krieges zwischen der türkischen Armee und der kurdischen PKK zog sie die
Aufmerksamkeit des Staates auf sich. Sie wurde festgenommen, unter Folter
verhört und ins Gefängnis gesteckt. Nach zweieinhalb Jahren wurde sie
aus der Haft entlassen und arbeitet seitdem aktiv in der Frauen- und Friedensbewegung.
Sie ist Mitgründerin der Frauenkooperative Amargi und organisierte nach
ihrer Haftentlassung sehr erfolgreich „Frauentreffen“ für einen Dialog
und Austausch in kurdischen Städten, zu denen sie mit anderen engagierten
Frauen aus den türkischen Metropolen fuhr. Auch die Aktion „Frauen laufen
aufeinander zu“, bei der aus verschiedenen Städten der Türkei Frauengruppen
zu langen Fahrten ins zentral gelegene Konya aufbrachen, wurde von Pınar
Selek mit initiiert. Weiterhin engagierte sie sich für Gewaltopfer wie
im Fall von Gülbahar Gündüz, die von Polizisten verschleppt und vergewaltigt
worden war, und in der Organisierung der Frauenbewegung. 2004 veröffentlichte
sie das Buch „Barışamadık“ (Wir haben keinen Frieden geschlossen), in
dem sie die Friedensbewegung und den Militarismus in der Türkei analysiert.
Sie schreibt außerdem für die Tageszeitung „Ülkede Özgür Gündem“.
Zum Prozess:
Wessen sie angeklagt wurde, erfuhr Pınar Selek anderthalb Monate nach
ihrer Verhaftung, als sie nach Folter und Verhören im Gefängnis Nachrichten
schaute. Sie wurde verantwortlich gemacht für eine Explosion in einem
belebten Basar in Istanbul am 9. Juli 1998, bei dem sieben Menschen ums
Leben kamen und weitere 120 verletzt wurden. Seit sieben Jahren läuft
ein Prozess gegen sie und weitere 14 Angeklagte, von denen sich zur Zeit
noch drei in Haft befinden. Der Prozess war von Beginn an geprägt von
Ungereimtheiten, die das Konstrukt der Anklage immer deutlicher werden
ließen. So ließ das Gericht im Laufe der Jahre immer neue Sachverständigengutachten
anfertigen, die aber stets das gleiche Ergebnis lieferten: Ursache der
Explosion in dem Basar sei eine geplatzte Gasflasche gewesen, keine Bombe.
Auf Drängen des Innenministeriums und der Istanbuler Polizeidirektion
wurde schließlich von der Kriminalabteilung der Jandarma ein neues Gutachten
erstellt, von dem Professorin Inci G. Gökmen von der Technischen Universität
Mittlerer Osten erklärte, sie sei aufgefordert worden, es zu unterschreiben,
nachdem zwei weitere Dozenten es bereits abgesegnet hatten. Sie lehnte
ab und veröffentlichte am 10.07.2002 ein eigenes Gutachten, in dem die
These vertreten wird, dass die Explosion im Zusammenhang mit einer defekten
Gasflasche steht. Unter Folter erpresste Zeugenaussagen gegen Pınar Selek
sind inzwischen wieder zurück genommen worden. Bei der letzten Hauptverhandlung
am 28.12.2005 forderte der Staatsanwalt in seinem Abschlussplädoyer zur
Verblüffung aller Prozessbeobachter für Pınar Selek und vier weitere Angeklagte
eine lebenslängliche Haftstrafe. Die Verhandlung wurde auf den 17. Mai
2006 vertagt.
Der bisherige Verlauf
des Prozesses macht deutlich, dass Pınar Selek mit einer konstruierten
Anklage zum Schweigen und zur Untätigkeit verurteilt werden soll. Ähnlich
wie in den bekannt gewordenen Fällen des Schriftstellers Orhan Pamuk und
des armenischen Verlegers Hrant Dink geht es um die Unterdrückung unliebsamer
Positionen. Zweck des Prozesses gegen Pınar Selek ist die Verhinderung
ihrer politischen Arbeit, die sich nie darauf beschränkte, gesellschaftliche
Probleme anzuprangern, sondern Menschen zusammenbringt, um über ein gegenseitiges
Verständnis Wege für ein friedliches Zusammenleben aller zu ebnen.
Anhang
im pdf:
„Ein völlig
absurder Prozess!“ - Von Müjdan Arpat, aus: Gündem Frauenbeilage, 07.01.2006,
ISKU
„Wir sind Zeuginnen“ – Unterstützungserklärung Intellektueller aus der
Türkei
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