Von
A wie Agca bis Ö wie Öcalan
Die
türkische Justiz als Schrittmacherin der Eskalation |
Kommentar
Reimar
Heider |
Die Justiz gilt in
der Türkei als die Institution, in der der Ultranationalismus am tiefsten
Wurzeln geschlagen hat. Dies ist in den letzten Monaten wieder besonders
deutlich zu Tage getreten. Über den Fall Orhan Pamuks und anschließend
Joost Lagendijks ist so viel geschrieben worden, dass hier nur Erwähnung
finden soll, wie sehr diese relativ harmlosen Verfahren die eigentlichen
Skandale in der öffentlichen Wahrnehmung überdecken. Viel weniger Staub
aufgewirbelt haben die absurde Forderung der Staatsanwaltschaft nach lebenslänglicher
Haft für die feministische Soziologin und Journalistin Pinar Selek und
die sechsmonatige Haftstrafe ohne Bewährung für Fatih Tas, den Verleger
des Buches „Sie sagen, du seiest verschwunden“.
Viel Beachtung fand dagegen die Freilassung des faschistischen Killers
Mehmet Ali Agca, der nicht nur auf den Papst geschossen, sondern auch
1979 den linksliberalen Herausgeber der Zeitung Milliyet, Abdi Ipekci,
ermordet hat. Agca war Mitglied der Killertruppe um Abdullah Catli, eben
den Abdullah Catli, der, obgleich von Interpol steckbrieflich gesucht,
mit von Mehmet Agar unterzeichnetem Diplomatenpass reiste und 1996 beim
berühmten Susurluk-Unfall ums Leben kam. Man erinnere sich: Catli, Agha
und ihr Komplize Haluk Kirci wurden schon früher aus mehren Gefängnissen
innerhalb und außerhalb der Türkei befreit, diesmal winkte Agca die Freiheit,
nachdem er ganze sechs von 36 Jahren abgesessen hatte. Der Empfang vor
dem Gefängnis war fürstlich: Ein protziger Mercedes wartete, Nationalisten
feierten den „Volkshelden“ mit großen Türkeiflaggen, warfen Blumen und
schlachteten Schafe zur Feier des Tages. Selbst Hürriyet titelte entsetzt:
„Es fehlt nur noch, dass er einen Orden bekommt.“
Genau zeitgleich, aber gänzlich unbemerkt von der europäischen Presse
wurde eine Maßnahme umgesetzt, die eine enorme Demütigung für die Kurden
in der Türkei darstellt. Als nämlich die Familie und die Anwälte Abdullah
Öcalans ihren Mandanten am islamischen Opferfest, dem traditionellen Datum
für Gefängnisbesuche, aufsuchen wollten, wurden sie mit einer angeblichen
Gerichtsentscheidung über eine dreiwöchige Zellenstrafe, auch bekannt
als „Bunkerhaft“, für Öcalan konfrontiert. Der Grund für diese Maßnahme
konnte bisher nicht in Erfahrung gebracht werden. Was wie ein Detail der
ohnehin extrem außergewöhnlichen Haftbedingungen des Kurdenführers wirken
mag – seit siebeneinhalb Monaten ist er praktisch total von der Außenwelt
isoliert und ohne Kontakt zu seinen Verteidigern, obwohl er sich auf die
wahrscheinliche Wiederaufnahme seines Prozesses vorbereitet – ist vielmehr
als gezielte Provokation anzusehen, die eine Eskalation herbeiführen soll.
Denn immer noch sieht die Mehrzahl der Kurden in der Türkei in Öcalan
das Symbol für ihren Befreiungskampf. Die Maßnahmen gegen ihn werden als
Angriff auf die Rechte aller Kurden betrachtet – zumal wenn sie mit steigender
Repression und wieder zunehmenden Menschenrechtsverletzungen in Kurdistan
einhergehen und Fortschritte in der kurdischen Frage auf sich warten lassen.
Die Reaktion der kurdischen Seite ließ dementsprechend nicht auf sich
warten: Unzählige Institutionen von IHD über DTP bis HPG verurteilten
die Haftverschärfung, Murat Karayilan warnte, der Krieg könne so außer
Kontrolle geraten, und rief alle Kurden zum Aufstand auf. In Yüksekova
wurden die Feiern zum Opferfest abgesagt, in vielen Städten fanden bereits
Protestdemonstrationen statt.
Die Justiz, in enger Abstimmung mit dem Militär und der nationalistischen
Bürokratie, dient offenbar momentan als Schrittmacher für die Hetze gegen
Kurden und Linke. Dabei werden Staatsanwälte immer noch gerne auf öffentliche
Fingerzeige des Militärs hin aktiv. Ohne eine deutliche Korrektur dieser
Zustände kann es keinen Fortschritt bei der Demokratisierung der Türkei
und erst recht keinen Fortschritt bei der Lösung der kurdischen Frage
geben. Im Gegenteil – wenn sich die momentane Tendenz fortsetzt, droht
im Frühjahr 2006 ein ausgewachsener Krieg. Es steht zu hoffen, dass die
Front der Demokraten breit genug sein wird, dem entgegenzutreten. Die
zu erwartenden Demonstrationen am 15. Februar, 8. März und an Newroz werden
die Nagelprobe sein.
Von Reimar Heider,
14.01.2006
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