Die Vogelgrippe
und die EU-Kandidatin Türkei
oder „nehmt meine zwei Frauen aber nicht meine Hühner“
von Mehmet
Sahin
Seit Anfang Herbst
vergangenen Jahres sorgt die Vogelgrippe in vielen Ländern der Nordhalbkugel
für Schlagzeilen. Einige von ihnen nahmen die Gefahr ernst, setzten sich
damit auseinander und trafen Vorkehrungen. Einige aber haben die Gefahr
der Vogelgrippe herunter gespielt, in dem die Verantwortlichen in oberen
Etagen der Macht vor laufenden Kameras Hühnerfleisch aßen und bescheinigten,
dass die Vogelgrippe für ihr Land keine Gefahr darstelle.
Zur zweiten Gruppe zählte Recep Tayyip Erdogan, Ministerpräsident des
EU-Kandidatenlandes Türkei. Der türkische Premier aß im Oktober, also
vor drei Monaten zeremoniell vorher kontrollierte Hähnchen. Wahrscheinlich
dachte der fromme Erdogan, dass die Zugvögel vor den Grenzen der Türkei
halt machen und mit Hilfe des Gottes eine andere Richtung nehmen würden.
Parallel hat er aber nicht gezögert, die großen Geflügelzüchter im Westen
der Türkei großzügig zu entschädigen. Der Rest wurde dann in die sicheren
Hände des Gottes überlassen.
Und nun drei-vier Monate später sterben Kinder der Ärmsten genau von dieser
offiziell heruntergespielten Krankheit. Es wurden fast keine Maßnahmen
für die Aufklärung der Bevölkerung getroffen. Die innere Öffentlichkeit
beschäftigte sich mit Kopftuchverbot, der Rolle der Imam-Hatip-(Prediger)Schulen
oder ähnliches.
Weder die Regierung noch die Medien haben die vor der Tür stehende Gefahr
wahrgenommen und dementsprechend gehandelt, obwohl im Oktober die ersten
Vorboten der Pest der neuen Zeit in vielen Orten der Türkei sich in aller
Deutlichkeit spürbar gezeigt haben.
Inzwischen verlor eine kurdische Bauernfamilie in Dogubeyazit ihre 3 Kinder
infolge der Vogelgrippe. Hunderte Menschen bangen um ihr Leben und sind
auf dem Weg in die nahe gelegenen Krankenhäuser, die oft in einigen Hundert
Kilometern Entfernung liegen, denn die türkischen Regierungen haben nicht
gezögert, neben den offiziell zugegebenen und zerstörten 3.428 kurdischen
Dörfern, auch 830 der bis 1997 existierten 1.218 Gesundheitszentren zu
schließen.
In einem Land, in dem offiziell zugegeben wird, dass 20 Mio. Menschen
unterhalb der Armuts- und über 1 Mio. Menschen Hungergrenze leben, ist
es kein Wunder, dass solche Krankheiten die Randgruppen der Gesellschaft
treffen. Kurden gehören eben zu den Untersten in der Türkei und Kurdistan
ist das Armenhaus der Türkei.
In einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung, nicht am Tag, nicht
in der Woche, nicht in einem Monat und auch nicht in einem Jahr ein Kilo
Fleisch verzehren kann, ist kein Wunder, dass ein Vater, nachdem ihre
8 Hühner verendet waren, das letzte kranke Huhn eigenhändig abschlachtet,
ohne zu wissen, so den Tod seiner Kinder verursacht zu können.
In einem Land, in dem etwa 15-20 Mio. Menschen keine Arbeit haben und
keinerlei soziale Sicherheiten besitzen, ist kein Wunder, dass ein kurdischer
Bauer den türkischen Beamten, die die Hühner bei Erzurum einsammeln sagt,
dass sie statt den 10 Hühner die er besitzt seine zwei Frauen mitnehmen
sollen, weil diese Hühner sein ganzes Vermögen darstellen und ohne sie
seine Familie nicht überleben könne.
In einem Land, in dem Millionen Kinder ohne irgend ein Spielzeug groß
werden, ist kein Wunder, dass diese mit den abgehackten Köpfen der verendeten
Hühner spielen, ohne zu wissen, dass sie dadurch ihr Leben verlieren würden.
Wenn diese Kinder in ihrem Leben ein Plastik Auto oder eine Puppe in die
Hand genommen hätten, könnten sie mit großer Wahrscheinlichkeit heute
noch am Leben sein.
In einem Land, in dem Millionen Menschen nicht einmal 3 Hühner und 10
Eier besitzen, ist kein Wunder, dass sie ohne eine angemessene Entschädigung
auch ihre kranken Hühner nicht hergeben werden, wie das traurige Bespiel
dieser Familie, die ihre 3 Kinder verloren hat, zeigt.
In einem Land, in dem Millionen von Kurden aufgrund ihrer Herkunft aus
ihren Lebensgrundlagen zerrissen und zwangsevakuiert worden sind, ist
kein Wunder, dass die Menschen im Armenhaus der Türkei die angebotenen
lächerlichen Entschädigungen von 3 Mio. YTL (weniger als 2 Euro und 6-7
Fach niedrigeren Marktpreis) für abgegebener Huhn ablehnen und versuchen
ihr ‚Vermögen und Besitz’ in ihren Bettkästen und „Schatztruhe“ zu verstecken.
In einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung die offizielle Sprache
nicht mächtig ist und aufgrund ihrer Herkunft, Sprache und Kultur unterdrückt
und seit Jahrzehnten vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten sind,
ist kein Wunder, dass sie die türkischen Herrschaften nicht versteht und
auf die in den letzten Tagen begonnene „Aufklärung“ nicht reagiert.
Die EU-Kandidatenland Türkei ist nicht bereit, sogar bei einer derart
drohenden Katastrophe die kurdische Bevölkerung, die zu 60-70% aus Analphabeten
besteht, in ihre Muttersprache, nämlich Kurdisch, aufzuklären.
Wie viel Wert das Leben der „sogenannten Bürger“ der Türkei (Generalstab
Özkök) hat, ist mit diesem tragischen Fall erneut vor Augen geführt worden.
Nicht nur die Türkei, sondern auch die EU muss Konsequenzen aus dieser
Pest der neuen Ära vor den Toren der EU ziehen, weil 71 von insgesamt
74 mit dem Tode endeten Vogelgrippefälle seit 2003 in Fernostasien stattfanden,
nicht in Europa.
(9. Januar 2006).
* Mehmet Sahin ist Geschäftsführer des in Köln ansässigen
Dialog-Kreises „Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt
zwischen Türken und Kurden“
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