Der "europäische" Gefangene Öcalan - 7
Jahre Imrali, 7 Jahre staatliche Willkür
Um den Zustand einer Gesellschaft zu beurteilen, so sagt man, reiche
es, hinter die Gefängnismauern zu blicken. Die Türkei scheint
hierfür ein Paradebeispiel zu sein.
Insbesondere am Fall Öcalan wird ersichtlich, wie schlecht es
in der Türkei um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bestellt
ist. Ähnlich dem amerikanischen Gefangenlager Guantanamo auf
Kuba ist die türkische Gefängnisinsel Imrali ein rechtsfreier
Raum. Dort wird der Kurdenführer seit seiner völkerrechtswidrigen
Verschleppung in die Türkei am 15. Februar 1999 unter menschenunwürdigen
Isolationshaftbedingungen gefangen gehalten.
Diese werden seit geraumer Zeit sogar verschärft. Aufgrund missliebiger
Äußerungen im Gespräch mit seinen Rechtsanwälten
werden neuerdings dem Kurdenführer sämtliche Informations-
und Kommunikationsmöglichkeiten vorenthalten. Ohnehin waren diese
bisher äußerst beschränkt. Mandantengespräche
werden meist willkürlich verhindert. Die Rechtsanwälte von
Abdullah Öcalan haben kaum Möglichkeiten, dagegen rechtlich
vorzugehen oder zu intervenieren, wie kürzlich im Fall eines
aufkommenden Gerüchts über einen angeblichen Herzinfarkt
des Kurdenführers, da sich keine staatliche Behörde für
zuständig erklärt. Schlimmer noch, sie werden sogar kriminalisiert.
Viele von ihnen müssen mit hohen Haftstrafen rechnen. Weiterhin
wird Abdullah Öcalan eine adäquate ärztliche Versorgung
verweigert. Aufgrund der schweren Haftbedingungen hat sich indessen
sein Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Die auf Imrali herrschenden
Haftbedingungen werden von Menschenrechtlern auch als Folter bezeichnet.
Imrali ist jedoch nicht nur ein rechtsfreier Raum, sondern gleichzeitig
ein Synonym für den Umgang der Türkei mit der kurdischen
Frage oder mit anderen gesellschaftlichen Konflikten. Weiterhin gilt
Ankara staatliche Repression als geeignetes Mittel, um oppositionellen
Bewegungen Herr zu werden. Dies wird durch die immer noch katastrophale
Menschenrechtslage bestätigt. Mit dem EU-Beitrittsprozess der
Türkei ist jedoch die kurdische Frage im gewissen Sinne zu einer
europäischen Frage geworden. Das "türkische Guantanamo"
wird so zu einem "europäischen Guantanamo". Doch Europa
schaut weg.
Gesellschaftliche Konflikte lassen sich hingegen nur politisch lösen,
wobei Politik nur auf der Basis von Realitäten gestaltet werden
kann. Dies gilt für alle Konfliktfelder, so auch für den
türkisch-kurdischen Konflikt. Voraussetzung hierfür ist
jedoch der gemeinsame Wille zur Lösung. Dieser scheint zurzeit
in der Türkei und der europäischen Staatengemeinschaft nur
begrenzt vorhanden zu sein.
Für viele europäische Politiker steht es außer Frage,
dass den Kurden in der Türkei ihre sprachlichen, kulturellen
und politische Rechte zugestanden werden müssen. Demnach soll
dies im Rahmen des türkischen Angleichungsprozesses an die EU
erfolgen. Schritt für Schritt, so meint man, würden so die
Grundlagen des Konfliktes aufgehoben, auch ohne das Zutun der Kurden.
Die Kurden müssten also nur etwas mehr Geduld haben. Dabei wird
jedoch die Komplexität des Konfliktes verkannt, der sich mittlerweile
wieder verschärft und bewaffnet ausgetragen wird. Erst Recht
ist es ein Irrglauben, einen Konflikt ohne die Beteiligung einer maßgeblichen
Konfliktpartei lösen zu können, wie dies mit der Isolationspolitik
gegenüber der PKK und dem KONGRA-GEL beabsichtigt scheint.
Die PKK, der KONGRA-GEL und der Kurdenführer Öcalan sind
jedoch eine Realität. Eine Politik der Lösung wird um die
Anerkennung dieser Realität nicht umhinkommen. Das Angebot von
Öcalan, die kurdische Frage im Rahmen einer allgemeinen Demokratisierung
der Staaten zu lösen, auf dessen Territorien sich traditionelles
kurdisches Siedlungsgebiet befindet, erscheint ebenso viel versprechend
wie realistisch. Dies lässt sich jedoch nur durch eine Beteiligung
der Kurden verwirklichen. Die fieberhafte Suche der europäischen
Politik nach genehmen alternativen kurdischen Führern, was einer
der Gründe für die Isolationspolitik gegenüber Öcalan
und der PKK ist, endete bisher in einer Sackgasse. Daran scheint sich
auch weiter nichts zu ändern. Ausschlaggebend hierfür ist,
dass die Kurden nicht daran denken, von ihren politischen Führern
Abstand zu nehmen. Abgesehen von der Vermessenheit eines solchen Anliegens
entspricht es nicht gerade einem gesunden Realitätssinn.
Nicht erst seit den schrecklichen Ereignissen des 11. September 2001
ist es eine Binsenweisheit, dass eine Vernachlässigung der vielfältigen
Konfliktfelder dieser Erde schmerzhafte Folgen haben kann. Armut,
gesellschaftliche Missstände und soziale Benachteiligung waren
schon immer Nährboden zahlreicher Konflikte. Ein frühzeitiges
Handeln der internationalen politischen Mechanismen, das Streben nach
Ausgleich und präventiver Dialog sind unabdingbar, wenn dauerhaft
die Perspektive von Stabilität und Sicherheit gewährleistet
werden soll.
Die Kurden haben deutlich gemacht, dass sie zu einem solchen Dialog
bereit sind. Abdullah Öcalan als ihr herausragender Repräsentant
hat in den letzten Jahren gezeigt, dass er eine wichtige Initialfunktion
bei der Suche nach einer friedlichen Lösung des türkisch-kurdischen
Konfliktes innehat. Mehrere Waffenstillstände seitens der Kurden
sprechen für sich. So verstand es Öcalan, einen tief greifenden
ideologischen und politischen Wandel in der kurdischen Nationalbewegung
herbeizuführen. Damit kam er auch ihrer Radikalisierung zuvor,
die sich nach seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung am 15.
Februar 1999 in die Türkei abgezeichnete. Eine Ethnisierung des
Konfliktes konnte so abgewendet werden. Die heute breite Unterstützung
seines Friedenskurses durch die Kurden scheint ihm Recht zu geben.
Seine Vorschläge zu einer friedlichen Lösung im Rahmen einer
demokratischen Transformation der Türkei werden derweil, wenn
auch nur indirekt, selbst in türkischen Kreisen diskutiert.
Somit ist es nicht abwegig, von einem ausgleichenden Moment seines
Wirkens zu sprechen. Genau diese ausgleichende Rolle für den
gesellschaftlichen Frieden muss unterstützt werden, anstatt weiterhin
auf die Marginalisierung des Kurdenführers zu beharren. So glauben
wir, dass die Türkei letztendlich Öcalan braucht. Zu wertvoll
ist sein Beitrag zu einer friedlichen Konfliktlösung. Hierfür
setzen wir uns ein, hierfür erheben wir unsere Stimme.
Ob in der Türkei oder in Europa: Wandel im Denken tut Not, wenn
eine wirkliche Lösung angestrebt werden soll. Der türkisch-kurdische
Konflikt kann nur im Dialog gelöst werden. Internationaler Druck
auf die Türkei ist notwendig, um ihre starre Haltung in der kurdischen
Frage aufzulösen. Die Türkei muss mit den Kurden den Dialog
suchen.