Die
türkische Armee ist wieder im Vormarsch
EU darf den
couragierten Staatsanwalt in Van nicht allein lassen!
Von Mehmet Sahin
Am 9. November vergangenen
Jahres ging eine Handgranate in einem Buchladen in der kurdischen Stadt
Semdinli hoch. Durch die Explosion wurde ein Mann getötet und sechs weitere
verletzt. Die Hintermänner und die Akteure haben damals nicht damit gerechnet,
dass diese Handgranate auch die Fundamente des türkischen Staatsgefüges
erschüttern könnte. Genau dies geschieht derzeit in der Türkei.
Die Staatsanwaltschaft in Van hat die Täter, die Unteroffiziere Ali Kaya
und Özcan Ildeniz, sowie den Überläufer Veysel Ates im Zusammenhang mit
dem Bombenanschlag gegen den Buchladen Umut (Hoffnung), bei dem eine Person
ums Leben kam, angeklagt.
Am Tatort wurden die genannten drei Agenten des Gendarmerie-Geheimdienstes
verhaftet, die in ihrem Auto Materiall zum Bombenbau, Namenslisten und
Lagepläne der Wohn- und Geschäftshäuser kritischer Kurden, Handgranaten
und Kalaschnikovs aus NVA-Beständen - ein Geschenk der Bundesrepublik
an die Türkei in 250.000er Auflage - transportierten. Den Angeklagten
werden Vergehen nach verschiedenen Vorschriften des Strafgesetzes zur
Last gelegt. Dazu gehören u.a. der Versuch, einen Teil des Staates gewaltsam
abzutrennen, sowie Mord und Körperverletzung. Die Anklageschrift erwähnt
18 Bombenattentate in der Region seit August 2005.
Laut Anklageschrift seien sie so etwas wie extralegale "Todesschwadronen"
der Sicherheitskräfte im Kampf gegen die PKK gewesen. Der Staatsanwalt
Ferhat Sarikaya aus Van verdächtigte in der Anklageschrift auch General
Yasar Büyükanit, erstens die Justiz beeinflussen zu wollen und zweitens
konspiriert zu haben, um den EU-Beitritt des Landes zu verhindern. Nach
der Anklageschrift habe er außerrechtliche Angriffe gegen kurdische Ziele
geplant, um Konflikte in der Region zu schüren. Die wiederum sollten nationalistische
Ressentiments in der Türkei stärken, was wiederum zu negativen Reaktionen
der EU führen würde.
Nachdem die Anklage Gegenstand der innenpolitischen Auseinandersetzungen
wurde, herrscht Alarmzustand in der türkischen Politik. Egal was passieren
wird, mit der Anklage gegen den mächtigen General ist das Ziel getroffen
worden. Seither sind die Bombenanschläge und extralegale Hinrichtungen
in den kurdischen Gebieten plötzlich zu Ende gegangen. Seither verbreitet
sich Umut, d.h. Hoffnung in weiten Teilen der kurdisch-türkischen Gesellschaft.
General Büyükanit, der im Sommer den amtierenden Stabchef ablösen soll,
anzugreifen, heißt die politische Macht des türkischen Militärs in Frage
zu stellen - also jener Institution, die Innen- und Außenpolitik des Landes
maßgeblich mitbestimmt und in deren Schatten bislang jede Regierung vorsichtig
agieren muss. Büyükanit gilt als Hardliner innerhalb des Militärs und
versteht sich als Hüter der Trennung von Kirche und Staat sowie des Kemalismus
in der Türkei.
Nach dem türkischen Justizwesen dürfen Armeeangehörige nicht vor zivilen
Gerichten angeklagt werden. Für die Eröffnung einer Untersuchung gegen
Büyükanit ist die Zustimmung der Armeeführung erforderlich. Armeechef
Hilmi Özkök starte sogleich eine Blitzvisite beim Premier Erdogan und
auch bei Staatspräsident Sezer.
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft in Van wurde vom Oppositionsführer
Baykal, als „Coup gegen die Armee“ bezeichnet. Der Obergeneral Özkök schimpfte
am 15. März in Hürriyet: „Wenn wir uns verteidigen, wird sogar die Börse
darunter leiden“. Laut Hürriyet soll der General dem Premier gesagt haben,
„schützt die Armee! Wir stehen entschlossen hinter Yasar Pascha“, gemeint
ist der in Anklageschrift benannte General des Heeres.
Am 20. März 2006 erschien die türkische Tageszeitung Hürriyet mit dem
Aufmacher „Die geheime Verfassung ist in Kraft getreten“. Diese Überschrift
wurde mit einem Bild, in dessen Mitte der Staatspräsident, rechts die
Armeeangehörige und links die Mitglieder der Exekutive, saßen, versehen.
Durch diese „Geheime Verfassung“ werden an erster Stelle die Feinde der
Türkei definiert und die Leitlinien der Politik bestimmt, d.h. Auflagen
und Vorgaben für die Regierung gemacht. Zu den Feinden der Türkei gehören
die islamischen Kreise und die kurdische Bewegung. Die nationalistisch-faschistischen
Kräfte bilden aus Sicht der Generäle demnach keine Gefahr für die Türkei.
Einen Tag später, am 21. März erschien die selbe Zeitung wiederum mit
einer dicken Überschrift „Die geheimen (codierten) Chiffren der Armeebotschaft“.
Diesmal war ein Ultimatum des Armeechefs Özkök an die Regierung Erdogans
zu lesen. Mit ihm stellte sich die gesamte Armeeführung hinter den designierten
zukünftigen Generalstabschef, Büyükanit. Die Generäle griffen den zuständigen
Staatsanwalt scharf an und sagten, sie würden gegen ihn vorgehen. Nach
eingehender Untersuchung sei entschieden worden, daß ein Verfahren gegen
den derzeitigen Heereschef Yasar Büyükanit nicht notwendig sei. Der zuständige
Staatsanwalt in Van habe „seine Befugnisse überschritten“. Die Ermittlungen
seien „ohne jede Grundlage“ und „vorsätzlich“ geführt worden, um dem Ruf
der türkischen Streitkräfte zu schaden. Die Armeeführung beschuldigt auch
die Regierung, nicht genügend hinter der Armee gestanden zu haben.
So stellte sich Generalstabschef Özkök auf die Seite des Generals und
widersprach damit seinen eigenen Versprechungen vom vergangenen Jahr,
das Militär werde keinerlei Einfluß auf die Ermittlungen im Fall Semdinli
nehmen. Bereits vom Innenministerium abgewiesen ist ein Antrag der Staatsanwaltschaft
der Stadt Hakkari, im Fall Semdinli gegen den Gouverneur der Provinz,
den Chef der Gendarmerie und den Landrat von Semdinli zu ermitteln.
Die Regierung, die nach den Vorfällen und Bombenanschlägen in Semdinli
gesagt hatte, sie werde für die Aufklärung der Vorfälle alles unternehmen,
ist nach dem Vormarsch der Armeeführung auf dem Rückzug. Das Justizministerium
begann mit Ermittlungen gegen den Staatsanwalt Ferhat Sarikaya.
Die Anklageschrift des Staatsanwalts in Van ist das erste Exempel eines
couragierten Menschen gegen die mächtigen Generäle in der Türkei.
Der Vorsitzende der Anwaltskammer Van Ayhan Cabuk sagte dagegen, Ermittlungen
gegen den Staatsanwalt seien eine Form von Druck. Das Gericht könnte durch
dieses Verhalten beeinflusst werden. Die Reaktionen auf die Anklageschrift
könnten nicht akzeptiert und die Gerichtsbarkeit dürfe nicht auf diese
Weise beschuldigt werden. Der Vorstand der Anwaltskammer Van werde Klage
gegen Personen einleiten, die Äußerungen machen, die als Beeinflussung
des Gerichts gewertet werden können. Das Verfahren gegen Ali Kaya, Özcan
Ildeniz und Veysel Ates soll Berichten zufolge am 4. Mai an der 3. Kammer
des Landgerichtes Van fortgesetzt werden.
Es ist bemerkenswert, dass die EU-Politiker zu dem Vorgehen der Armeeführung
bis jetzt keinen Ton von sich gegeben haben. Wenn der Staatsanwalt von
Van und viele mutige Journalisten und Kommentatoren jetzt mundtot gemacht
werden, wird auch der EU-Annäherungsprozess der Türkei darunter leiden
und der Krieg der türkischen Generäle gegen die Kurden ein noch blutigeres
Maß annehmen. Um dies zu verhindern, müssen auch die Regierungen Europas
sich zu Worte melden.
Wie dieser Fall verdeutlicht, hat die Türkei noch einen weiten Weg vor
sich, um EU-kompatibel zu werden. Um dies zu erreichen, müssen die türkischen
Politiker, egal welcher Couleur, Zivilcourage zeigen und willig sein,
die Generäle in ihre Schranken zu weisen.
* Mehmet Sahin ist Geschäftsführer des „Dialog-Kreises „Die Zeit ist reif
für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden“. Mehr
Informationen unter www.dialogkreis.de
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