Öcalan:
Wir arbeiten dran, dass der Prozess sich nicht in Richtung Krieg begibt
Am 19. Februar fand eine Konsultation
zwischen dem KCK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und seinen Anwälten statt.
Öcalan sprach wieder das 16-jährige Mädchen Medine aus Semsûr, die lebendig
begraben wurde, an und erklärte:
„In Semsûr wurde ein 16-jähriges Mädchen lebendig begraben. Semsûr ist
das Zentrum des Menzil Ordens, der seit Jahren dort aktiv ist. In Kahta
hat man solch einen Orden aufgebaut. Es kann sein, dass dieser Vorfall
damit etwas zutun haben kann. Diese ideologische Herangehensweise kann
genauer erforscht werden. Die Freunde aus dem Gefängnis können dies machen.
Sie können diese Sachen erforschen und Romane und Artikel schreiben. Solche
Vorfälle können mittels eines Romans besser erklärt werden. In diesem
Sinne können wertvolle Werke entstehen. Dazu haben die Freunde Zeit und
ihre Umstände sind geeignet. Die DTK [Demokratischer Gesellschaftskongress]
kann solch gesellschaftliche Probleme angehen. Das sind wahre Probleme,
die angegangen werden müssen.“
Öcalan erklärte wie letzte
Woche auch einiges zur Linksbewegung in der Türkei:
„Die Freunde von der DBH [Einheitsbewegung für Demokratie] können entweder
in der BDP teilnehmen, ihre eigene Partei gründen oder auf einer gemeinsamen
Plattform arbeiten. Wichtig ist, dass ein gemeinsamer Widerstand bzw.
praktische Arbeit entsteht. Soweit ich verstehe, sind sie etwas zurückhaltend.
So, als ob der Staat eine neue Partei nicht erlauben würde bzw. sie mit
Gewalt angehen würde, wenn sie eine Partei gründen. Solch ein Gefühl habe
ich. Sie sollten an diesem Punkt entspannt sein. In der Türkei ist eine
Lücke vorhanden. Wenn die Kurden und die Demokraten diese Lücke nicht
decken können, dann wird der Krieg und die Verluste durch den Krieg immense
Dimensionen erreichen. Aber wenn wir es schaffen, diese Lücke zu decken,
dann wird der Weg eines sehr wertvollen und langfristigen Friedens in
der Türkei geebnet sein. Wir bewahren zwar unsere Hoffnungen auf Frieden,
doch man sollte auf alles gefasst sein. Ich wiederhole, bei möglichen
Vorfällen muss die PKK ihre eigenen Entscheidungen treffen. Es ist wichtig,
dass sich bis zum Frühling etwas entwickelt. Wir arbeiten dran, dass sich
kein Kriegsprozess entwickelt. Natürlich ist das keine Sache, die allein
mit unseren Bemühungen zu machen ist. Ich bin bereit, von hier aus meine
Unterstützung zu geben; das habe ich auch bisher getan. Aber ab jetzt
kann meine Gesundheit das verhindern. Ich habe sogar Probleme beim Atmen.
Ich weiß nicht, wie lange ich das aushalte. Ich versuche aber auszuhalten.
An diesem Punkt müssen in der Türkei Schnittmengen vorhanden sein. Sonst,
wenn nationalistisch-faschistische Mächte wie die CHP und MHP diese Lücke
decken sollten, wird die Lage noch kritischer.
In der Zeit um die 1965/68 war eine ‚Linke der Mitte’ vorhanden. Damals
hatte die TIP [Arbeiterpartei der Türkei] einen enormen Zuwachs, gegen
diesen wurden die ‚Linke der Mitte’ entwickelt. Damals habe ich Politikwissenschaften
studiert. Als Rahsan Ecevit [geboren 1923 in Bursa. Gründerin der demokratisch
linken Partei und der demokratisch linken Partei des Volkes. Ihre Familie
ist ursprünglich aus Saloniki und sie ist die Ehefrau des verstorbenen
Bülent Ecevit] dann kam, haben die Revolutionäre gegen sie protestiert
und sagten zu ihr: ‚Ihr versucht die Linke auszusaugen und dessen Werte
zu lenken. Ihr seid ein Hindernis auf dem Wege der revolutionären Linken
bzw. Jugend’. Die Jugend hat damals eine klare Haltung eingenommen. Ecevit
hat sie dann rausgeschmissen. Die Haltung der damaligen Jugend muss gut
verstanden sein. Die jetzigen Umstände sind im Vergleich zu den früheren
viel besser. Die jetzige Lücke muss von den radikalen Demokraten eingenommen
werden. Damals hat die ‚Linke der Mitte’ die revolutionäre Linke behindert.
Jetzt soll das gleiche von der CHP gemacht werden. Das sollte sehr gut
gesehen werden. Deswegen muss der gemeinsame Widerstand sofort entwickelt
werden. Das können sie innerhalb der BDP machen oder anders. Das soll
gemacht werden, wie gewollt. Hauptsache es wird gemacht. Die BDP darf
nicht wie die Vorgänger sein. Sie müssen eine radikal-demokratische Türkei-Partei
sein. Dieses Projekt des gemeinsamen Widerstands ist das der Kurden und
der radikalen Demokraten. Man muss auch nicht bei jedem Thema die gleiche
Meinung haben. Der Kern muss demokratisch sein, die demokratische Nation
muss sitzen und die Demokratie muss laufen. Kurz: das demokratische Verständnis
muss vorhanden sein. Wenn das alles nicht sein wird, dann muss ich leider
‚Ergenekon-Beeinflussung’ dazu sagen.
Wir arbeiten seit 1993 für eine Lösung. Wir haben immer noch Hoffnungen,
aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir in der Türkei sind. Hier
kann alles passieren. Wenn ein Frieden entwickelt würde, dann wäre dies
sehr bedeutungsvoll. Die Auswirkungen könnten dann sogar im Jemen und
in Pakistan spürbar sein. Das würde dann ein Beispielmodell für überall
[die Lösung der kurdischen Frage]. Doch, wenn der Frieden nicht entwickelt
wird, kann ein harter Kriegsprozess kommen. Wir arbeiten daran, dass das
nicht geschieht.“
Im weiteren Verlauf der Konsultation erklärte Öcalan seine Gedanken bezüglich
den Aleviten. Öcalan sagt, dass den Aleviten kein Recht für eine Parteigründung
gegeben wird:
„Seit Jahren sagt man den Aleviten, dass sie eine Partei gründen dürften,
werden aber immer nur aufgehalten. Von der Bewegung des 10. Dezembers
[10 Aralık Hareketi – eine Bewegung, die der Meinung war, das die komplette
Politik der Türkei neustrukturiert werden muss] wird auch keine Partei
gegründet. Ihre Organisierung entwickelt sich nicht. Sie sagen, dass sie
zur Partei werden, aber sie werden aufgehalten. Seit der Vergangenheit
wird das anscheinend bewusst so gemacht. Deswegen bleibt auf diesem Gebiet
immer eine Lücke. So wird versucht, diese Leute in der eigenen Politik
zu ersticken und sie werden politisch außer Gefecht gesetzt. Dies sollte
beachtet und bewusst werden.
Man sagt, dass der Stimmanteil der BDP um die 7,5% liegt. Ich glaubte,
dass er bei 10% oder 10,5% liegt. Mich hat gewundert, weshalb der Stimmenanteil
so niedrig ist. Das bedeutet, dass sie sich nicht gut organisieren. Wenn
sie den gemeinsamen Widerstand entwickeln, dann könnten sie ganz leicht
an die 15% kommen. Ich denke, wenn sie 10% oder 15% bekommen, dann können
sie die demokratische Lösung leichter erreichen. Sie wären dann viel effektiver.
[…] Die BDP kann ihre Organisation in der ganzen Türkei ausbauen. Angefangen
bei Konya, Bursa, Istanbul, Izmir und Adana können sie ihre Organisationen
in allen westlichen Städten ausbauen.“
Öcalan rief die AKP dazu auf, die Verhaftungen sofort einzustellen und
sagte:
„Wichtig ist, was die AKP zum Frieden leistet. Sie muss zwar etwas machen,
aber wie bereit ist ihre Struktur dazu? Ich weiß nicht, wie sehr sie ihrer
eigenen Basis einen solchen Prozess beibringen kann. Es sind auch Kräfte
da, die sich gegen die Veränderung stellen. Diese dürfen nicht übersehen
werden. Ich rufe die AKP auf, dass sie mit den Festnahmen und der Repression
sofort aufhören soll bzw. eine Haltung annehmen soll, die dem Frieden
dient. Die AKP macht auf der einen Seite das genannte aber auf der anderen
muss sie auch die Veränderungen durchführen können. Die AKP hat auf der
einen Seite Sorgen um den Fortbestand ihrer Regierung und auf der anderen
zwingt sie sich zur Veränderung. Sie muss trotz allem in Sachen Veränderung
mutig sein. Wir versuchen, die demokratische Lösung in der Türkei zu entwickeln.
Das ist unser Weg. Bisher sind zwei Vorherrschaften in der Türkei vorhanden.
Eine Hegemonie ist die Ittihat und Terakki [eine Gruppierung zur osmanischen
Zeit, die kurzfristig auch an der Staatsverwaltung war. Im Westen ist
sie eher unter dem Namen „Les Jeunes-Turcs“ bekannt]. Diese Hegemonie
setzt ihren Fortbestand seit den 80–90 Jahren fort. Die zweite Hegemonie
ist die türkisch-islamische Synthese. Die AKP ist die Vertretung dieser
Hegemonie.
Unsere dritte Alternative, die wir entwickeln, ist die der demokratischen
Lösung. Das ist, was ich meine, wenn ich demokratische Republik sage.
Das habe ich in meiner Verteidigung Özgürluk Sosyolojisi[ Freiheitssoziologie
– erschienen 2009 in der Mesopotamien Verlags- und Vertriebsgesellschaft]
ausführlich beschrieben. Wir haben drei Prinzipien in unserem demokratischen
Lösungsverständnis. Erstens, die demokratische Nation, zweitens das demokratische
Heimatland und drittens die demokratische Republik. Dieses Verständnis
ist auch für die Demokratisierung des Mittleren Ostens gedacht.“
Öcalan sagte zum Iran, dass die Entwicklungen sich zum Negativen wenden.
Öcalan erklärte auch seine Meinung bezüglich des Iraks und schlug eine
demokratische Einheits- und Friedenskonferenz vor:
„Im Iran geschehen jetzt auch schon ‚Morde unbekannter Täter’. Die Situation
des Irans ähnelt den 90er Jahren der Türkei. Das ist sehr gefährlich.
Ich wünsche dem Volk im Iran wegen der Todesstrafen mein Beileid. Ich
respektiere ihren Widerstand. Sie können ihre eigene Verteidigung ausbauen
und z.B. zum Zagros-Gebirge ziehen. Aber ich meine nicht die, die zum
Ziel erklärt wurden.
Ich habe in der Roadmap, die ich angefertigt habe, die Herangehensweisen
an die Kurden bis heute in drei Kategorien gepackt. Das erste ist die
Verleugnungs- und Vernichtungspolitik, die seit den 80–90 Jahren besteht.
Aus dieser Politik wurde nichts. Das zweite ist – wie im Norden des Iraks
– die Erstellung eines kleinen Nationalstaats um alle Kurden bzw. alle
Probleme da hineinzugeben, um sie letzen Endes zu ersticken. Das ist englische
Politik. Das vorderste Ziel dieser Politik ist die Vernichtung der PKK.
Einige haben sie ja der PKK entreißen können. In der Türkei haben sie
das ebenfalls mit der DTP versucht. Des Weiteren haben sie versucht Druck
auf unser Volk in allen Teilen Kurdistans auszuüben, um ihre Politik zum
Erfolg zu bringen. Die Todesstrafen im Iran sind Produkte dieser Politik.
Die letzten Todesstrafen wurden an dem Tag vollzogen, an dem Ahmet Davutoğlu
[türkischer Außenminister] in den Iran gegangen ist. Im gewissen Sinne
ist das ein Geschenk, das der Türkei gegeben wird. Aber ich kann sagen,
dass aus dieser Politik auch nichts wurde. Wir haben diese überwunden.
Ich bedanke mich vor allem beim Volk dafür. Ihr starker Kampf, ihr Widerstand
und ihre starke Verbundenheit hat dies geschaffen. Wir haben uns sogar
gestärkt. Wenn diese Politik das gewünschte Ergebnis gebracht hätte, dann
würde dies Irakisierung, Iranisierung und/oder Palästina-Israelisierung
bedeuten.
Im Irak kann eine demokratische Einheits- und Friedenskonferenz durchgeführt
werden. Wenn sich die USA aus dem Irak ziehen, werden die Araber die Kurden
angreifen. Die Kurden stehen regelrecht vor der Gefahr eines Genozids.
Alle Völker aus dem Irak können dort [auf der Konferenz] ihre Probleme
ausdiskutieren und ihre Einheit bzw. den Frieden ausrufen. Ansonsten warten
große Gefahren. Auch nach dem Tode Saddams sind die Gefahren nicht weniger
geworden, im Gegenteil. Wenn keine Initiative für die Einheit und den
Frieden aufgebracht wird, werden die Araber den Kurden das antun, was
Hitler mit den Juden gemacht hat.
Außerdem können die Kurden in Syrien ihre Organisierung und ihre Verteidigung
ausbauen. In diesem Sinne grüße ich unser Volk aus dem Iran, Irak und
aus Syrien.“
Öcalan erklärte weiterhin seine Gedanken bezüglich der internationalen
Verschwörung:
„Ich kann folgendes noch zu meinen Worten letzter Woche hinzufügen. Ich
bedanke mich der Sensibilität des Volkes. Der Widerstand des Volkes hat
die Verschwörung erfolglos gemacht. Meine Vernichtung war mit der Verschwörung
vorgesehen. Damit wären Chaos und Blutvergießen ausgelöst worden. Ich
habe versucht, mich gegen diese Verschwörung am Leben zu halten. Das ist
meine Haltung seit elf Jahren in Imralı. Ich kann dem folgendes endlich
hinzufügen: Die Gefahr der Vernichtung und des politischen Genozids ist
dank der Haltung des Volkes nicht mehr vorhanden.
Ich kann den Mächten, die die Verschwörung des 15. Februars durchgeführt
haben, noch folgendes sagen: Ihre Politik ist nicht im Interesse der Völker.
Sie wollen kleine Nationalstaaten gründen – ein kleines Zypern, ein kleines
Griechenland, ein kleines Armenien, ein kleines Kurdistan – und so den
Freiheitskampf der Völker zerschlagen. Wenn sich unsere Vorstellung einer
Lösung verwirklicht, dann wird kein Staat mehr gebraucht werden und die
Politik dieser Mächte wird erfolglos sein. Das sollte unser Volk wissen.
In diesem Sinne kann ich dem Volk noch sagen, dass sie ihre Selbstverteidigung
und ihre Organisierung ausbauen können. Das sollten sie wegen der großen
Gefahren tun. Sie können ihre Maßnahmen treffen, ohne auf einen Staat
zu vertrauen.“
Zuletzt sagte Öcalan, dass sich an seinem Gesundheitszustand nichts geändert
habe:
„Mein Gesundheitszustand ist wie immer. Es hat sich nicht viel geändert.
Ich kann nachts nicht schlafen und bekomme keine Luft. Ich wache nachts
manchmal auf. Mit dem Fenster habe ich es natürlich etwas leichter. Aber
alle Krankheiten, die ich habe, dauern an. Der Grund ist, weil dieser
Ort hier wie ein Loch ist. Ich glaube, in Zukunft werde ich unter diesen
Umständen leben müssen. Ich werde versuchen auszuhalten. Man sagte mir,
dass meine Umstände verbessert werden. Sie sagten auch, dass ich die anderen
Freunde [Gefangenen] drei mal in der Woche sehen werde.
[…] Ich bekomme Briefe aus den Gefängnissen. Ich grüße alle Freunde in
den Gefängnissen.
Quelle: ANF, 20.02.2010
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