3. Bericht der Delation Bremen/Hannover | Samstag, 20. März

Schwierigkeiten bei der politischen Organisierung in Kurdistan

> Besuch beim BDP-Vorsitzenden Cafer Kan
Ähnlich der Stadtverwaltung leidet auch die DTP-Nachfolgepartei BDP (Barış ve Demokrasi Partisi; Partei des Friedens und der Demokratie) unter einer Welle juristischer Verfolgung. Der Regionalverbandsvorsitzende Cafer Kan berichtet, dass sich unter den seit 2009 verhafteten 1.500 politischen Aktivisten zwölf Bürgermeister, fünf Vorstandsmitglieder und rund 20 BDP-Ortsvereinsvorsitzende befunden haben. "Der Großteil" der übrigen Inhaftierten seien Unterstützer oder einfache Parteimitglieder gewesen. Auch Firat Anle und Kamuran Yuksek, der Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende des DTP-Bezirks Diyarbakir sind in Haft.

Kan selbst hat zwölf Jahre im Gefägnis gesessen. Seit neun Monaten ist er auf freiem Fuß und in der BDP organisiert. In dieser Zeit seien drei Anzeigen wegen ideeller Unterstützung für die PKK ihn gestellt worde. Für den 26. März sei ein erster Prozesstermin angesetzt. Gegen seinen ebenfalls angeklagten Vorgänger habe die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe von 15 Jahren und drei Monate wegen einer einzigen Rede beantragt. In der Türkei liege es im Ermessen der Staatsanwaltschaft, gewählten PolitikerInnen die parlamentarische Immunität zu entziehen. Faktisch wird hiervon besonders häufig bei kurdischen PolitikerInnen Gebrauch gemacht. Hinzu komme, dass mit den Verurteilungen oft ein politisches Betätigungsverbot ausgesprochen werde.

Der Repressionsgrad erklärt sich nach Darstellung von Kan im Wesentlichen durch die breite Verankerung der BDP in der kurdischen Bevölkerung. Sie stelle eine 21-köpfige Fraktion in der türkischen Nationalversammlung, fast 100 Städten stelle sie den Bürgermeister, habe Unterstützung von Millionen Menschen im Volk. Die Partei organisiere in 126 Städten die Newroz-Feierlichkeiten, zu denen sie insgesamt über 4,5 Millionen TeilnehmerInnen erwarte. Das DTP-Verbot habe der Partei "tägliche Schwierigkeiten" bereitet., aber auch neue Aktivisten beschert. So hätten sich etwa 5.000 Freiwillige an den Newroz-Vorbereitungen beteiligt. Die mit den mehrfachen Parteiverboten einhergehenden Beschlagnahmungen könne man inzwischen besser umgehen. "Wir haben sehr viel Erfahrung gesammelt. Was ihr hier seht, das gehört uns gar nicht."

Die kurdische Bewegung leide an drei verschiedenen Formen der Repression: Die eigenen, internen Schwierigkeiten. Dazu zählen zum einen Defizite beim innerkurdischen Demokratisierungsprozess, die uns die politische Organisierung schwer machten. Hinzu kommen die Unterdrückung durch den türkischen Staat und die Verfolgung oder Gleichgültigkeit des Auslands. Kan stellte heraus, dass die kurdische Bewegung viel erreicht habe, etwa auf dem Gebiete der Frauenentwicklung. So hat die DTP in ihrer Satzung festgelegt, dass es stets eine gemischtgeschlechtliche Doppelspitze geben müsse. Dem steht allerdings dass türkische Parteiengesetz entgegen, dass nur eineN VorsitzendeN vorsehe.

> DTK – Alternativer Regionalkongress der kurdischen Bewegung
2004 gründeten verschiedene kurdische Organisationen den DTK (Demokratik Toplum Kongresi', "Demokratischer Gesellschaftskongress"), eine Art alternatives Regionalparlament. Auf diese Weise soll die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den KurdInnen im Iran, Irak, Syrien und Georgien gefestigt werden. Zum anderen soll eine regionalpolitische Struktur jenseits der AKP-treuen Provinzgouverneure in der Osttürkei entstehen. Der DTK geht zurück auf das 2005 von Öcalan im Gefängnis von Imrali entwickelte Modell des "demokratischen Konföderalismus", der das Ziel einer neuen, "dritten Phase" der kurdischen Politik ist. Es ist angelehnt an den amerikanischen Anarchisten Michael Bookchin. Es soll eine demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft im Nahen Osten schaffen, die keine Staatsgründung zum Ziel hat, sondern die Abschaffung des Staates und aller Hierarchien. Angestrebt wird dabei nicht eine kurdische Eigenstaatlichkeit und auch keine Konföderation von Teilstaaten, sondern der Aufbau einer Selbstverwaltung durch kommunale Basisorganis ierung und ohne die bestehenden Staatsgrenzen in Frage zu stellen.

Am Samstag trafen wir die DTK-Vorsitzende und Mitgründerin Yüksel Genc. Sie ist zusammen mit Hatip Dicle der Vorstand des DTK, da der Vorstand satzungsgemäß immer mit einem Mann und einer Frau zu besetzen ist. Dicle wurde vor kurzem wieder verhaftet, so das Genc die Arbeit beider Vorsitzender derzeit allein bewältigen muss. Die 37-jährige war fünf Jahre in den Bergen und kehrte von dort nach einem Aufruf Öcalans mit sieben anderen Kämpfer_innen als "Friedensbotschafterin" aus den Bergen 1999 zurück nach Diyarbakir. Dort jedoch wurden sie jedoch nicht als Friedensbotschafter in Empfang genommen, sondern für fünf Jahre und zwei Monate im Gefängnis von Mus inhaftiert. Die dort gefangenen Frauen waren in der PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan/Partiya Jiyana Azad a Kurdistanê, der militanten iranischen Schwesterorganisation der PKK) und der PJA (Partiya Jina Azad – Partei der Freien Frau) organisiert. Im Gefängnis trafen sie sich wieder und organisierten sich neu. Daraus entstand später die „Demokratische Freie Frauenbewegung“ DÖHK. Nach ihrer Entlassung vor fünf Jahren arbeite Genc als Journalistin für die Zeitung "Gündem".

Am DTK seien etwa 800 Delegierte aus der Wirtschaft, sozialen Organisationen, Menschenrechtsvertretern, Politik und Angehörigen ethnischer Minderheiten beteiligt. Letzteres sei dem DTK besonders wichtig, weil den KurdInnen oft vorgeworfen wird, sich nur für ihre eigenen Rechte einzusetzen. Derzeit beschäftigt sich der DTK mit Vorschlägen zur Änderung der türkischen Verfassung und der ökonomischen Situation in der Osttürkei.

> Empfang durch Leyla Zana
Der ehemaligen Abgeordneten einer mittlerweile verbotenen DTP-Vorgängerpartei, Leyla Zana, droht erneut eine zwölfjährige Haftstrafe. Dies berichtete sie uns bei einem Treffen am Samstagnachmittag in der Zentrale der BDP in Diyarbakir. Sie hatte bis 2004 zehn Jahre im Gefängnis gesessen, weil sie in der türkischen Nationalversammlung ihrem Amtseid den kurdischen Satz hinzugefügt hatte: „Ich werde mich dafür einsetzen, dass das kurdische und das türkische Volk zusammen in einem demokratischen Rahmen leben können.“ Dafür und dafür, dass sie sich in anderen Reden für kurdische Selbstbestimmung eingesetzt hatte, wurde von der Staatsanwaltschaft zunächst sogar die Todesstrafe für sie gefordert. 1993 sei über sie ein politisches Betätigungsverbot verhängt worden, seit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis darf sie weder Mitglied einer Partei werden noch für eine solche sprechen. Sie dürfe nicht einmal einem Verein b eitreten. Im Gegensatz zu dem Bürgermeister Baydemir darf Zana aber reisen und das Land verlassen.

Nun wurde sie erneut zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Rechtsmittel dagegen laufen, doch mit dem Verfahren umzugehen sei schwierig. "Es wird keine Gerichtsverhandlung geben, wir müssen ahnungslos warten, bis das oberste Gericht hinter verschlossenen Türen entscheidet. Mehr können wir nicht tun," sagte Zana.

Die Strafe sei mit einem Redebeitrag beim Newroz-Fest 2007 in Diyarbakir, "vier bis fünf Redebeiträgen bei Wahlveranstaltungen" und einer angeblichen DTP-Mitgliedschaft begründet. Allein hierfür soll sie für fünf Jahre ins Gefängnis. "Obwohl ich nicht DTP-Mitglied bin, wurde ich deshalb nochmal zu fünf Jahren verurteilt, das ist mir unerklärlich," sagte Zana. Bei den inkriminierten Redebeiträgen habe sie gesagt, dass es ein kurdisches Volk gebe und dass dieses für seine Rechte kämpfen werde. "Das kurdische Volk gibt es aber laut türkischem Gesetz nicht. Ich sage den Richtern, wenn die Gesetze mich als Volk akzeptieren würden, dann würde ich mich nicht wehren, aber die Gesetze verleugnen uns ja. Die Richter sind manchmal sehr traurig und sagen, 'es tut auch uns sehr leid, wir wollen Sie hier auch nicht immer sehen', aber das Gesetz gibt uns keine andere Möglichkeit."

Zana macht vor allem die Verfassung, die die Generäle nach dem Putsch 1983 installiert haben, hierfür verantwortlich. "Darin steht nichts von Vielfalt der Völker oder Menschenrechten, sondern nur von der Macht des Militärs. Wenn unsere Kinder morgens in die Schule gehen, müssen sie immer noch jeden Morgen sagen: 'Wir sind stolze Türken.'" Auf diese Weise versuche der türkische Staat weiter, die KurdInnen zum Türkentum zu assimilieren.

Für die Lage der KurdInnen dürfe man aber nicht allein den türkischen Staat kritisieren. "Die Türkei alleine ist nicht Schuld an der Lage der Kurden, die ganze Welt verleugnet uns und betrachtet und als Terroristen und Verbrecher. Das ist ungerecht, und solange die Welt diese Ansicht nicht ändert, können wir nicht zum Frieden kommen."

Zana schwebt vor, das kurdische Volk türkeiweit einmal im Jahr in einem Referendum darüber abstimmen zu lassen, ob es einen eigenen Staat wolle. Auch Deutschland sei Schuld an der derzeitigen Lage der KurdInnen. "Wenn Deutschland damals Öczalan aufgenommen hätte, dann könnten wir uns heute in einer ganz anderen Lage unterhalten."

Schließlich wies sie darauf hin, dass die PKK in den letzten Jahren mehrfach einseitige Waffenstillstände erklärt habe, die von der Türkei aber nicht erwidert worden seien.


Minderjährige Politische Gefangene

> Aktuelles Fallbeispiel: Erkan Balaban, 15 Jahre, in Haft seit Dezember 2009
Am 6. Dezember 2009 wurde der heute 15-jährige kurdische Jugendliche Erkan Balaban aus Diyarbakir nach einer Demonstration verhaftet und befindet sich seitdem in Haft. Wir trafen seine Familie am 18. März 2010 im Hohen Strafgericht in Diyarbakir. Wir baten die Familie um ein Gespräch und trafen seine Mutter, Jahide Balaban, 34, und seine Schwester, Yakmur Balaban, 17, am 20. März in einer Teestube nahe der BDP-Zentrale. Die Familie ist sehr arm, der Vater ernährt seine sieben Kinder im Alter vom drei bis 17 Jahren als Taxifahrer. Auch ihr Mann musste eine dreijährige Haftstrafe wegen Schmugglerei verbüßen. Dies sei für Jahide Balaban aber nicht so unerträgöich gewesen wie jetzt die Haft ihres Sohnes.

Die ganze Familie Balaban war am Sonntag, dem 6. Dezember in Diyarbakir zu einer Demonstration gegen die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan gegangen. An jenem Tag waren rund 15.000 Menschen auf der Straße. Als die Polizei dem Protestzug den Weg versperrte, flogen Steine. Die Familie Balaban, so berichtete uns die Mutter, verließ daraufhin die Demonstration, ihr Sohn Erkan hingegen blieb. Die Polizei ging mit Wasserwerfern, Tränengas und scharfer Munition gegen die Demonstranten vor. Der 23-jährige Aydin Erdem wurde durch eine Kugel getötet, zwei weitere Menschen wurden verletzt. Es gab 113 Festnahmen, darunter 19 Minderjährige. Einer davon war Erkan Balaban. Die Polizei wirft ihm vor, Polizisten beleidigt und Steine geworfen zu haben. Einer seiner Freunde sei frei gelassen worden, weil die Familie rund 200 Euro Bestechungsgeld an die Polizei gezahlt habe, berichtet die Mutter von Erkan Balaban. Sie habe sich das nicht leisten konnte. Auch die anderen 17 Verhafteten Jugendlichen seien mittlerweile freigelassen worden. Erkan wurde in Gewahrsam genommen. Seine Mutter berichtete, er sei dort misshandelt und so stark in den Magen geschlagen worden, dass er sich übergeben musste.

Bei der Vernehmung von Erkan habe die Familie nicht dabei sein dürfen. Im Gefängnis sei es nicht zu weiteren Misshandlungen gekommen. Die engste Familie dürfe Erkan ein Mal wöchentlich besuchen. Entfernte Verwandte und Freunde hätten jedoch kein Besuchsrecht. Bei Betreten des Gefängnisses müsse die Familie intensive Kontrollen über sich ergehen lassen und Schuhe und Kopftuch ablegen. Geschenke, Essen oder Kleidung dürfe sie Erkan nicht mitbringen, lediglich Geld sei als Geschenk erlaubt. Die Mutter spare sich vom wenigen Geld der Familie wöchentlich umgerechnet 15 Euro für Zigaretten ab, damit der Sohn "im Gefängnis wenigstens genug zu rauchen hat".

Die Polizei sei beim Besuch in einem großen Raum mit mehreren Familien mit anwesend. Länger als 40 Minuten dürften sie ihn nicht sehen. Im Gefängnis gebe es weder Lehrer, Ärzte noch Psychologen zur Betreuung der Jugendlichen. In Erkans Haftraum seien rund 35 Jugendliche (laut einer Liste des Menschenrechtsvereins IHD sind es allerdings nur 24) im Alter von zwölf bis 18 Jahren eingesperrt. Sie würden sich mit Handarbeit wie der Herstellung von Schmuck beschäftigen, sagt die Mutter. Manche Jugendlichen seien Waisen und würden überhaupt keinen Besuch bekommen. Ein Mal in der Woche freitags dürften sie für eine halbe Stunde in den Hof gehen (nach Angaben der Ärztekammer von Diyarbakir dürfen die Jugendlichen allerdings täglich für eine kurze Zeit auf den Hof).

Nach Darstellung der Mutter sei Erkan bei einem Verhör ein Zeitungsfoto gezeigt worden, man habe ihn gefragt, ob er auf dem Foto zu sehen sei. Das habe er bejaht. Auf dem Foto habe er die Hände in den Taschen. Dennoch behauptet die Polizei, er habe Steine geworfen. Allerdings gibt es auch ein Video der Demonstration, das die Mutter jedoch nicht gesehen habe. Bis zur Fortsetzung der Verhandlung am 13. Mai soll Erkan in Haft bleiben. Wir haben mit seiner von der Anwaltskammer beauftragten Anwältin gesprochen und um ein Gespräch nach dem Newroz-Fest gebeten.

> Anwaltsverein
Nach Ansicht des Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakır (Barosu Başkanı) Emin Aktar, habe die Regierung seit den Erfolgen der DTP bei den Kommunalwahlen am 14. April 2009 "eine neue Strategie der Repression" eingeschlagen. Die sei geschehen, obwohl die PKK am Vortag der Wahlen zum wiederholten Mal einen Waffenstillstand erklärt hatte. Die türkische Regierung weigere sich mit den organisierten KurdInnen zu verhandeln. "Sie zieht es seit jeher vor, Probleme nicht durch Dialog zu lösen, sondern eigenmächtig zu entscheiden und dies dann gegen alle Widerstände durchzusetzen. " Mit dieser "traditionellen Methode" sei sie auch gegen DTP-PolitikerInnen vorgegangen. "Das kurdische Problem ist ein juristisches Problem," sagte Aktar.

Die kurdische Bewegung habe dem Separatismus abgeschworen. "Wir wollen die derzeitigen Grenzen des türkischen Staates nicht verändern," sagte Aktar. Von den türkischen Bestrebungen um eine Aufnahme in die Europäische Union habe sie dennoch nicht profitiert. "Am Anfang der EU-Annäherung waren wir sehr optmistisch, dass dies die Rechte der KurdInnen befördern würde. Jetzt sind wir das nicht mehr. Es hat uns nichts genützt," sagte Aktar. Noch immer gehe der türkische Staat "mit schmutzigen Mitteln gegen KurdInnen vor". Stattdessen müsse er seine Verantwortung für die Entvölkerung und Verbrennung kurdischer Dörfer, extralegale Tötungen und "Verschwindenlassen" anerkennen.

Auch Aktar kritsierte die zunehmende Inhaftierung Jugendlicher aus politischen Gründen. "Seit drei Jahren werden Minderjährige als Terroristen eingesperrt. Damit machen sich die Richter zum Werkzeug des Staates gegen die KurdInnen. Ich war vor zwei Wochen im Gefängnis, dort waren 66 Kinder, davon zwei Mädchen. Wir wissen, dass ähnlich viele in Van, Adana und Istanbul in Haft sind." Sie würden ab dem Alter von 15 Jahren wie Erwachsene behandelt, weil sie an politischen Protesten teilgenommen haben." Dennoch werde die Öffentlichkeit bei Gerichtsverhandliungen mit dem Argument des Jugendschutzes ausgesperrt, weil Kinder unter 18 angeblich "unter dem Schutz des Gesetzes" stünden. Dies sei ein Verstoß gegen die von der Türkei im Jahr 1995 ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention.

Die Anwaltskammer plane eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrehcte (EuGHM). Dies dauere aber sechs Jahre, weil zuerst alle internen Instrumente ausgeschöpft werden müssen. Ein jetzt 15 Jahre alter Gefangener habe davon kaum etwas. "Wenn der Prozess in Straßburg vorbei ist, ist er 22," sagte Aktar.

(> UNICEF Field report on children as terrorist offenders)

Ärztekammer
Die Ärztekammer der Provinz Diyarbakir (Diyarbakır Tabip Odası Başkanı), betrachtet die zunehmende Inhaftierung Minderjähriger wegen politischer Vergehen als "riesiges psychisches Problem für die Jugendlichen und riesiges soziales und politisches Problem für die Kurden," sagte ihr Vorsitzender Dr. Adnan Selçuk Mizrakli. 2007 habe das Verfassungsgericht in Ankara ein Urteil gefällt, demzufolge auch Kinder für Unterstützungshandlungen als Teil einer Terrororganisation betrachtet werden können. Es habe sich um eine Änderung des Artikels 8 des türkischen Anti-Terror-Gesetzes TMK gehandelt. Kinder von 12 bis 14 Jahren können seither vor speziellen Gerichten zu langjährigen Strafen verurteilt werden, Minderjährige im Alter von 15 bis 18 bereits wie Erwachsene.

Mit einer Kommission aus Kinderpsycholgen, Pädagogen und Ärzten sowie Vertretern des Jugendamtes von Diyarbakir und der Anwaltskammer hat Mizrakli im April 2009 das Gefägnins von Diyarbakir besucht, um sich ein Bild über die Lage der einsitzenden Minderjährigen zu machen. Seither hätten Anwälte der Anwaltskammer und Vertreter der Ärztekammer das Gefängnis noch mehrfach besucht.

Nach Mizraklis Ansicht ist die Haftanstalt für Kinder ungeeignet. Es gebe dort kaum Platz zum spielen, keine Sportmöglichkeiten oder Musikinstrumente. Die Betten seien, ebenso wie die Kleidung der jungen Gefangenen, nicht sauber. Oft werde ihnen verboten, ihre Familien zu sehen. Mizrakli berichtet etwa von einem Jungen, der bei einem Besuch seines Vaters diesem das in der Türkei als PKK-Symbol verbotene "Victory"-Zeichen aus gespreiztem Zeige- und Mittelfinger gezeigt habe. Daraufhin erließ die Gefängnisleitung eine dreimonatige Besuchsperre. "Es gibt dort keine Sozialpädagogen, keine Jugendpsychologen und keine Lehrer. Niemand unterrichtet die Kinder," sagt Mizrakli. Es handele sich nicht um ein spezielles Jugendgefängnis, dort seien auch erwachsene Sträflinge untergebracht. Die Minderjährigen hätten lediglich einen separaten Trakt.

Nach einer aktuellen Aufstellung des Menschenrechtsvereins IHD gibt es allein in Diyarbakir derzeit 63 minderjährige politische Gefangene, darunter zwei Mädchen. Die 14-jährige Beriwan Sayaca etwa solle 13,5 Jahre im Gefängnis bleiben. Im Februar diesen Jahres habe sie Steine auf Polizisten geworfen, ohne jedoch jemanden verletzt zu haben. "Die weint jede Nacht , sie kann nicht schlafen," sagt Mizrakli.

Die Jungen verteilen sich auf drei Hafträume mit 15 bis 24 Insassen. Sie werden auch von den minderjährigen Gefangenen ferngehalten, die wegen nicht-politischer Straftaten sitzen. Laut Mizrakli dürfen sie zwei bis drei Stunden am Tag auf den offenen Hof. Es gebe Fernsehen, ärztliche Versorgung erreiche die Gefangenen aber oft nur mit starker Verzögerung. Zu körperlichen Misshandlungen durch die Wärter komme es offenbar nicht. Die Inhaftierung unter solchen Bedigungen müsse jedoch als psychische Misshandlung gelten.

Viele der Kinder müssten Strafen von über zehn Jahre absitzen, manche gar mehr als zwanzig. Die Vergehen seien in der Regel die Beleidigung von Polizisten, das Werfen von Steinen auf "Sicherheitskräfte" oder aber das bloße Vermummen auf Demonstrationen, das als Guerilla-Symbol gewertet werden könne.

Ein schriftlicher Bericht über die Zustände in dem Gefängnis wurde von der Kommission verfasst und dem Parlament in Ankara übergeben. Passiert sei daraufhin "absolut nichts,", sagt Mizrakli. Der Chef der rechtsextremen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), Devlet Bahçeli, habe ihnen gesagt, wer "heute Steine wirft, der nimmt morgen Waffen gegen unsere Soldaten in die Hand."

Laut Mirzakli seien allein in der Provinz Diyarbakir derzeit 500 politisch motivierte Anklagen gegen Minderjährige anhängig, türkeiweit seien es rund 3.000. "Kinder können nicht aus politischen Gründen verurteilt werden. Kinder sind Kinder, man kann sie nicht behandeln wie Erwachsene," sagt Mizrakli. "Das muss aufhören, sie sollen mit ihren Familien leben können." Die Ärztekammer fordert die Entlassung der wegen politischer Vergehen einsitzenden Kinder und Jugendlichen und ein "Rehabilitationsprogramm" mit psychosozialen Elementen und einer nachholenden Schulausbildung.

Mizrakli erklärt die zunehmende Repression gegen Minderjährige mit der geänderten politischen Strategie der Kurden. "Seit etwa vier Jahren hat die kurdische Zivilgesellschaft Druck auf die Guerilla ausgeübt, damit diese ihre bewaffneten Aktionen einstellt. In dieser Zeit wurden die Aktivitäten des legalen, politischen Arms der Bewegung intensiviert." Das habe sich in dem Wahlerfolg der inzwischen verbotenen DTP bei den Kommunalwahlen 2009 niedergeschlagen. Um dieser zivilen Konsolidierung der kurdischen Politik entgegen zu wirken, wolle die Regierung Kinder und Jugendliche durch solch drakonische Strafen abschrecken, sich in kurdischen Strukturen zu politisieren.