Bericht der Berlin/Hamburg Newrozdelegation

Cukurca

Am 22.03.10 brach unsere Delegation von Hakkari in die Kreisstadt Cukurca auf. Die Kleinstadt mit offiziell 7000 Einwohner_innen, befindet sich am südostlichsten Ende der kurdischen Provinz Hakkari wenige hundert Meter entfernt von der Grenze nach Südkurdistan/Irak.
Die Stadt mit großer historischer Bedeutung liegt mitten im defacto militärischen Ausnahmezustandsgebiet. Das bedeutet, der Zugang und das Verlassen der Region wird vom Militär kontrolliert und reglementiert. Oft wird Menschen der Zugang ohne rechtliche Legitimation verweigert. Bis vor 9 Jahren herrschte 20 Jahre lang, ab 17.00 Ausgangssperre. Zwischen den Gebäuden der Stadt liegen immer wieder Posten von Militär, Jandarma und Polizei, welche die Menschen unter andauernde Beobachtung und Repression stellen. In Sichtweite der Stadt liegen die Grenzbefestigungen des türkischen Staates und die Posten der Pesmerga. Hinter diesen Posten begint das Gebiet der kurdischen Guerilla. Hier erlitt das türkische Militär beim Versuch des Einmarsch in die Guerillagebiete Anfang 2008 eine empfindliche Niederlage.

Eine neue Frühjahrsoffensive wird vorbereitet. Deswegen sind in den letzten Wochen zusätzlich zu den bestehenden Militäreinheiten mehrere 10.000 türkische Soldaten an die Grenze verlegt worden. Die Stadt befindet sich in einem andauernden Kriegszustand. Das äußert sich z.B. im fast täglichen Abfeuern von Artillerie über die Stadt hinweg nach Südkurdistan. Dort treffen die Granaten vor allem Weidetiere und Dorfbewohner_innen. Anwohner_innen an Artilleriestellungen wurden in den letzten Jahren durch den andauernden Lärm, sowie durch die Explosionen, einstürzende Hauswände und zerberstende Scheiben als auch durch psychologischen Stress verletzt. Nach Protesten von Anwohner_innen schießt nun die Artillerie nicht mehr aus der Stadt heraus, sondern über die Stadt weg.

Als Konsequenz aus der ausweglosen Lage in der Stadt mit dem andauernden Krieg, schließen sich viele junge Menschen der Guerilla an. Die Kleinstadt hat über 200 Gefallene Guerillas zu beklagen.

In der Provinz Cukurca werden immer noch eine Vielzahl von Minen verlegt. Oft wissen die Soldaten selbst nicht mehr über ihre Lage bescheid. Das bedeutet, dass Mensch und Tier permanent der Gefahr ausgesetzt sind, durch Minen verletzt oder getötet zu werden. Viele der in der Türkei verwendeten Minen (1,6 Mio) stammen aus deutscher Produktion. Die Verlegung der Minen zerstörte jegliche Form von Landwirtschaft und zwang viele Einwohner_innen in die Erwerbslosigkeit und somit zur Migration. Alle Weiden sind im Moment militärisches Sperrgebiet. Die Türkei verstößt damit wiederholt gegen die von ihr unterzeichnete Antiminenkonvention von Ottawa.

Die Anreise nach Cukurca ließ uns einen kleinen Ausschnitt dessens erahnen, was die Bevölkerung der Region Tag für Tag durchmachen muss.

Schon die Strecke in die vom Militär kontrollierte Zone ist gespickt mit Panzern, Posten des Militärs, der Jandarma, der Polizei und dutzenden Stellungen von Paramilitärs, den sog. Dorfschützern.
Diese sind vom Staat mit Waffen ausgestattet. Sie haben den Auftrag die Bevölkerung zu überwachen und einzuschüchtern und gegen die Guerilla vorzugehen. Sie stellen auch die Mehrheit dar, die noch in den Dörfern wohnt.
Die Dörfer vieler Menschen, die sich nicht zu Paramilitärs machen lassen wollten, wurden zerstört. Wir fuhren an dutzenden dieser Dorfruinen vorbei.

An den Kontrollen wurde uns deutlich gemacht, das wir als Delegation mehr als unerwünscht sind. So wurde uns erklärt, dass das Gebiet unter der Kontrolle des Militärs stehe und uns deshalb der Einlass ohne Gesetzesgrundlage verwehrt werden dürfte. Die Delegierten wurden als “Logistische Unterstützung für Terroristen” berzeichnet. Ein höherer Offizier versuchte die Delegation mit Äußerung wie “Enkel Hitlers” und impliziten Drohungen zu provozieren. Letztendlich konnten wir die durch mit deutschen BTR-60 und einem Leopard Panzer besetzte Kontrolle passieren. In der Stadt herrscht ein Klima der Repression. Schüsse hallen von den Bergen bzw. den Militärstationen, welche die Stadt umzingeln wider. Die Kleinstadt ist gefüllt mit den verschiedensten Repressionsorganen, großen Jandarma-, Polizei- und Militärstationen, die Menschen leben unter permanenter Bedrohung. Als wir uns in der Stadt bewegten, wurden wir von staatlichen Kräften verfolgt und unsere Position, wie auch die unserer Gesprächspartner_innen andauernd durchgegeben.
Wir begegneten auf unserem Spaziergang durch die Stadt, neben der langen und multikulturellen Geschichte des Ortes, den schweren Folgen des Krieges. Der obere Teil der Hauptstraße besteht aus verlassenen, teilweise verfallenen Gebäuden. In vielen Gebäuden sind noch die Einschusslöcher von dem Beschuss mit dem die Jandarma die Bewohner_innen vertrieben hat, zu sehen.

Ungeniert setzte sich der regionale Polizeichef, samt seinem Hauptkommissar beim anschließenden Abendessen ungefragt an unseren Tisch und versuchte das Geschehen zu bestimmen. Sein vordergründig “freundlicher” Auftritt sollte vermutlich der Einschüchterung von uns und unseren Gesprächspartner_innen dienen. Diese vermittelten uns jedoch, dass sie es aufgrund der Massivität und Kontinuität der Repression aufgegegeben hätten, Angst zu haben.

In einem Gespräch erzählte uns der Bürgermeister der linken prokurdischen BDP von den massiven Betrugsversuchen der Regierungspartei AKP bei den Regionalwahlen am 29. März 2009. So wurden neben den üblichen Bestechungen viele Soldaten und Offiziere offiziell als Wähler_innen in dem Bezirk gemeldet. Dennoch konnte die DTP die Wahl mit 75% der Stimmen gewinnen.

Die Repressionswelle gegen die kurdische Bewegung schlug auch hier zu. So wurden 14 BDP Mitglieder und Funktionär_innen festgenommen, einige erhielten einen Haftbefehl. Einige wurden nach Zeug_innenaussagen, auch dieses Jahr wieder gefoltert.Viele andere leiden unter wiederholten Hausdurchsuchungen, bei denen immer wieder die Wohnungseinrichtung zerstört wird. Der Bürgermeister, wie viele andere auch, werden andauernd mit Gerichtsverfahren überzogen. Schon für die kleinste Äußerung werden die Menschen hier nach den Terrorismusparagrafen, verurteilt und inhaftiert.

Zu den in der Region praktizierten Menschenrechtsverletzungen gehört nach Aussagen von Menschenrechtsaktivist_innen der häufige Einsatz von chemischen Waffen. Dabei ist nach Aussagen von Gesprächspartner_innen, in der Nähe der Stadt Cukurca, vor etwa 6 Monaten eine Gruppe von 8 Guerillas getötet worden. Ihre Leichen wurden anschließend verbrannt. In der Region sind große Gebiete durch chemische Waffen verseucht. Eine in Hakkari erstellte Untersuchung zeigt, dass die Magenkrebsrate in der Region, in den letzten Jahren um 100% gestiegen ist. Die Menschen sind einerseits auf die Kräuter der Berge angewiesen, andererseits wird ihnen vom Konsum durch Ärzte dringend abgeraten. Mit dem Einsatz chemischer Waffen verstößt die Türkei gegen internationales Kriegsrecht.

Die Region ist ebenfalls betroffen von den zerstörischen Staudammprojekten des türkischen Staates. Während Projekte wie am Munzur in Dersim oder in Hasankeyf schon einige Öffentlichkeit erreicht haben, sind die Projekte in der Provinz Hakkari nicht ausreichend thematisiert worden.
Entlang des Zap Flusses werden mindestens 5, energietechnisch sinnlose Staudammprojekte errichtet.
Diese Projekte dienen allein, dem militärischen Nutzen, die Wege der Guerilla zu verschließen und die verbliebene Bevölkerung zu vertreiben.