Nicht
nur die Kurden, auch die Demokratie wird übergangen
Auszüge aus dem Anwaltsgespräch
mit Abdullah Öcalan vom 7.4.
Es soll Feierlichkeiten
zu meinem Geburtstag gegeben haben. Aber eigentlich geht es dabei nicht
um meinen Geburtstag. Das kurdische Volk sieht diesen Tag als ihren eigenen
Geburtstag. Es sieht diesen Tag als ihre eigene Renaissance. Ich möchte
allen, die an den Feierlichkeiten sowie an den Vorbereitungen teilgenommen
haben, meinen Dank aussprechen.
Wichtig aber ist, dass Dinge dabei ihren Sinn nicht verliert. Im Mittleren
Osten ist so eine Kultur vorhanden, ich habe Respekt davor. Aber diese
Kultur darf ihren wahren Sinn nicht verlieren, sie darf sich nicht zu
einem inhaltslosen Kult entwickeln. Ich glaube daran, dass ich einen Wert
(für das Volk) eingenommen habe. Es ist wichtig, dass sie auf diesen Wert
beharren und ihn verstehen. Ich glaube, dass ich in diesen 61 Jahren Einiges
verändert habe. Das kurdische Volk hat sich mit dem Veränderten vereinigt.
Ich gratuliere dem assyrischem Volk zu Ostern. Ich erforsche das Christentum.
Das Christentum aus dem Westen muss das Christentum aus dem Osten verstehen.
Für den ganzen Mittleren Osten ist eine Renaissance notwendig. Das gilt
nicht nur die Kurden, sondern auch für die Assyrer und alle Völker des
Mittleren Ostens. Im Mai kann einiges passieren. Wir müssen auf alles
vorbereitet sein. Die Kurden haben keinen Zwischenweg mehr. Im Mai könnten
kritische Ereignisse passieren. Aus der anstehenden Entwicklung kann sowohl
die Vernichtung, als auch die Lösung kommen. Die AKP hat Tausende Kurden
verhaftet und dies dauert noch weiter an. Die physischen Angriffe erwähne
ich hierbei schon gar nicht mehr. In den Diskussionen über die Verfassung
werden die Kurden nicht thematisiert. Nicht nur die Kurden, auch die Demokratie
wird übergangen. Die Kurden und die demokratischen Kräfte sollten Widerstand
für eine demokratische Verfassung leisten. Die Verfassung von 1921 sollte
aktualisiert werden. Auf der einen Seite ist es der „weißtürkische“ Faschismus,
der von der CHP und MHP vertreten wird, auf der anderen Seite ist es der
„nach Herrschaft strebende Islam“, der von der AKP angeführt wird. Ich
kann nicht sagen, dass die Linie der AKP weniger gefährlich als die der
CHP und MHP ist. Meiner Meinung nach sind beide undemokratisch. Das Zentrum
der ersten Linie [die der AKP] ist in Ankara. Das Zentrum der zweiten
ist zwischen Konya und Kayseri, wo das saudiarabische Kapital vertreten
ist. Beide Zentren, also beide Linien, haben eine Vergangenheit. Die erste
Linie ist der „weißtürkische“ Faschismus bzw. die „weißtürkische“ Oligarchie.
Diese ist die Fortsetzung der Ittihat&Terakki Linie.
Nachdem die Republik ausgerufen wurde, haben diese Kreise Mustafa Kemal
eingekreist und außer Gefecht gesetzt. Im Staat sind damals gegenüber
den Kurden zwei Linien aufgekommen. Die erste, die Linie von Ismet Inönü
und die Politik Englands. Ittihat&Terakki-Kader haben diese Linie
angeführt. Die zweite war Mustafa Kemal zusammen mit Fethi Okyar. Der
laizistische „Weißtürkenfaschismus“ hat die Vernichtung der Kurden angestrebt.
Diese Mentalität nimmt ihre Kraft aus der Verfassung von 1924 und hält
bis zum heutigen Tag an. Die Verfassung von 1924 ist die Version des „weißtürkischen“
Faschismus. Der Staat hatte in den 20ern in Person Mustafa Suphis die
Linksbewegung, mit der Verfassung von 1924, die Kurden und danach in den
Personen von Mehmet Akif und Said-i Nursî die islamische Linie vernichtet.
Die Mentalität der Verfassung von 1924 hat sich in veränderten Versionen
bis zum heutigen Tag durchgesetzt. Heute wird diese Mentalität von der
CHP und MHP vertreten. Bei beiden Linien werden die Kurden übergangen.
Alle demokratischen Kreise, eingeschlossen die BDP, müssen dies gut verstehen.
Bei beiden ist kein Raum für demokratische Aufbrüche vorhanden. Die Kurden
und die demokratischen Kräfte müssen sich nicht für eine der beiden Linien
entscheiden. Sie können für eine demokratische Verfassung eintreten. Sie
sollen ihre Vorschläge formulieren. Soweit ich es verfolgen kann, tun
sie dies auch. Die 10%-Hürde und die innerparteiische Demokratie sind
zu beachten. Die Kurden müssen jene unterstützen, die eine demokratische
Verfassung vorsehen. Die Verfassung von 1921 war demokratisch. Sie beruht
auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Kurden.
Deswegen sage ich, die Verfassung von 1921 sollte aktualisiert werden.
Mein 61-jähriges Leben ist Widerstand gegen das falsche Verständnis von
„Ehre“ gegenüber der Frau. Ich glaube daran, dass die Frau ihre Freiheit
erlangen wird. Ich habe von den „Akademien für die freie Frau“ gesprochen.
Dies sollte ernsthaft angegangen werden. Frau sollte sich in allen Bereichen
– von der Kunst bis zum Sport, von der Gesundheit bis zur Kultur bis hin
zur Mode – organisieren.
Die Einheit der Kurden im Süden [Südkurdistan] ist gut, ich gratuliere
ihnen. Die Anzahl ihrer Sitze im Parlament hat sich etwas verringert.
Es sieht so aus, als wäre es schwer, auf diese Weise erfolgreich zu sein.
Die Kurden brauchen eine nationale Einheit. Talabanî und Barazanî müssen
für diese Einheit arbeiten. Ich möchte ihnen bezüglich der Wahlen gratulieren
und wünsche ihnen viel Erfolg. Für den Frieden unter den Kurden muss gearbeitet
werden. Es gibt z.B. die Dorfschützer, die viel Leid angetan haben. Aber
diese können zusammenkommen und Frieden schließen. Der „Kongress für eine
demokratische Gesellschaft“ (DTK) kann diesbezüglich Projekte verwirklichen.
Regionale Verwaltungen sind sehr wichtig. Diese dürfen aber kein verlängerter
Arm des Staates sein. Ein Verständnis der regionalen Kommunen muss als
Grundlage für diese Verwaltungen aufgenommen werden. Wenn sich diese Arbeit
an die Gesellschaft lehnt, wird auch der Staat Respekt vor ihr haben.
Wenn man auf Geld von dem Staate wartet, wird sich nichts entwickeln.
Dieses Verständnis darf nicht vorherrschend sein.
Das Modell im Süden [Südkurdistan] ist ein Nationalstaat. Es wird verfaulen
und irgendwann nicht mehr existent sein. Aber mit unserem Modell wird
man sich immer weiter entwickeln, da es sich auf das Volk beruft. Wenn
eine starke Organisation in dieser Form vorhanden sein wird, dann werden
nebensächliche Dinge wie Geld auch überflüssig. Gesellschaftliche Probleme
können sich nur auf dieser Basis lösen. Ich sage nicht, das sich alles
zu 100% lösen lässt. Aber ein großer Anteil der Probleme werden gelöst
werden.
*
İttihat und Terakki ist eine geheime Organisation, die in der Zeit des
Zerfalls des osmanischen Reiches gegründet wurde und in Kontakt zu den
Jungtürken stand. Am 21. Mai 1889 wurde sie erst unter dem Namen İttihad-i
Osmani Gesellschaft gegründet und später in İttihat und Terakki umbenannt.
Die eigentlichen Verantwortlichen sind die Jungtürken vom İttihat ve Terakki
Regime, die das osmanische Reich in den imperialistischen Umverteilungskrieg
hineinzogen und diesen als eine Gelegenheit für Massaker an Bevölkerungsgruppen
nutzten.
Quelle: ANF, 07.04.2010
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