Öcalan: Der Angriff auf Ahmet Türk war kein Zufall!

Am 16. April 2010 konsultierten die Anwälte des KCK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan ihren Mandanten. Die Gesprächsnotizen erschienen bei der Nachrichtenagentur Firat (ANF).
Am 22. November 2009 organisierte die später verbotene Partei für eine Demokratische Gesellschaft, DTP, eine Reise durch die Region Ege. Während des Aufenthalts in der Stadt Izmir, im Westen der Türkei, wurde ein DTP-Konvoi, der den damaligen DTP-Vorsitzenden Ahmet Türk empfing, von Faschisten angegriffen. Während des Angriffs traf die Polizistei keinerlei Sicherheitsmaßnahmen.
Am 12. April 2010 befand sich Ahmet Türk in Samsun, um den Prozess um die Vorfälle in Bulanik zu verfolgen. In Muş/Bulanik hatte die Bevölkerung eine Demonstration organisiert, um auf das Verbot der DTP zu reagieren. Während dieser Demonstrationen wurden zwei Demonstranten getötet. Nachdem die Gerichtsverhandlung beendet war, wurde Ahmet Türk vor dem Gebäude angegriffen.
Abdullah Öcalan bewertete diesen Vorfall wie folgt:

Es ist kein Zufall, dass Ahmet Türk schon früher in Izmir und heute in Samsun angegriffen wurde. Dieser Angriff war geplant. Izmir und Samsun sind für diese Kräfte sehr wichtig. Sie ziehen eine Verbindung zwischen Ahmet Türks Reise nach Izmir und der Besatzung Izmirs durch die Griechen. Ich weiß nicht, ob diese Kreise der Konterguerilla oder ähnlichen Gruppierungen angehören, aber sie sind innerhalb des Staates immer noch effektiv. Sie können als "Kuva-î Millî" [nationalistische Kräfte] angesehen werden.
Ich weiß nicht, wie sehr der Staat von ihnen unterwandert ist. Aber sie sehen die KurdInnen als Besatzer, das muss gut erkannt werden. Das ist das Verständnis der Vaterlandsliebe dieser Kreise. In Mersin gab es die Provokation mit der Fahne (1). Diese Vorfälle müssen im Zusammenhang gesehen werden.
Solch ein Angriff in Samsun ist kein Zufall. In Samsun hat der 19. Mai [der Beginn des „nationalen Widerstands“ von Mustafa Kemal Atatürk] für diese Kreise eine besondere Bedeutung. Diejenigen, die den Angriff in Izmir durchgeführt haben, und die aus Samsun stehen sich sehr nahe. Seit der Ittihat und Terakki (2) sind diese Kreise organisiert. Die Provokation mit der Flagge in Izmir war auch ihr Werk. Wie ich sagte, diese Kreise sehen die KurdInnen als Besatzer. Sie sind organisiert, das muss gut verstanden werden.
Kemal Yamak war früher Verantwortlicher der Konterguerilla. Er war während des Militärputschs am 12. September [1980] Kommandant im Militärgefängnis Diyarbakir. Er hat ein Buch über die Geschehnisse im Militärgefängnis geschrieben. In dem Buch ist auch eine Rede von Bülent Ecevit abgedruckt. Als Ecevit das erste Mal das Wort „Konterguerilla“ hörte, reagierte er und fragte, was es bedeute. Yamak antwortete wie folgt: „Konterguerillas gibt es in jeder Partei. Hunderte von ihnen sind auch in deiner Partei. Sie kennen sich aber nicht." Kemal Yamak war Generalsekretär des damaligen Präsidenten Turgut Özal. Der ungeklärte Tod Özals ist bekannt. Wie ich schon erwähnt habe, diese Kreise haben Einfluss auf den Staat. Es ist bekannt, dass ein Attentatsplan auf Bülent Arinc (3) in den offiziellen Dokumenten bekannt wurde.
Der Ergenekon-Prozess, der in der Öffentlichkeit bekannt ist, ist nur der sichtbare Teil des Eisbergs. Die im Moment vor Gericht stehen, sind nur ein kleiner Teil der Organisation. Ein großer Teil ist noch nicht Teil der Ermittlungen. Die AKP versucht nicht, diese Kreise zu vernichten, so wie sie vorgibt. Sie verhindert nur ihr eigenes Verbot. Auch wenn die AKP nach außen anders auftritt, sie tut nichts, übermittelt die Botschaft, dass sie die Kurdenfrage auf die eigene Weise erledigen wird. Die momentane Praxis ist der Versuch der Vernichtung der kurdischen Bewegung.

Öcalan erklärte seine Gedanken zur aktuellen Phase. Seit längerer Zeit werden Soldaten an die türkisch-irakische Grenze verlagert und kleine Operationen finden statt. Öcalan, der in verschiedenen Verteidigungsschriften – zuletzt in der nicht ausgehändigten Roadmap – seine Friedensvorschläge bekannt gab, erklärte, dass Krieg und Frieden Entscheidungen des Staates und der PKK seien. In seinen Anwaltskonsultationen des Monats März erklärte Öcalan, dass er die PKK in drei Phasen (4) einteile (1973-84; 84-93; 93-02/10), er betonte nochmals, dass er keinerlei Verantwortung übernehme:

Nach den Entscheidungen, die der Staat und die PKK treffen werden, wird die Entwicklung der kommenden Wochen sehr bedeutsam. In den nächsten Wochen wird alles klarer. Ich will eigentlich diese Woche als das Ende der dritten Phase bewerten. Die dritte Phase ist beendet. Die kommende Phase ist die des Friedens und der demokratischen Lösung oder die des Krieges. Die Entscheidung darüber aber werden die PKK und der Staat fällen. Ich habe alles, was ich zu tun hatte, getan. Für die Entscheidung, die getroffen wird, werde ich nicht mehr verantwortlich sein.

In den letzten Wochen kam eine Diskussion darüber auf, wer die Ansprechpartner in der kurdischen Frage sind. Obwohl die KurdInnen die PKK und Öcalan als Ansprechpartner sehen, wurde diese Diskussion erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Besonders zu Newroz aktualisierte das kurdische Volk die Botschaft, von wem es vertreten werden möchte.

Ich hoffe, dass dieser negative Prozess beendet wird. Ich kann nichts Klares sagen. Es ist schwer zu sagen, ob der Prozess in Richtung Lösung geht oder ins Gegenteil. Eine Überarbeitung der Roadmap ist nicht möglich. Ich kann nicht noch eine schreiben. Ich habe dort alles erläutert, das müsste ausdiskutiert werden. Mein Gesundheitszustand ist auch nicht mehr wie früher. Wenn ich jetzt in meinem Körper einen Schmerz spüre, dann bleibt er für Wochen. Wenn man zum Thema des „Ansprechpartners“ etwas von mir verlangt, kann ich in dieser Situation nicht viel machen. Wenn man etwas von mir will, dann muss man meine Umstände verbessern. Niemand soll das falsch verstehen. Ich leiste seit 12 Jahren Widerstand gegen diese Umstände. Ich habe meine Prinzipien, auf die ich beharre. Der Staat hat die Ernsthaftigkeit meiner Haltung verstanden; musste sie verstehen.

Öcalan gab in den Anwaltskonsultationen von März (5) bekannt, dass er einen Brief an die PKK und den Staat geschrieben habe:

Ich habe in meinen Briefen auf zwei wichtige Punkte hingewiesen, von denen nicht abgewichen werden kann. Der erste Punkt sind die Menschenrechte und die Demokratie. Wenn eine Lösung kommen soll, dann im Rahmen der Menschenrechte und Demokratie. Der zweite Punkt ist die Sicherheit. Diesen Punkt betrachte ich aus der Perspektive des KCK-Systems. Die Sicherheit unseres Volkes muss garantiert werden. Mit Sicherheit ist nicht nur meine Sicherheit gemeint. Ich sage: „man kann mich hier töten“ und einige verstehen das als „Apo wird ermordet!". Das ist nicht richtig. Man lässt mich hier verfaulen. Bei meiner Auslieferung in die Türkei hatten die USA eine Rolle gespielt. Ich kritisiere ihre Politik. Daher sage ich, man kann mich zur Zielscheibe machen und töten. Was ich damit nicht sagen will, dass man meine Fenster zerschlagen und mich ermorden wird. Man versucht mich seit 12 Jahren zu vernichten, hat es aber nicht geschafft. Man lässt mich langsam, langsam verfaulen und vernichtet mich auf dieser Weise. Ich bin hier wie in einem Todesloch. Ich kann nicht atmen.
Wenn diese zwei Punkte nicht umgesetzt werden, wird weder ein Dialog noch eine Kongruenz erreicht werden.

Abdullah Öcalans Mutter Üveyş starb am 11. April 1993. Im Zusammenhang mit dem Todestag seiner Mutter erklärte Öcalan erneut seine Gedanken zur Frau in der Gesellschaft:

Der 11. April war der Todestag meiner Mutter. In diesem Zusammenhang möchte ich ihr nochmals gedenken. Ich habe sie nicht einmal angerufen, bevor sie gestorben ist. Daher war sie etwas böse auf mich. Manchmal bin ich von der Universität in das Dorf zurückgekehrt. Sie sagte dann zu mir „Du hast mir nicht einmal ein paar Meter Stoff mitgebracht.“ Ich verfolgte jedoch größere Ideale. Leider wollen die Frauen in diesem System nur materielle Dinge. Gegenständliche Dinge machen sie glücklich. Das ist nicht die Schuld der Frau. Das ist die Schuld des Systems, in dem sie groß wird. Aber wir haben etwas anderes gemacht. Wir haben das Problem der Frauen zu einem gesellschaftlichen gemacht. Auf dieser Weise haben zur Lösung dieses Problems einiges erreichen können. Ich sagte immer „Die Freiheit der Gesellschaft wird nur über die Freiheit der Frau erreicht.“
In einem sexistischen System kann weder die Frau, noch der Mann frei sein. Unseren Frauen wird kein Ausweg gelassen. Wenn ein 14 oder 15-jähriges Mädchen mit einem Jungen Kontakt aufnehmen möchte, dann ist ihr Name „beschmutzt" und sie wird sofort aus der Gesellschaft ausgestoßen. Die andere Alternative ist, dass sie die Forderungen der Gesellschaft akzeptiert, verheiratet wird, unter die Kontrolle eines Mannes gelangt und als Sklavin lebt. Egal aus welcher Perspektive gesehen, der Frau bleibt kein Ausweg. Aufgrund des Systems, in dem wir leben, ist ein gesunder Kontakt zwischen Mann und Frau sehr schwer. Ein freies Beisammensein ist in diesem System nicht möglich. Ich sehe die Freiheit der Frauen wie die eines Musikinstruments. Das soll nicht falsch verstanden werden. Ich meine nicht, dass die Frau ein Instrument oder Gegenstand ist. Wenn man ein Musikinstrument richtig spielt, dann wird die Melodie schön. Wenn man es falsch spielt, wird die Melodie unschön.

In den letzten Monaten gab es Debatten um die Änderung der Verfassung. Die AKP, die einige Verfassungsänderungen plant, will u.a. die Gründung politischer Parteien erschweren. Die BDP [Partei für Frieden und Demokratie] hat ihre Unterstützung für die Verfassungsänderung mit eigenen Forderungen ausgesprochen. Öcalan bewertete diese Diskussion:

Die Verfassung ist kein Blatt Papier, das man benutzen und wegwerfen kann. Die Verfassung ist ein rechtliches Abkommen. Die Verfassung regelt die Beziehung zwischen den herrschenden Kräften und den Völkern. Daher ist sie von großer Bedeutung. Unsere Haltung dazu ist: Die Verfassung ist ein gesellschaftliches Abkommen, das nur mit Übereinstimmung der Bevölkerung verabschiedet werden kann. Die Verfassung von 1921 war so entstanden, auch wenn sie einige Fehler beinhaltete. Wichtig ist, dass man sich zur Stimme derjenigen Klassen, Gruppen und Kreise macht, deren Stimme aufgrund der jetzigen Verfassung nicht gehört wird. Wichtig ist, dass die Rechte von Millionen von Armen und ArbeiterInnen garantiert werden.
Die geplanten Änderungen an der Verfassung stillen nur die Bedürfnisse der CHP, MHP und AKP. Die Forderungen von Millionen aus dem Volk werden ignoriert. Wenn sie aufrichtig wären, wieso übersehen sie diese Forderungen dann? Sie wollen ja nicht einmal die 10% Hürde auf 5% herabsetzen. Auf dieser Weise wollen sie verhindern, dass die Forderungen des Volkes im Parlament ausgesprochen werden. Wie sollen wir an ihre Aufrichtigkeit glauben? Wenn sie nur ein wenig aufrichtig wären, dann würden sie diese Fehler berichtigen.
Es scheint so, als ob die AKP ein Abkommen mit den Vertretern des Staates getroffen habe, auch mit der CHP. Das ist ein wichtiges Thema. Man darf sich nicht von diesen Intrigen einwickeln lassen. Wir sind nicht zur Hegemonie unter der AKP, der CHP und MHP, die aus der Tradition der Ittihat und Terakki [Einheit und Fortschritt, jungtürkische Bewegung] kommen, verdammt.

Fußnoten:
1) 2005 hatten sechs Kinder während den Newrozfeierlichkeiten eine Fahne verbrannt. Später wurde bekannt, dass dies von einem Ergenekon-Mitglied namens "Ali Kutlu" organisiert worden war.
2) Einheit und Fortschritt, jungtürkische Bewegung
3) Arinc war von 2002 bis 2007 der 22. Parlamentspräsident der Türkei und ist seit Mai 2009 Mitglied des Kabinett Erdoğan und Stellvertreter des Ministerpräsidenten.
4/5) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2010/04/06.htm